Die Amis sind laut, unüberhörbar, zwei Männer und vier Frauen, alle deutlich über 60. „Yes, we all are sons and relatives of our heroes.“ Das ist es: Amerikanische Tour Operators haben die Normandie fest in ihrem Programm. Und das Hotel Manoir du Lys in Bagnoles-de-l’Orne ist für die Betuchteren und / oder die Freunde einer feinen französischen Küche ein bevorzugtes Quartier. Denn Franck Quinton Ist nicht nur Miteigentümer des Manoir du Lys sondern auch ein Sterne-Koch, der es versteht, regionale Produkte zu gourmettauglichen Speisen zu verwandeln. Vor allem Pilze haben es ihm angetan, und davon gibt es in den umliegenden Wäldern so viele, dass er selbst gelegentlich in einem Buch nachschlagen muss. „Alle haben ihren eigenen Charakter, der auch in der Pfanne respektiert werden muss.“ Daher gibt es bei ihm kein Gemisch auf dem Teller.
Bild: Ganz oben: Hummer- und Windsucher
Die sechs Amerikaner, eher Gourmands- als Gourmets-typisch, sind auskunftsfreudig. Die Beaches von Omaha bis Sword haben sie auf dem Programm, dann Bayonne, die erste befreite Stadt, das Caen Mémorial Museum, Natürlich Mont St. Michel, das einmal die Engländer erobern wollten, aber das war zu einer anderen Zeit. Die Amerikaner bedauern, dass sie es nicht geschafft haben, zum „D-Day“ anwesend zu sein, aber bei dem Trubel an den Stränden sei sowieso jeder Tag D-Day.
Was würde man wohl Sizilianern als Ziele in der Normandie anbieten, deren Könige viele Jahre von Normannen gestellt wurden, bevor die Staufer den Job übernahmen? Diesen Versuch einer Spuren- und Heldensuche hat noch niemand übernommen. Die Normannen, die von sich behaupten Wikinger gewesen zu sein, tauchten in ihrer großen Zeit überall auf. Moskau, Kiew, William the Conquerer, auf Deutsch Heinrich der Eroberer, schaffte 1066 England und begründete dort eine allerdings kurzlebige Dynastie.
Rundfahrten für Deutsche sind da vergleichsweise einfach und frei nach gusto zu gestalten, weil es keine dominierenden historischen oder kulturellen Sehnsuchtsziele gibt. Verlierer kehren nicht so gerne an den Ort ihrer Schande zurück, obwohl die Schande nicht in der Niederlage besteht, sondern darin, überhaupt in einem fremden Land aufgetaucht zu sein. Die Aufgabe ist heute eine andere. So wie (fast) jeder weiß, welches Bundesland bei einer Reise durch Deutschland auf welches folgt, so muss in dem grenzenlosen Europa auch ein allgemeines Wissen vorhanden sein, welche Regionen man bei Reisen im Nachbarland durchquert. Nähert man sich der Normandie mit dem Auto sind dies für alle, die aus dem Süden Deutschlands kommen, das Elsaß, Lothringen, die Champagne oder die Isle de France, und die Picardie. Das Land der Normannen ist jetzt geeint, nicht mehr in haut und basse geteilt. Schneller geht es indes mit dem TGV oder mit dem Flugzeug, wenn man nicht aus dem Umstieg in Paris einen eigenen Programmpunkt der Reise schneidert. Aber was macht man hier, wenn man nicht zu den Landungsstränden will und den Mont Saint Michel nur von der Ferne beobachtet, weil man nicht in den Touristenströmen untergehen will, die den Berg seit langem und endlich wieder als Insel erleben wollen?
