Argentinien. Reise zu Mileis Dienstantritt am 10. Dezember 2023

Spannender kann ein Zeitpunkt für eine Reise nicht sein. Wir landen in Buenos Aires, der Hauptstadt von Argentinien, wo gerade der als Rechtspopulisten bezeichnete Javier Milei die Stichwahl gewonnen hat. Man kann ja schon froh sein, außerhalb der Europäischen Union in ein Land reisen zu können, wo überhaupt noch Regierungswechsel auf demokratische Weise möglich sind. Immer häufiger, wenn ein Land sich demokratisch oder „Volks-“ nennt, kann man davon ausgehen, dass die Bewohner des Landes nicht das Sagen haben, sondern eine in einer Partei oder einer Familie zusammengefasste kriminelle Elite.

Die Einreise nach Argentinien gestaltet sich langwierig und bürokratisch mit Daumenabdruck und Fotografie, dabei sind die schlimmsten Auswüchse der Corona-Pandemie, mit denen bei früheren Terminen derartiges begründet wurde,  schon vorbei. Genug gestresst von dem langen Transatlantik-Flug von Europa nach Lateinamerika ist erhebliche Geduld in einer nicht enden wollenden Schlange gefragt. Tatsächlich ist Tage später der Grenzübergang auf dem Landweg ins benachbarte chilenische Feuerland noch nerviger. Kein Käse, kein Obst, keine Wurst, nicht einmal Nüsse dürfen über die Grenze. Es lebe Schengen und das zarte Pflänzchen der Vernunft! Das Verhältnis der beiden Nachbarn ist problematisch. Sogar Papst Johannes Paul II musste vermitteln, um einen Grenzstreit zu beruhigen. Aber unter der Oberfläche scheint es zu brodeln. Dabei kann man das argentinische Feuerland auf dem Landweg nicht erreichen oder verlassen, ohne chilenischen Boden zu betreten, und auch für Chile gibt es keine Straße, die aus dem südlichen Landesteil ins Kernland führt. Der Weg durch Argentinien ist Pflicht. Die spinnen diese Südamerikaner, mag man sagen, dabei sind sie aufeinander angewiesen. Und die Europäische Union bietet Mercosur, ihrem lateinamerikanischen Gegenstück, die Hand, wo diese sich untereinander alles andere als grün sind. Ein aussichtsloses Unterfangen. Und in jedem öffentlichen Raum hängt der Hinweis an der Wand, dass die Malvinas argentinisch (und nicht die englischen Falkland-Inseln) sind. Das ist mehr als nur eine Fußnote, denn dieses Thema gilt der nationalen Selbst-Definition und kann beliebig aufgeheizt werden.

 Aber zurück nach Buenos Aires, wo Milei jetzt versucht, seine wilden Sprüche in Trump-Manier staatsmännisch zu mäßigen. Aber dem Peso, der in einer Hyperinflation taumelt, will er nachwievor den Garaus machen und ihn durch den amerikanischen Dollar ersetzen. Die Auswirkungen der Geldentwertung sind heute schon fatal. Es gibt einen offiziellen Kurs, zu dem etwa die Bauern und Schafzüchter ihre im Ausland gemachten Gewinne tauschen müssen, 1 Euro ist hier etwa 330 Pesos wert. Dann gibt es einen offiziellen Touristenkurs 700 Pesos pro Euro, und drittens einen Schwarzkurs, der offen angeboten wird. Man kann auch in Dollar bezahlen, gelegentlich sogar in Euro, aber das Wechselgeld bekommt man in Peso. Aktuell sind etwa 1000 Peso einen Euro wert. Kreditkarten werden ungern gekommen, weil die erst in 40 Tagen abgerechnet würden, und niemand wisse, wo der Peso dann steht. Die Inflation beträgt etwa 12 Prozent – im Monat.

Das Problem für den Reisenden besteht darin, die Menge an Peso-Scheinen gering zu halten, das Unvermeidliche platzsparend zu bündeln. Neben der Vorschrift, Papier, auch benutztes nicht in die Toilette zu  werfen, ist das in einer hygienisch schwierigen Umgebung des größte Dilemma. Einheimische sagen, dass Papier sei deswegen zu dünn, weil man dickeres für die Banknoten benötige.

Für den Bewohner der guten Lüfte (Buenos Aires), ist dies dank jahrelanger Gewöhnung kein Problem. Aber auch für denjenigen, der Mileis Sieg bewundert hat, fangen konkrete Sorgen an. Soziale Spannungen scheinen unvermeidbar

Nun beginne der argentinische Wiederaufbau, versprach Milei am Abend seines Sieges in Buenos Aires. „Heute endet das Modell des allgegenwärtigen Staates, das nur einigen wenigen zugutekommt, während die Mehrheit der Argentinier darunter litt. Heute umarmen wir wieder die Ideen der Freiheit.” Der selbsternannte „Anarcho-Kapitalist“ Milei will die Zentralbank schließen, die meisten Ministerien auflösen, Sozialausgaben drastisch kürzen, und das bei einer Armutsquote von 40 Prozent, und eben den US-Dollar als Zahlungsmittel einführen. Donald Trump, Elon Musk und Jair Bolsonaro haben bereits gratuliert.

Die Leute, mit denen man ins Gespräch kommt, reagieren erstaunlich gelassen. In den Cafes und Restaurants, den Hotels und den Geschäften geht das Leben weiter, als sei nichts geschehen. Die Argentinier sind es gewohnt, dass ihre privaten Interessen im staatlichen Wirken nicht zählen. 40 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze, die Sicherung des Überlebens der Familie steht im Vordergrund. Bei Fahrten durch die Vororte, etwa vom binnenländischen Flughafen ins Zentrum, sieht man, wie Argentinien funktioniert. Auf öffentlichem Grund des Bundes baut jeder, der kann, sich seine Hütte, zumeist in Wellblech und Stein, wie es ihm passt. Die Stadt hat nichts zu sagen, schickt aber dafür auch weder Polizei noch Krankenwagen vorbei. Jeder für sich. Der Sohn des Bürgermeisters hat in eigentlich geschütztem Gebiet ein Hotel bauen dürfen. Das Bewusstsein, einem Bonum Commune des Staates oder der Gesellschaft verpflichtet zu sein, gibt es nicht. „Es ist wie ein Spiel, jeder hat seine Hütchen plaziert, soziale Gerechtigkeit steht auf einem, Freiheit auf dem anderen. Massas, des ehemaligen Wirtschaftsministers, Hütchen glänzte aufgrund von Misserfolgen und Korruptionsskandalen nicht mehr. Auf Putins Union der BRICS-Staaten wollte auch keiner einen Peso setzen. Doch ich befürchte, dass unter Mileis Hütchen eine Verharmlosung der Militärdiktaturen auftauchen wird mit ihren zigtausend Toten. Aber Sie, als Touristen“, sagt Pedro, wissenschaftlicher Assistent an der Universität de la Plata, „soll das nicht stören. Ein Militärputsch ist nicht zu befürchten. Die Argentinier werden so freundlich und hilfsbereit sein wie immer. Und, naja, die Ausreise wird auch so quälend sein – wie immer. Auch heute, am 10.Dezember, dem Tag des Amtsantritts des neuen Präsidenten Milei.“ Er hat ja recht, und der Reisende freut sich auf eine Toilettenanlage in Europa.

BU: Jeder für sich, Wohnungsbau in Buenos Aires. Copyright: hhh

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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