Was Palermo aus dir macht

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Guten Tag, an unserem heutigen Tag in Palermo, der Hauptstadt Siziliens, machen wir den Normannenpalast. Nein. Also den Normannenpalast machen wir, die Kathedrale, die Zisa. Nein, machen wir nicht. Ja, natürlich machen wir auch die Märkte, den Vucciria, den Ballaró, den Mercato di Capo. Nein, es bleibt dabei, wir machen das nicht. Jedenfalls ich mache das nicht. Palermo ist keine Stadt, die man wie einen Bilderbogen durchblättert, in der man Sehenswürdigkeit nach Sehenswürdigkeit abklappert und abhakt, see Palermo in 24 hours, natürlich werden die Sapori di Sicilia eingekauft, soviel Zeit muss sein, der Safran, der Sciropo di polpa di carruba, all die süßen Leckereien, die an Afrika erinnern. Dann essen wir die Spezialitäten, die alici marinate, die cannoli und vielleicht eine caponata und die wilden Chicoree, die cicorie selvatiche, denn dann geht es weiter. Rom ruft, dann Florenz. Und dann muss man ja wieder heim. Nein, so machen wir es nicht. Nicht mit Palermo. Nicht mit mir. Aber was dann, müssen wir nicht wenigstens in der Trattoria Shangai gewesen sein, von der alle schwärmen? Nein, wir orientieren uns auch nicht an den Must be seen, die im Tripadvisor aufgelistet sind, immerhin 142 an der Zahl, an der Spitze die Martorana. Was nicht heißt, dass man diese Kirche nicht besuchen sollte. Ja, was heißt das denn dann?
Wir konzentrieren uns darauf, was Palermo mit uns macht. Wir lauschen seinem Lied, dem Konzert aus den Sirenen der Ambulanzen und Polizisten, dem Gehupe der Autos, Kleinlaster und Rollern, den Rufen der Männer, die Obst und Gemüse oder das Schleifen von Messern, die Reparatur von Küchengeräten und den Verkauf von allem, was man möchte, anpreisen, und wir finden die Musik dieses Konzertes schön. Wir lesen die Liebeserklärungen seiner Jugendlichen als Graffiti an den abgefuckten Häuserwänden, die mehr sagen als “ti amo” oder “ritorna”, die poetisch sind und anrührend. Und wenn Jugendliche zusammenstehen, dann traut man ihnen zu, dies geschrieben zu haben. Die Vorstellung von grölenden, trunkenen Halbstarken hat hier keinen Platz.
Palermo öffnet uns für seine Sprache, seinen Klang, auch seine Gerüche, wobei wir natürlich Glück haben, Anfang März zu kommen. Im August wird es anders sein. Palermo lässt uns ein, lässt uns zu. Und wenn dann Fragen auftauchen, dann versuchen wir sie zu beantworten, indem wir uns austauschen, nachfragen, das eine oder andere besuchen. Alles andere kann man bei Google nachlesen oder bei Tripadvisor, aber selbst wenn man 142 Ziele abklapperte, würde man auch nicht mehr im Kopf behalten.
Daher addio übliches Touristenprogramm. Was Palermo mit mir macht, interessiert vielleicht keinen außer mir. Das kann sein, ist nicht schlimm. Wenn von dem, was ich schreibe, nur die Anregung zu dem Ansatz bleibt, selbst innezuhalten, genauer zu beobachten, auf die Leute ein Stück zuzugehen. Mit der Intensität eines Goethe die Stadt zu betrachten, der im Frühjahr 1787 in Palermo war und der sich Fragen stellte wie heute, warum der Lärm, warum das Chaos. Dann hat es sich gelohnt.