Atout France hatte unserer Journalistengruppe einiges angeboten. Und wählte bewusst Ziele, die nicht jeder in seiner Planung hat. Wer individuell sich seine Route stricken will, für den gibt es einige Reiseführer. Wir folgten dagegen Sawina Oehlke und näherten uns dem Zielpunkt aller, dem renaturierten Mont Saint Michel, auf einem Küstenwanderweg von Granville aus. Es ist der GR223 – der Sentier des Douaniers, auf Deutsch Zöllnerweg, der auch Sentier du Littoral (Küstenweg) genannt wird. Seine gesamte Länge beträgt 430 km, von Carentan bis zum Mont-Saint-Michel. Davon liefen wir nur ein kurzes Stück, bis zur Cabane Vauban, einem aus Naturstein gemauerten Wachhäuschen, hinter dem fern im Meer der Mont Saint Michel glitzerte. Ein wunderbarer Moment der Ruhe und Schönheit, und doch auch zutiefst verbunden mit Napoleons Kontinentalsperre und allem, was sie auslöste. Bis hin zum Russlandfeldzug und dem Weberaufstand, der Gerhart Hauptmann zu seinem Meisterwerk inspirierte. Wozu braucht der Mensch einen Flügelschlag des Schmetterlings, um ferne und unerwartete Erschütterungen auszulösen? Der Küstenweg im Department La Manche gehörte uns nahezu allein, auf der Rückfahrt nach Granville erlebten wir gesteckt volle Zufahrtsstraßen. Alle wollten das der Springflut geschuldete Spektakel sehen, die von dem Damm und den dadurch bedingten Sedimenten befreite Kirchenfestung plötzlich wieder als Insel im Kanal zu sehen.
Eine andere Insel, Chausey, besuchten wir von Granville aus mit dem Schiff bei stürmischer See. Unter Kanalinseln versteht man für gewöhnlich Guernsey und Jersey, die einst Teil des normannischen Herzogtums besagten Williams waren und heute Besitz des britischen Königshauses sind. Doch das kleine, aus vielen Inselchen bestehende Chausey, die nur bei Ebbe miteinander verbunden sind, kennen nur wenige, hat aber jetzt einen festen Platz unter meinen Sehnsuchtsorten. “Zwei Stunden nach Beginn der Flut”, sagt Olivier Ribeyrolles, “müsst Ihr den Ausflug auf den Grund des Meeres beginnen, eine Stunde nach dem Tiefwasser müsst Ihr auf dem Rückweg sein.” Olivier ist studierter Geologe, sein Fachgebiet die Sedimentologie, die Wissenschaft der Ablagerungen, er arbeitet als Führer auf der Insel und läuft ständig barfuß. Und weil das Land unter dem Meer, bestehend aus Sand, Watt, Felsen und ungezählten Muscheln so unendlich groß ist, sollte man alleine nicht den Weg hinaus wagen, und stets mit dem entsprechenden Schuhwerk.
Wandern ist das eine Fortbewegungsmittel, Radfahren das andere. In Domfront kreuzen sich die beiden Fahrradstrecken Véloscénie, die von Paris zum Mont-Saint-Michel führt, und die Vélo Francette. Aber das Städtchen Domfront en Poiraie ist auch für Besucher ohne Rad von Interesse. Vom Schloss Domfront sind zwar nur noch Mauerreste geblieben, aber wer sich die Zeit zu einem geführten Besuch nimmt, dem eröffnet sich eine spannende Geschichte. Natürlich kommt Guillaume, der Normanne, darin vor, den wir als Wilhelm den Eroberer kennen, daneben Heinrich II Plantagenet, Johann ohne Land. Viele Mächtige der Geschichte, bis Maximilien de Béthune, genannt Sully , das Schloss 1608 zerstören ließ. Ein Blick von den Trümmern einer der einst mächtigsten Festungen Europas in die Weite zeigt, warum Domfort, 60 Kilometer westlich von Avranches gelegen, so wichtig für die Herrschaft über die Normandie war.
Einen noch besseren Blick übers Land hat man vom Turm der Église St Julien, die ein Betonbau aus dem 20. Jahrhundert im neobyzantinischen Stil ist. An ihrer Außenansicht scheiden sich die Geister der Kritiker, aber der Innenraum zeigt beeindruckend, wozu Beton fähig ist, nämlich große Räume zu schaffen. Die Besuche zum Turm sind geführt, wegen der Statik. Zu viele zur gleichen Zeit hält er wohl nicht aus.
Berühmt und sehenswert sind auch die Herrenhäuser, les Manoirs. Einige sind Hotels, wie das Manoir de Lys, andere sind gegen ein kleines Entgelt zu besuchen, das Tourismusamt hat die Übersicht, vom Manoir Sainte Cécile bis zum Manoir de la Chaslerie.
