Zittau – die Perle in der Ecke oder die Stadt am Hungertuch

Deutschland ist , kann man sagen, eingekastelt von Dreiländerecken. Wie viele es insgesamt gibt, darüber gibt es unterschiedliche Angaben, weil manches Eck im Wasser liegt und nur schwer verortet werden kann. Es gibt sogar eines, an dem Großbritannien und Dänemark beteiligt sind, hoch in der Nordsee. Das Dreiländereck, das ich gegenwärtig vor der Nase habe, liegt auch im Wasser, in der Neiße. Es bildet den Grenzpunkt zu Polen und Tschechien. Nur zur Orientierung: Das nächste Eck im Norden ist das zwischen Deutschland, Polen und Dänemark, nicht Schweden, weil die Ostsee-Insel Bornholm zu Dänemark gehört. Und das nächste Eck gen Westen grenzt an Tschechien und Österreich. Nach dieser geografischen Justierung an dem Südzipfel des östlichsten Teil von Sachsen bei Zittau ist eine Erklärung fällig, warum es mich gerade hierher gezogen hat. Denn ich weiß, östlich von Dresden beginnt für viele eine terra ignota, wo Rechtsradikale ihr Unwesen treiben. Das ist ein mehr als bedauerliches Missverständnis und wird diesem Land – so sag ich es bereits an dieser Stelle – und seinen Städten überhaupt nicht gerecht.

Es ist ja richtig, ich bin ursprünglich nicht wegen Zittau hierher gefahren, sondern wegen Curzio Malaparte (1898 – 1957). Dieser von mir sehr verehrte Schriftsteller, den ich auf eine Stufe stelle mit Stefan Zweig, heißt eigentlich Curt Ernst Suckert, und sein Vater, Erwin Suckert zog von Zittau nach Prato. Zittau ist also Malapartes Vaterstadt. Aber diese weiß nichts davon. Ich habe gefragt. Eine schönere Motivation für eine Recherche ist doch kaum denkbar! Erwin Suckert war Textilingenieur, er zog von einer Tuchmacherstadt in eine andere, denn Prato war und ist Italiens textiles Zentrum, wenn man die heutigen chinesischen Fabrikationsstätten hinzunimmt. Es gab in Zittau eine Kattundruckerei Suckert, und einen Schriftsteller Uli Suckert, der leider 2016 gestorben ist. Von ihm stammt das Buch „Görlitz in Zeichen des Hakenkreuzes“. Er hat sich sehr um ein historisches Verständnis der Region bemüht. Ja, und weiter bin ich auch mit Hilfe des Museumsdirektors Dr. Peter Knüvener nicht gekommen. Und so stehe ich an der Neiße, auf der Brücke über den Ullersbach, einen Fuß in Tschechien, einen in  Polen und blicke über den Fluss, der an einem Schreibtisch in Potsdam am 2. August 1945 zur Grenze wurde. Der Direktor des Hotels „Dreiländereck“ gab mir den Rat, auf polnischen Seite zum Eck zu gehen, also quer durch Zittau, dann über die Neiße, rechts weg auf einem Radweg bis zur tschechischen Grenze. Den Fluss, dessen zugewachsene Ufer ihn als grünen Pfad erscheinen lassen, immer zu meiner Rechten. Leider gibt es am Eck eine Holzbrücke nach Deutschland nur am jährlichen Festtag, was unverständlich ist. Ein dauerhafter Tripod-Steg wäre doch eine Idee. Da ich mit der Familie Suckert nicht weiterkomme, fasse ich den Entschluss, mich intensiver mit Zittau zu befassen.

Und stoße dabei auf: Stefan Zweig, meinen Lieblingsautoren. Sein Werk „Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers“ wird im Rahmen des Lausitz Festivals am  1. September 2023 im Gerhart-Hauptmann-Theater Zittau aufgeführt. Da ich nicht an Zufälle glaube, gehe davon aus, dass im nächsten Jahr aufgrund meiner erfolglosen Recherchen „Kaputt“ von Curzio Malaparte zur Aufführung gelangt. Denn wo Zweig aufhört, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, fängt Malaparte an. Die „Sonnenhelligkeit in einer dunklen Welt“ ist ein bis heute drückend aktuelles Thema. Und ist „Schatten im Letzten doch Kind des Lichts“?

Wer Stefan Zweig mag, muss auch Malaparte lieben. Und wenn sich eine Stadt rühmt, dass die Mutter Karl Valentins aus ihr stammt, wie kann sie Erwin Suckert übersehen? Auch Lisa Tetzner, die Märchenerzählerin, die nach Lugano ging, wird immerhin mit einer Hinweistafel an ihrem Haus geehrt.