Auf den Piazza Caracciolo, im Herzen des Marktes Vucciria, der sich von der Via Roma, der Einkaufsstraße Palermos, zum Hafen zieht, setze ich mich am bereits späten Abend vor einer Bar auf einen hölzernen Stuhl, lasse mir aus dem Eisschrank ein Moretti-Bier reichen. Zu meiner Linken müsste die berühmte Trattoria Shangai sein, die übrigen Gäste lachen ob meiner entsprechenden Frage. “Die gibt es seit Jahren nicht mehr.” Tatsächlich, von der Leuchtschrift sehe ich nur ein paar rote Leuchtbuchstaben. Aber einer schreibt es von dem anderen ab. Hier gibt es nur die Kneipe, vor der ich sitze. Die Häuser gegenüber sind ab dem ersten Stock zugemauert. Auf dem Platz steht ein Brunnen ohne Funktion, in seiner Nähe spielen zwei Jungen an einem Kicker Tischfußball. Die Gegend ist fast menschenleer. Und das im Zentrum der Stadt. Nein, es ist kein Zentrum, weil hier kein Leben pulst. Doch es gibt Leben, irgendwo in den Ruinen brennt Licht. Stromleitungen gehen an bemalten und beschmierten Wänden in die Höhe, viele nebeneinander, kaum befestigt. Es ist wenig Leben, aber es ist friedlich, einzelne Pärchen laufen über Straßen, gepflastert, wenn sie Glück haben, mit großen Steinen, die aus besseren Zeiten stammen. Dabei – auch jetzt sind die Zeiten gut, sie sind eben, wie sie sind. Keiner hetzt, keiner blickt sich um, keiner fühlt sich bedroht. Ich bin vor einer halben Stunde in eine Sackgasse geraten, ein zusammengestütztes Haus versperrte mit den Weg. Katzen beobachteten mich, aber Angst? Nein, zu keinem Moment.
Im Bus 107, den ich von der Stazione Centrale, dem Hauptbahnhof, nahm, hat man mir das Portemonnaie gezockt. Drei Mann stürzten sich an der ersten Haltestelle in den Bus, ein vierter kam vom hinteren Eingang. Sie drängten sich an mich wie die Antänzer von Köln, weil sie angeblich ihre Tickets abstempeln mussten. Hier hat keiner ein Ticket. Leute wie diese, hagere Männer mit schlechten Zähnen und lumpiger Garderobe, schon gar nicht. Nach dem Gedrängel war mein Portemonnaie weg, ich sprach den vor mir an, er hätte mich beraubt. “Nein, ich habe nur mein Ticket gelöst”, sagte er, ich könnte ihn ja durchsuchen. Nach der nächsten Haltestelle, waren sie draußen, alle vier, meine Geldbörse lag auf dem Boden des Busses. Nichts fehlte, nur das Geld. Die Mitreisenden im Bus meinten, ich sollte zur Polizei gehen, der Bus hätte mehrere Kameras. Aber wozu?
Beim Genuss des Moretti dachte ich mir, dass ich eine Erfahrung reicher wäre. Künftig lege ich mir eine kleine Handtasche zu, wie es viele Italiener auch machen, auch wenn man dann riskiert, dass diese einem weggerissen oder abgeschnitten wird. Palermo ist eine arme Stadt. Wer sich bestehlen lässt, ist selbst schuld. Dieses Gefühl hatte ich, aber die anderen Busbesucher vermittelten Empathie. Sie wissen vermutlich genauer als ich, wie schwer der Verlust von Geld wiegt. Sie waren sofort eine Gemeinschaft um mich rum. Und wenn auch der Hinweis auf Polizei und Kamera für mich ein Ausdruck von Hilflosigkeit war, sie haben damit ständig zu tun. Sie klammern sich daran, an die Fiktion eines funktionierenden Staates, weil sie es müssen, um nicht an ihrem Land zu verzweifeln.
Es ist auch nichts besonderes, schon gar nicht wie bei uns verboten, mit dem Busfahrer zu reden. Wenn man Glück hat und er nicht mit seinem Cellulare zu tun hat, um zu Hause anzukündigen, wann er Dienstschluss hat, wie sein Tag war: “Heute war ein besonderer Tag”. So erzählt er. “Die Bahnlinie nach Punta Raisa, dem Ort des Flughafens ist unterbrochen, es verkehrt ein Schienenersatzverkehr.” Das ist schon aufregend. Der Ersatzbus bediente auch La Isola delle Femmine. Das ist keine Insel, wie man meinen sollte, sondern ein Küstenort, von dem man aus das Meer bis zur Spitze von San Vito lo Capo überblicken kann und wo es ein angesagtes Lokal geben soll, das Charmant, das aber geschlossen war. Und weil es neben dem Schienenersatzverkehr auch die normale 826 von Isola delle Femmine nach Palermo