Das Portugal Missverständnis

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Schöner geht nicht. Abendstimmung an Portugals Westküste
Der Atlantik gibt keine Ruhe

Portugal ist ein kleines Land am äußersten, westlichen Rand Europas. Diese Aussage ist falsch. Einem Chinesen, der sich auf Weltreise befindet, mag man diese Unkenntnis durchgehen lassen. Einem Mitteleuropäer dagegen nicht. Die Größe Portugals beträgt mehr als 92 000 Quadratkilometer, im Vergleich zu den 357 000 der Bundesrepublik, von Nord nach Süd sind es fast 600 Kilometer, von der spanischen Grenze zum Atlantik etwa 220. Auf diesem Nichtwissen beruht allerdings ein großes Missverständnis: Man könne „Portugal in einer Woche machen“, wie es in der Touristen-Sprache heißt. Man kann vieles, see Europe in a fortnight, Pope included, heißt ein Spruch, der auf die durchs Land hastenden zumeist asiatischen Gruppen gemünzt ist. Wir haben uns Deutsche angesehen, die in Portugal anreisten, um Porto und die Algarve in den Bestand ihres geografischen Besitzes aufzunehmen. Der Scherz gilt im Prinzip auch für sie. Wir haben – recherchehalber – Portugal in einer Woche „gemacht“, einmal als Mitglied einer Reisegruppe in einem Bus, einmal in einem angemieteten Pkw. Wenn man unter „machen“, ankommen, erfassen, verstehen oder irgendetwas definieren ist, das mehr ist als das Blättern durch ein Fotoalbum, muss man sagen, dass Portugal in einer Woche nicht zu „machen“ ist. Mit dem Bus schon gar nicht, aber auch individuell nicht.
Marketingtechnisch, und das meint auch das private Marketing „Du glaubst ja nicht, was ich Tolles gesehen habe“, ist diese Aussage natürlich eine Katastrophe. Wer die sieben Brücken über den Douro in Porto mit dem Schiff unterquert hat, kann nicht auf die Kritik „aber ich war am Cabo de São Vicente in der letzten Bratwurstbude Europas vor New York“ kontern, wenn er sich auf bestimmte Regionen Portugals konzentriert und alles andere ausgelassen hat. In der Welt der Portugal-in-einer-Woche-Eroberer besteht dagegen Waffengleichheit im Angeben: Mein Coimbra, mein Castel San Jorge, mein Batalha, mein Evora, mein Aveiro, mein Sintra und mein Hieronymus-Kloster, auch wenn der Aufenthalt dort nur jeweils eine halbe Stunde dauerte und zu nicht viel mehr als einem Selfie taugte. Andere aus der Gruppe will man nicht auf dem Bild haben, weil sie zu alt, hässlich, vor allem aber sozial unverträglich sind. Von dem, was man in der Kirche oder in der Burg sah, hat man eh nichts mitbekommen. Wer weiß, nachdem er es gesehen hat, schon irgendetwas über die Entstehungsgeschichte der unvollendeten Kapelle im Kloster Mosteiro Santa Maria da Vitória von Batalha oder kennt den Bauherren des Hieronymus-Klosters?
Busreisen sollen an dieser Stelle nicht abgelehnt werden. Es ist schon angenehm, sich morgens auf einen Sitz zu setzen und gefahren zu werden. Obwohl, so unproblematisch ist das auch nicht. Auch wenn man sein Namensschild nicht anbringen darf, deutsche Busfahrer können richtig garstig werden, wenn sie einen Fremden auf dem eigenen Platz – das ist der, den man gestern in Beschlag nahm – finden. Dabei nimmt weder die Anzahl der Bussitze ab noch die Zahl der Teilnehmer zu. Es ist keine Reise nach Jerusalem. Jeder kommt mit. Besonders umkämpft ist natürlich die vorderste Reihe, die einen Panaroma-Blick erlaubt, wenn etwa der Alantejo an einem vorüberrauscht. Da haben wir bei unserer Recherchefahrt erschütternde Schrei- und Prügel-Szenen erlebt! Schlimmer als der Kampf um den mit einem Handtuch gesicherten Liegestuhl auf einem Kreuzfahrer!
Andere positive Momente sollen jedoch nicht verschwiegen werden: An den Schlangen beim Eintritt geht die Gruppe elegant vorbei. Die Tickets hat der Reiseleiter, und ein Guide steht auch bereit, über dessen Güte man wenig sagen kann. Was soll er erzählen für eine Aufnahmepräsenz von wenigen Minuten? Ferner hat man mit der Mautzahlung an den Autobahnen nichts zu tun. Im Leihwagen mussten wir extra dafür löhnen, dass uns die Autobahnbenutzungsgebühren direkt vom Konto abgebucht werden durften.