Das Licht, dass auf die Neiße fällt, wird durch die Schatten der Bäume zu einem Gemälde im Strom. Die Grenze sieht man nicht. Das Gemälde wirkt traurig, wie das einer alten Frau, die vieles gesehen hat und doch versucht, mit ihren Enttäuschungen klar zu kommen. Aber vielleicht habe ich dieses Bild auch aus der Stadt an das in ihrem Süden liegenden Dreiländereck mitgebracht.

Zittau, so geht die Sage, soll von einer Fürstin Zittavia gegründet worden sein. Sie soll im Jahre 1021 in einem nie existenten BenediktinerKloster beigesetzt worden sein. Sie ist fast so geheimnisvoll wie Erwin Suckert. Aber zwei ihrer Brüder, Chastolaus und Enricus de Sitavia, sind urkundlich im Jahre 1238  bezeugt. Es war das Gebiet der böhmischen Krone, und im Jahr 1255 verlieh Ottokar II. von Böhmen das Stadtrecht, indem er mit einem Pflug symbolisch Größe und Umfang der Stadt in den Boden zeichnete.

Bis ins 17. Jahrhundert hinein gehörte Zittau zur Böhmischen Krone, seit dem Prager Frieden, 1635, zu Sachsen.

Die Tuchmacher (Suckert!) spielten in der Stadtgeschichte stets eine besondere Rolle, bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts bildeten sie eine Zunft. Tücher wurden europaweit transportiert. Mit dem Stadtbrand von 1757 endete die Blütezeit als Handelsstadt. Es folgte Zittau als Autostadt mit den „Phänomenwerken“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Davon kündet heute noch die Ruine der Roburwerke. In Zittau gilt sie als Menetekel einer gescheiterten Politik der Treuhand, die nicht versuchte, lebensfähig zu machen, was eine Chance dafür bot, sondern plattmachte, was nicht sofort auf den Westmärkten wettbewerbsfähig war, von den Fällen klassischer Heuschrecken-Tätigkeit abgesehen.

Von der großen Tuchmacher-Zeit künden die Fastentücher. Das große von 1472 wird im Museum Kirche zum Heiligen Kreuz gezeigt, das kleine Fastentuch von 1573 im Kulturhistorischen Museum Franziskanerkloster. Dieses Museum ist eines der ältesten der Republik, seine Exponate sind nicht in Vitrinen versteckt, jedenfalls nicht alle, daher reden sie mit dem Besucher. Peter Knüvener nimmt sich die Zeit, mir seine Schätze zu zeigen, und jeder, der nach mir nach Zittau kommt, sollte sich beide Museen und beide Tücher ansehen. Vor einem Jahr feierte Zittau den 550. Geburtstag des großen Tuchs. Dazu ließ Peter Knüvener „acht bedeutende Geschwister“ auf Stoff drucken, darunter das Turiner Grabtuch. Dass das Große Fastentuch erhalten blieb, „gleicht einem Wunder“, sagt er. 1945 hatten sowjetische Soldaten es an seinem Auslagerungsort gefunden. „Sie zerrissen es und verkleideten damit ihre provisorische Saunahütte im Wald.“ 1995 wurde das „monumentale Textil zusammengesetzt und restauriert“. Die 90 Felder des Tuchs erzählen die Heilige Geschichte.

Fastentücher hießen auch Hungertücher, weil sie den Altar und das Kreuz verbargen und so dem körperlichen Hunger der Fastenzeit einen geistigen hinzufügten. Nur wenige Tücher sind erhalten. Dass Zittau zwei ihrer Art hat, könnte man auch mit dem Hunger der Stadt in Verbindung bringen. Es fehlt nicht nur die Industrie, es fehlt generell an Menschen, und daran fehlt es, weil Arbeit fehlt. Andere Bundesländer verlagern landeseigene Behörden in strukturschwache Regionen. In Zittau gibt es nur ein Zollamt. Dabei gibt es Wohnungen im Überfluss, will sagen Leerstand. Makler haben mir zentrale Wohnungen für 6 Euro Miete den Quadratmeter angeboten, saniert. Aber wenn keiner hinwill oder kein geeignetes Personal verfügbar ist, helfen auch leere Wohnungen nicht, den Hunger zu lindern. Es gibt Versuche, das Handicap der Ecklage durch Kooperationen mit den Nachbarn zu lindern, aber auch sie haben bislang nicht dazu geführt, dass Kritiker nicht mehr von einer „sterbenden Stadt“ sprechen.