Wer es schlichter, dafür familiärer mag, der setze sich an einen table d’hôte, die Inhaber des Gästehauses kochen für Ihre Gäste. Für Sensible bedarf es etwas Überwindung, Familienangehöriger innerhalb eines Geschäftsmodells zu sein. Aber Richard und Victoria im Gästehaus Belle Vallée nahmen die Befangenheit. Es machte ihnen sichtbar Freude, Fremde im Haus zu haben. Zudem konnte man sie ausgiebig mit Fragen zu ihrem Haus und zur Region beschäftigen.
Das table d’hôte ist üblicherweise das Gegenteil von à la carte – festes Menue oder nach Speisekarte. In der Normandie meint table d’hôte das gastronomische Angebot des chambre d’hôte, was mit Bed & Breakfast nicht erklärt werden kann, weil man das gesamte Haus nutzen kann. Es entspricht eher einem englischen Manor oder Herrenhaus. Richard, der Engländer ist, servierte regionale Hausmannsküche. Seine Gäste bleiben in der Regel eine Woche und erkunden die Region. Amerikanische natürlich die Beaches.
Aber Domfront war auch unser Treffpunkt mit dem Poiré Domfront, einem frischen Schaumwein aus Birnen, dem Camembert; und es war Ausgangspunkt der Exkursion mit dem Fahrrad. Wir fuhren die Véloscénie bis nach Bagnoles-de-l’Orne, einem Thermalbad mit großer Vergangenheit, das sich bemüht, den Anschluss an die Moderne zu finden, und wurden im B’O Spa mit einer “normannischen Sport-Massage” belohnt. 50 Minuten lang währte das Kneten, keine eine möchte man missen. Die Vélo Francette, die andere Radler-Piste, ist mehr als 600 Kilometer lang und führt von Ouistreham, einer Gemeinde am Kanal im Departement Calvados, bis zum Atlantik bei La Rochelle.
Doch die Normandie hat nicht nur Küsten, die zum Wandern einladen, Inseln, die bei Ebbe den Meeresboden freigeben, Badorte wie Bagnoles, schier endlose Wälder mit Straßen, die für Radfahrer perfekt ausgezeichnet sind. Es gibt alte Städtchen, deren Schlösser und Kirchen zur Besichtigung einladen, wie Domfort. Es gibt regionale Spezialitäten, und überall trafen wir freundliche, auskunftsbereite Menschen. Alle erzählten gerne ihre Geschichte, und alle mündeten sie in eine gemeinsame voller Wagemut, Stolz und Freiheitsliebe.
Zudem atmet dieses Land Kunst, das macht vielleicht seine Besonderheit aus, weil Kunst dem Kampf um das tägliche Brot und dem Überleben in einer auf Events und unique selling points getrimmten touristischen Welt die Schwere nimmt. Der Impressionismus gelangte hier zur Blüte in Frankreich, während Paris noch über die ungewohnten Bilder die Nase rümpfte. Gerade ging das Festival “Tous Impressionnistes” zu Ende, das zum dritten Mal mit 450 Veranstaltungen zum Thema “Der Impressionismus in Portraits” die ganze Normandie zur Bühne hatte. Das Land schmeckt vor allem nach frischer Seeluft, dann nach guter Küche, nach Wein, vor allem nach Cidre und Poiré. Natürlich gibt es das Getränk aus Äpfel und Birnen auch als Eau de vie, wobei der Gebrannte aus Birnen wie der Bruder aus Apfel Calvados heißt, aber mit dem Zusatz Domfortais. Denn nur daher kommt der echte. Er schmeckte auch unserer amerikanischen Reisegruppe, wie sie glaubhaft und lautstark versicherte.
Information:
Comité Régional de Tourisme de Normandie, 14, rue Charles Corbeau, 27000 Evreux,Tel. : 00 33 (0)2 32 33 79 00 Fax : 00 33 (0)2 32 31 19 04, Info@normandie-tourisme.fr
www.normandie-urlaub.com
(deutschsprachige Webseite des Tourismusverbandes)
Zum Einlesen:
Die Normandie, ein Garten am Meer; Dumont Nr. 71
Rald Nestmeyer: Normandie, Michael-Müller-Verlag
Détours en France: Spécial Mont-Saint-Michel; 2016