gibt, wusste nun keiner genau Bescheid. Ein Bus komme “fra poco”, meinte man in der Kneipe, was alles heißen kann, von sofort bis in 30 Minuten. Man wartet halt, eine Taxe kommt eh nicht in Nester außerhalb der Stadt. Dafür kann man dann in dem Bus das Gespräch der Freundin eines “Guerriero” gegen die Mafia, eines Mitglieds einer Sondereinheit der Carabinieri, mit dem Autista, dem Busfahrer, lauschen. Ihr Krieger ist oft tagelang nicht da, da ist ein Plausch eine nette Abwechslung. Natürlich hielt der Fahrer dort, wo sie wollte, auch wenn da kein Haltepunkt war. Auf der Hinfahrt nach Isola delle Femmine, die mich über den heiligen Berg der Sizilianer, den Monte Pellegrino, und Mondello, den mondänen Badeort der palermitanischen Gesellschaft, führen sollte, kam überhaupt kein Bus. Dort, wo er abfahren sollte, am Piazza Sturzo, war er vom Plan gestrichen worden, was zum Glück der Barbesitzer gegenüber wusste, der mich zum Stadion verwies. Dort meinte eine freundliche Dame, er käme “fra poco”, was er nicht tat. Zum Glück kam ein Taxler, der mich zum Muntagnedda d´oro, dem laut Goethe “schönsten Vorgebirge der Welt” brachte, für die Rückfahrt “Zeit zum Belieben” einräumte, die ich zum Besuch der Grotte der heiligen Rosalia nutzte, eine verkitschte Höhle für heilungssüchtige Pilger. Mir hätte anschließend für mein Wohl ein Espresso genügt, aber Antonio, so hieß der tassista, einigte sich mit der barista, dass ich statt des Kaffees, für den sie die Maschine hätte anwerfen müssen, einen Becher frischgepressten Granatapfelsaft bekam. Schließlich war kein weiterer Gast in Sicht. Das war mir auch recht. Ein bißchen habe ich gekaut, dass Antonio für die Tour 40 Euro wollte. Dafür fuhr er sich einen Platten, was ihn auch etwas gekostet haben wird. Zum Ersatz telefonierte er nach einem Kollegen, der mich nach Isola delle Femmine brachte, für weitere 40 Euro. Der Blick auf den Monte Monaco fern im Dunst hinter wildem Meer, der eine Ahnung an San Vito lo Capo zuließ, die kleine flache Insel der Frauen und fröhliches Geschwätz in der Bar und im endlich auftauchenden Bus, zum Glück kam kein Taxi, entschädigten für das geschlossene Charmant, den verdreckten Strand und die 80 Euro. Der Benzinpreis in Italien ist trotz Ölkrise immer noch hoch.
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Zu meiner Rechten auf dem Platz Caracciolo befindet sich eine Ruine, die dem Betrachter nur weiße, zugemauerte Türen zuwendet. Vor den dreistöckigen Häuserresten, in denen vielleicht auf der anderen Seite, hinter den sichtbaren Mauern, Leben ist, ist eine etwa zwei Meter hohe Mauer zum Teil mit Cartoons bemalt. Sie begrenzt einen Innenhof. Als ich das letzte Mal hier war, standen noch überquellende Müllcontainer davor, jetzt ist die Ruine nach außen sauber, hinter der Mauer türmt sich der Dreck. Alles ist weiß angestrahlt, es ist ein Monument mit einer Aussage. Auf einer großen weißen Fläche sind drei gemalte Köpfe zu sehen, als stünden sie auf Sockeln, dahinter Zahlen, das Jahr 1943.
Palermo, 1943. Am 9. Mai wird die Stadt von alliierten Wellington-Maschinen, die aus Malta kamen, mit Phosphor und sogenannten High-Capacity-Bomben in Schutt und Asche gelegt. Ein Menetekel auch für Dresden.
Das ist bald 73 Jahre her. Warum hat niemand die Stadt wieder aufgebaut? Das hat die Mafia übernommen. Ihre Wohnblöcke verunzieren die Vororte, durch die man kommt, wenn man über den Flughafen “Falcone e Borsellino” nach Palermo anreist. Dadurch blieb, was einst die Stadt war, leer. Die Mafia kassierte nicht nur die Mieten, sie teilte die Wohnungen zu – gegen Wohlverhalten und Gefälligkeiten. Nach diesem Prinzip funktionierte auch das Wohnungswesen in der DDR, die SED vergab Wohnungen in den Plattenbauten-Siedlungen, die Innenstädte verfielen. Heute sagt man, dass die Mafia besiegt worden sei, von Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando, ein Mitglied der sizilianischen Elite und in Europa als Held berühmt.