Inzwischen habe ich meinen Standort an der Neiße verlassen. Gedanklich immer noch auf der Suche von Spuren des Erwin Suckert sitze ich auf dem Markt vor dem Rathaus auf einem Stuhl einer Dönerbude. Mehr ist da abends nach 19:00 Uhr nicht. Das Material von Uli Suckert, das ich dabei habe, hilft mir und führt mich in einer Publikation zu den Zittauer Textilwerken und in die jüngere Vergangenheit. Ob vielleicht dort der Vater von Curzio Malaparte Ingenieur war, erfahre ich nicht. Es gibt sie nicht mehr. Aber ich finde die geheime Produktionsstätte der Junkers-Werke, in der die Triebwerke des ersten Düsenjägers der Welt gefertigt wurden, der Me 262. Mit ihnen hoffte Hitler den Krieg zu gewinnen. Doch der Krieg war schneller und erreichte bald die „Zittwerke“. Am 6. März 1945 erfolgte die Verlegung nach Nordhausen in Thüringen. Auf dem Zittauer Frauenfriedhof erinnert heute ein Massengrab an die angebliche  „Wunderwaffe“.  Rasen bedeckt die Kriegsopfer, darunter die Häftlinge und Ostarbeiter aus den Zittwerken. Die Zeit des Terrors beginnt früh in Zittau, fast gleichzeitig mit Dachau.

Da ich vor der Dönerbude nicht bedient werde, mir der Zutritt aber durch ihren Odeur zu eklig ist, verlasse ich den Markt gerade noch rechtzeitig, um nicht in die Gesellschaft von Leuten zu kommen, die hier montags ihren Platz des Aufmarsches haben, und die zu ihren eigenen Schlüssen aus der Vergangenheit gekommen sind.

Im Innenhof des Dornspachhauses finde ich ein idyllisches Plätzchen und eine feine Gastronomie mit Preisen, die an ferne Zeiten erinnern. Und gerate an eine Gruppe junger, nennen wir sie Nerds, aus den beiden hier beheimateten Frauenhofer-Instituten, die mit der These von Zittau als sterbende Stadt nichts anfangen können. „Sie haben das sicherlich aus dem Deutschen Architekturforum entnommen, das Zittau als sterbende und zerbröselnde Stadt bezeichnet.“ Ich muss da leider zustimmen. Aber ich habe auch selbst den Leerstand gesehen, die Ruine der Roburwerke, die ehemalige Mandau-Kaserne und leere Wohnungen, Straßen lang, auf meinem Weg zur Brücke über die Neiße habe ich sie gesehen. „Ja“, sagt der Nerd, „übersehen Sie aber bitte nicht, dass die Gebäude heutigen Ansprüchen nicht mehr genügen. Da wird ein Neubau teurer als ein Abriss. Und Wohnungen müssen Home-Office-geeignet sein.“

Doch, wende ich ein, es fehlten Arbeitsplätze, und von der Textil-Industrie sei wenig geblieben. Ich verzichte darauf, nach Erwin  Suckert zu fragen. Auch der Fahrzeugbau ist weg, der Status einer Kreisstadt ebenso. Es waren einmal fast 40 000 Einwohner in der Stadt, jetzt droht ein Abrutschen unter 20 000. Geblieben ist das Zittauer Gebirge, eine beliebte Urlaubsregion, und vor allem die Klosterruine Oybin, die Alterskapelle  für Kaiser Karl IV. Aber gescheitert ist man kürzlich mit dem Versuch, Kulturhauptstadt Europas zu werden und die drei Nachbarregionen in Europa zu präsentieren. Dabei schmückte sich Zittau im Sechs-Städte-Bund mit dem Beinamen „die Reiche“, und heute nagt sie am Hungertuch.

Die Nerds aus dem Fraunhofer-Kunststoffzentrum Oberlausitz (FKO) verweisen dagegen darauf, dass die Zukunft für Zittau gerade begonnen habe. In den Bereichen Kunststoffverarbeitung, additive Fertigung, Leichtbau und Wasserstofftechnologien sei man führend und arbeite mit der forschungsstarken Hochschule Zittau/Görlitz und der Technischen Universität Liberec in Tschechien eng zusammen.

Nicht zuletzt mit dem neu eröffneten LaNDER-Technikums schreite man an der internationalen Spitze der Innovationen. Dafür bekommen sie von den beiden anwesenden Kollegen des Fraunhofer-Instituts für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik Applaus.

Einer von ihnen verweist darauf dass „mehr als 170 ha voll erschlossener Industrie- und Gewerbeflächen sowie attraktive Gewerbeimmobilien zur Verfügung stehen.“ Die aktuelle Auslastung von 70 Prozent in Zittau habe bereits die Planung eines neuen Industriegebietes notwendig gemacht.

Vielleicht haben die Nerds, die ich im Dornspachhaus traf, ja Recht, und man muss in die Zukunft der Stadt schauen. Aber welchen Beschäftigungs-Effekt haben ihre Institute? Bestimmt nicht so viele wie etwa die Textilindustrie. Und Erwin Suckert, der Textilingenieur, ging ja auch weg, ohne zurückzukommen, oder auch nur Spuren zu hinterlassen. Aber vielleicht, meint Peter Knüvener, findet sich ja jemand, der Spaß und Geduld hat, diese zu finden. Und dann strahlt Zittau im Glanze, Vaterstadt eines Curzio Malaparte zu sein, über alle Ecken hinaus.

BU: Das Dreiländereck bei Zittau; Copyright: hhh

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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