Und man kann im Bus schlafen. Dazu besteht viel Zeit und Gelegenheit. Denn der Bus fuhr vom Flughafen Lissabon zuerst nach Porto, dann die ganze Strecke zurück bis nach Sagres und dann wieder nach Lissabon. Wer rechnet, kommt zu erschütternden Ergebnissen, wieviel Zeit tatsächlich der Kultur und dem Leben in Portugal gewidmet werden konnte. Mit dem Leihwagen, den wir in Porto in Empfang nahmen und in Faro am Flughafen wieder abgaben, konnten wir wenigstens die Kilometerzahl glatt halbieren. Obwohl selbst die leeren, weil teuren Autobahnen nicht in dem aus der Heimat gewohnten Tempo abgerast werden können. Vor dem langsameren Tempo in Portugal ist niemand nirgendwo gefeit. Der vermutlich sinnvollere Zeitaufwand wäre, pro Tag ein Ziel. Anreisen, hineingehen, herausgehen, innehalten und erneut betreten. Der Blick wäre ein anderer.
Für Busreisen sollte man einen das Reiseerlebnis perfektionierenden Service anbieten: Vor den Monumenten des allgemeinen Interesses, zum Beispiel Batalha, Hieronymus-Kloster, Castel San Jorge, Nationalpalast in Sintra, könnte man – vielleicht schon auf dem Bus-Parkplatz – den Gästen wunderbare, professionelle Fotos auf einem Stick oder einer DVD anbieten. Das sparte den Weg, ließe Platz für andere und ermöglichte den Besuch weiterer Kulturstätten. Auch das Problem mit den Selfies ließe sich lösen, indem man Fotowände, auf denen das Meer und der letzte Bratwurstkiosk zugleich zu sehen ist, aufstellt und jeder seinen Kopf in ein vorher ausgeschnittenes Loch stecken kann. So würde das Strahlen des Gesichtes eingefangen, der restliche Körper gnädig abgedeckt.
Aber nicht nur der Bus- auch der Mietwagen-Tourist muss sich der Erkenntnis stellen, dass Portugal kein Ziel für eine Fortnight oder eine Woche ist, auch wenn er nur in eine Richtung von Porto nach Faro fährt. Wer ein Gefühl dafür bekommen will, was Saudade, die landestypische Traurigkeit, ist oder wie man aus einem stinkenden Stockfisch ein exzellentes Gericht zaubern kann, muss sich beschränken. Wie man überhaupt als Busreisender mit Pauschalverpflegung sich von einem Erleben der lusitanischen Küche komplett verabschieden kann. Die Küchen, die für die Bewirtschaftung von Speisesälen eingerichtet sind, können Carne de porco com amêijoas oder Pastéis de bacalhau nicht auf den Teller zaubern.
Aber wie? Die Erkenntnis ist der erste Weg. Portugal ist kein kleines Land am Rande Europas. Es war ein Weltreich, und dessen kulturelles Erbe ist noch da. Italien wäre glücklich, wenn man ihm wenigstens Cristofero Columbo ließe. Und den Weg in die Zeit, als man Spanien und anderen die Stirn bot, kann man nachvollziehen. Wie man auch den Weg zurück von der kolonialen Größe bei etwas Aufmerksamkeit gehen kann. Über die portugiesische Republik, die Zeit der Diktatur, die Revolution der Nelken, bis auf den heutigen Tag zu einem modernen Mitgliedsstaat der Europäischen Union. Die Straßenkunst in Olhão findet man in keinem Reiseführer, aber der Besuch der künstlerisch umgestalteten Kirche und benachbarter Gassen, Barboleta Amarela, der Schmetterling als Symbol des neuen Lebens lohnt. Es zeugt von Kraft und Können.
Die Schönheit des Landes findet man im Kleinen. In jedem Dorf, ja, jeder Kneipe. Man muss nicht dorthin, wo ein Schild darauf hinweist, man sei am westlichsten Punkt Europas wie in Capo da Rocca. Wenn man das Meer und sein Anrennen gegen das Land sehen will, dann finden sich viele Plätze ohne Menschenmengen, Peniche, zum Beispiel, das Cabo Espichel, der Praia de Odeceixe-Mar, Inbegriffe absoluter Schönheit – und weit weg von den Pisten der Reisebusse. Die Wälder und die Parks, die muss man nun einmal zu Fuß besuchen. Als wir da waren, brannte es – leider mal wieder – fürchterlich. Aber das Grün wird siegen, das war bereits mehrere Tage darauf zu sehen. Ist alles nur eine Frage der Zeit – die man sich und Portugal lässt.

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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