Ich habe ihn mal getroffen und will seine Verdienste nicht schmälern, aber während ich auf dem Platz Caracciolo sitze, mit den Leuten schwätze und Bier trinke, und auch als ich durch Straßen ging, die kein Pflaster haben, von Müll gesäumt sind und von Häusern, die leer ihrem Zusammenstürzen entgegen warten, was mich an Bilder von Aleppo erinnerte, kommen mir Zweifel. Es passiert nichts. Nur ein Hotel nistet sich in einer Ruine ein, die restauriert wird. Wenn die Gegend, die vom Hafen, der Via Cavour, der Via Roma und der Via Vittorio Emanuele gebildet wird, saniert würde, es wäre ein Schmuckstück, wie es keine andere Stadt hätte, weil es Jahrhunderte architektonisch abbilden würde, von den Normannen über die Aragoner, die Spanier, das Königreich beider Sizilien bis in die Neuzeit. Aber wenn dort keine Menschen wohnten, würde man ein Museum bauen. Um die Leute aber dorthin zu bekommen, müsste man die Wohntürme an der Peripherie leerziehen. Wenn ihm das gelänge, dann wäre Leoluca Orlando vielleicht ein Held. Und was die Mafia angeht, trotz der Aktion “Addiopizzo” wird immer noch in Palermo Schutzgeld gezahlt, dabei hat die Cosa Nostra, wie die Mafia Siziliens heißt, sich längst für sie interessanteren Feldern zugewandt, wie Erpressung, Drogen, öffentliche Aufträge und was weiß ich. Dass sie den Bürgermeister am Leben lässt, während die Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellini 1992 ermordet wurden, muss nicht der Tatsache zuzuschreiben sein, dass die Mafia besiegt ist. Sie ist es nicht. Sie schockiert derzeit nur nicht mehr die Öffentlichkeit, Touristen waren immer außen vor, zu wertvoll. Meine Bus-Täter waren mit Sicherheit einfache Malviventi, Kleinkriminelle der Großstadt.
Während ich vor der Kneipe am Piazza Caracciolo sitze, ist mir über dem Bild mit der Jahreszahl 1943 nicht die obere Hälfte eines Hakenkreuzes entgangen, hinter der Trümmerwand, darüber ein fetter Vogel mit Schwingen, dem der Kopf fehlt. Es dürfte sich um einen deutschen Adler handeln. Als die Bomben Palermo zerstörten, war Italien, zu dem Sizilien seit 1861 gehört, noch Bündnispartner Deutschlands, aber die Botschaft ist eindeutig.
Die Deutschen, sagen mir die Freunde vor der Kneipe, werden aber heute bewundert und auch nicht verstanden. Marco wollte in München einen Job finden, bekam ihn aber nicht, weil seine Papiere “nicht in Ordnung waren”. Wenn er das nächste Mal kommt, will er mich anrufen. Wir haben die Telefonnummern getauscht. Dass wir Flüchtlinge “haben wollen”, versteht niemand. Ob Marco und die anderen wissen, was Flüchtlinge sind? Nachmittags war ich auf dem Ballarò, einem Markt, den ich meinte, bereits in Nordafrika gelegentlich gesehen zu haben. Natürlich ist er bevölkert von Arabern. Wer von denen hat einen italienischen Pass, wer nur eine Registrierung von Lampedusa, wer hat nichts? Das weiß keiner, und keinen interessiert es.
Touristenbusse trauen sich nur an seinen Rand, damit ihre Insassen mal eine Prise vom ersten Kreis der Hölle nehmen dürfen.
Marco weiß nicht viel, aber von den Deutschen hält er große Stücke, weil Federico Secondo ja einer war, und es zu seiner Zeit Sizilien sehr gut ging. Das ist indes lange her, bald schon 900 Jahre, aber weil alle nicken, mag es stimmen. Ich habe sein Grab in der Kathedrale besucht, eine Blume lag am Sarkophag, vielleicht zu Recht. Während mich alle anschauen, als wäre ich Friedrichs wegen etwas besonderes, geht mir der Gedanke durch den Kopf, meine Zuneigung zu Palermo und der Insel hätte mit den Staufern zu tun. Diesen Gedanken verdränge ich schnell. Es sind tatsächlich die Menschen, die Malviventi ausgenommen, die mich faszinieren. Fröhliche, freundliche, bescheidene Menschen. Und sie tragen ein Erbe in sich, vor dem sich meins nur verstecken kann. Vielleicht machen sie nur zu wenig draus.
Sind Sie soweit, können wir weiter? Aber ja.

Hans-Herbert Holzamer

 

Fotos: Ada Oh

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Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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