Eigentlich war es ja eine Wohltat nach der ganzen Hitze in Deutschland und großen Teilen von Europa ins schon herbstliche Reykjavik zu reisen. Und gegen Tagestemperaturen von 12 Grad gibt es ja Kleidung. Aber der Sturm und der dazu peitschende Regen am ersten Tag lassen die Freude über die willkommene Abkühlung fast schon vergessen. Immerhin, tags darauf blinzelt die Sonne schon frühmorgens ins Hotelzimmer und auch der wilde Wind ist weg.
Story: Reykjavik Jazz Festival
Einen musikalischen Sturm hat am Abend zuvor das Iceland Liberation Orchestra vielleicht nicht unbedingt entfacht. Aber mit seiner neuen, gut 45 minütigen Suite Aetherentführten Bandleader und Saxofonist Haukur Gröndal und das mit spannenden isländischen Musikern wie dem Posaunisten Samúel Jón Samúelsson oder den beiden Schlagwerkern Magnús Trygvason Eliassen und Pétur Grétarsson sowie dem Finnen Kari Ikonen als famosen und virtuosen Gast am Piano exzellent besetzte Orchester in vielschichtige, wunderschöne, herrlich offene, nordisch gefärbte, jazzige Klangwelten. Denn die machen dieses Orchester aus, das aus festen Strukturen den Beteiligten viele Freiheit gewährt, ohne den Fluss der Musik dabei zu unterbrechen.
Einfach mit Just Blues war ein paar Stunden zuvor ein Konzert mit einem Quartett des isländischen Gitarristen Börkur Hrafn Birgisson übertitelt. Mit tollem Blick durch die riesigen Glasfenster auf den direkt ans Gebäude grenzenden See Tjörnin lauschte man bei freiem Eintritt im Rathaus schlicht jazzigen Blues, aber mit so viel Leidenschaft und Frische gespielt, dass es einfach ein Riesenspaß war zuzuhören.
Jón Ómar Árnason, selbst Gitarrist und seit drei Jahren nun Leiter des Reykjavik Jazz Festivals, ausgerechnet im ersten Covid-Jahr 2020 übernahm er das Zepter, setzt die Tradition fort, vielen isländischen Musikern auf dem Festival ein Podium zu geben. Und er mag es den einheimischen Musikern spannende neue Begegnungen zu ermöglichen. Das seit zwei Jahrzehnten schon zusammenspielende isländische Duo von Óskar Gudjónsson und Skúli Sverisson brachte er jetzt mit dem dänischen Gitarristen Jakob Bro zusammen. Für ein allererstes gemeinsames Konzert mit eigens für diese Konstellation geschriebene neue Musik, in einem der Säle von Harpa, dem Hauptspielort des Festivals, ein 2011 eröffnetes, imposantes Konzerthaus und Konferenzzentrum am Hafen von Islands Hauptstadt. Und da saßen die drei Ausnahmemusiker nun dicht beisammen um mit zarten, beseelten Jazzklängen das Publikum zu betören. Weitere Konzerte dieses neuen Trios im Ausland sind bereits in Planung. Und vielleicht wird aus Árnasons Idee ja in der Zukunft eine feste, neue Band.
Auch der isländische Pianist Ingi Bjarni bescherte der 32. Ausgabe des Festivals eine Premiere, spielte er doch erstmals in einer Band mit seinem ehemaligen Lehrer, dem schwedischen Bassisten Anders Jormin. Im Quartett mit Gitarrist Hilmar Jensson und Schlagzeuger Magnús Trygvason Eliassen, dem wohl am meisten beschäftigten Musiker des diesjährigen Festivals, verwöhnte Bjarni mit frischen Kompositionen und seinem wunderbar fließenden, lyrischen Nordic Jazz.
Und es gab noch mehr Interessantes zu hören in Islands Hauptstadt, die boomt und voller Touristen ist wie nie. Das Solokonzert von Pianist und Flötist Kristján Martinsson etwa, der durch vorab gesampelte Flöten- und Klavierklänge, die er dann mit live Gespieltem verband, interessante Klangkombinationen zwischen Intimität, Klangsuche und Expressivität schuf. Das mit Saxofonist Marius Neset oder Pianist Helge Lien hochkarätig besetzte Quartett des norwegischen Bassisten Arild Andersen agierte mit einer großen atmosphärischen Dichte, bot romantische Augenblicke, aber auch ungestüme Improvisationen und explodierende Momente – zusammengehalten durch das so vielseitige Spiel auf dem Kontrabass des Bandleaders. Und das Projekt The Moon And I verwöhnte mit den wunderschön auf Isländisch von Heida Árnadóttir gesungenen Evergreens des großen französischen Komponisten und Pianisten Michel Legrand.
Nicht zu vergessen natürlich das Abschlusskonzert des Festivals in der imposanten Hallgrímskirkja, die das Stadtbild von Reykjavik so prägt. Ist sie nicht nur die größte Kirche Islands, sondern auch das zweithöchste Gebäude auf der ganzen Insel. Das Buchanan Requiem des dänischen Trompeters Jakob Buchanan entfaltete sich als gewaltiges, vielschichtiges, anderthalbstündiges Jazz-Requiem mit drei Chören aus Island, Finnland und Dänemark, der Reykjavik Big Band und Topsolisten wie der isländischen Sängerin Ragnheidur Gröndal, Anders Jormin aus Schweden am Bass oder Islands Hilmar Jensson an der Gitarre. Unter dem Dirigat des Norwegers Geir Lysne zeigte sich diese musikalische Totenmesse des Dänen als durchdachtes und unter die Haut gehendes Erlebnis.
Text: Christoph Giese
Fotos: Hans Vera
CD-Tipps mit isländischen Musikern:
- Andrés Thor: Hereby (Losen Records)
- Scott McLemore: The Multiverse: Knowing (Sunny Sky)
- Tómas R. Einarsson: Bongó (Blánótt)
- Tómas R. Einarsson & Ragnhildur Gísladóttir: Ávarp Undan Sænginni (Blánótt)
Weitere Infos: Reykjavik Jazz Festival, offizielle Tourismusseite für Island