Hans Kammerlander ist mit Urlaubsgästen von einer gemütlichen Tour zurückgekommen. Er war er in den Höhenlagen Südtirols unterwegs. Sein Wissen über die Berge, seine Erfahrungen und Erlebnisse gibt der bodenständige, umgängliche Extrembergsteiger gerne weiter – eben bei Wanderungen, Kletterpartien oder Skitouren in seiner Heimat, Expeditionen in Nepal, in Büchern und bei Vorträgen. Der charismatische Herzblutalpinist mit der ruhigen Erzählstimme gehört zu den erfolgreichsten seines Metiers, er muss sich mit 62 Jahren nichts mehr beweisen, will’s auch nicht. Genug hat er erlebt, 25 Jahre lang viel riskiert, Erfolge gefeiert, Tragödien hinnehmen müssen. Jetzt beschreibt ein Film von Gerald Salmina die Lebensgeschichte des Südtirolers als einfühlsames, authentisches Porträt verpackt in wunderbaren Bildern. „Manaslu – Berg der Seelen“ lautet der Titel, ab 14. Dezember 2018 ist er in Österreich und Südtirol auf den Kinoleinwänden zu sehen, ab 3. Januar 2019 in Deutschland. Der #Manaslu, ein Berg in Nepal (8163 Meter), gilt als Schicksalsberg Kammerlanders. Dort verlor er zwei seiner besten Freunde, er selbst schwebte in akuter Lebensgefahr. Nach 26 Jahren kehrte er 2017 an den #Manaslu zurück – ohne den Gipfel dabei erreicht zu haben. „Reise-Stories“ sprach mit dem mehrfachen Rekordhalter im Bergsportbereich darüber und über den Film – das Ganze per du, wie sich das, so ein geflügeltes Wort, in den Bergen über 1000 Metern gehört.
Hans, du bist Ende 2017 an den Manaslu zurückgekehrt. Auch diesmal hast du den Berg nicht bezwingen können. Wie gehst du damit um?
Hans Kammerlander: Das ist für mich mein Schicksalsberg. Er ist einer der leichtesten Achttausender. Eben vor 26 Jahren, als wir dort in einen Wettersturz kamen und ich zwei Freunde verloren habe, unter anderem meinen engsten Freund und Lehrmeister Friedl Mutschlechner, den nur wenige Meter neben mir der Blitz getroffen hat, das war die Hölle. Ich bin dann vom Berg weg, kam ins Tal ohne meine Freunde, bin heim und habe mir gedacht: Der Berg ist dein Feindbild geworden, ich will nimmer. Dann habe ich aber doch weitergemacht, was auch gut war. Der #Manaslu war aber lange kein Thema mehr – bis eben zum Filmprojekt.
Wann kam die Idee zum Film zustande?
Kammerlander: Etwa vor drei Jahren. Ich habe Stephan Keck, einen guten Freund und Bergsteiger gefragt, ob er mitkommt, er hatte ein ähnliches Schicksal erlebt. Ich wollte diese Rückkehr filmisch festhalten, so kam Gerald Salmina dazu. Er hatte dann die Idee, nicht nur die Manaslu-Expedition zu filmen, sondern mein ganzen Leben zum Thema zu machen.
Bei eurer Rückkehr an den Manaslu 2017 hat euch das Wetter einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Kammerlander: Ja, das war chancenlos. Wir sind dort angekommen und haben den Neuschnee gesehen. Man kam gar nicht voran, auch die Lawinengefahr war viel zu kritisch. Wir haben dann gesagt: Gut, wir waren da. Wir haben unbeschreiblich tolle Bilder gemacht, die im Film zu sehen sein werden, nur eben auf dem Gipfel waren wir nicht.
Das wurmt dich, oder?
Kammerlander: Nein, überhaupt nicht. Der Gipfel war mir nicht wichtig. Es war mir wichtig, an den Berg zurückzukehren, wo ich wirklich sehr gelitten habe.
Und wie ging es dir dabei?
Kammerlander: Ich habe mich viele Jahre gedrückt, noch einmal zu diesem Berg hinzugehen. Die Zahl „14 Achttausender“ hat mich nie interessiert, aber einfach die Angst, wenn du dort bist, dass die Erinnerungen dich aufwühlen, Schmerzen bereiten, die war im Hinterkopf. Im Nachhinein muss ich sagen: Es war ein Fehler. Ich habe jetzt bei der ganzen Expedition schon an meine Freunde gedacht, aber meistens an die schönen Dinge, ich habe mit ihnen so viel Tolles erlebt. Ganz selten kam der Gedanke an diesen brutalen Nachmittag hoch, als die beiden Freunde ums Leben kamen, der eine abstürzte und der andere vom Blitz getroffen wurde. Und ich weiß, dass ich nur mit sehr viel Glück überlebt habe.
Der jetzige Expeditionsabbruch am Manaslu bedingt durch den Neuschnee spricht für dich: Sicherheit geht vor – war das schon immer so?
Kammerlander: Ja, das habe ich immer so gemacht. Nur in meiner Jugendzeit ist mir das schwer gefallen. Vielleicht habe ich da die Gefahren auch nicht so klar gesehen. Aber im Laufe der Jahre – und das habe ich von Reinhold Messner gelernt (ebenfalls einer der bekanntesten Extrembergsteiger aus Südtirol, Anm. d. Red.) – da habe ich mich relativ leicht entscheiden können, zurückzugehen, wenn ich gemerkt habe, jetzt bin ich nicht mehr Herr der Lage, auch, wenn ein Gipfel ganz nah war. Jedoch immer mit dem Wissen, ich komme wieder. Wenn du umdrehen kannst, gehst du ganz frei auf die Ziele los. Ich glaube, ich habe auch oft falsch gehandelt und umgedreht, wo es nicht richtig war, wo anstatt des Gewitters wieder die Sonne kam. Aber das ist egal. Wenn ich das nicht getan hätte, wäre ich vielleicht auch nicht mehr da.
Gibt es einen dritten Versuch, den Manaslu zu bezwingen?
Kammerlander: Ich schließe es nicht aus. Ich bin ja auch zum #Manaslu zurück aufgrund eines ähnlichen Schicksals am Jasemba in Nepal. Auch dort war ich vor wenigen Jahren bei einer Erstbegehung mit zwei Freunden, die Tour ist gescheitert. Das Jahr drauf war ich mit einem dieser beiden Freunde dort und der Kollege ist tödlich abgestürzt – mit dem Seil. Ich war oben in der Wand ohne Seil, ein großes Risiko. Der andere Kollege von der ersten Expedition hat dann auf mich eingeredet wie auf eine kranke Kuh, damit wir erneut einen Versuch starten – auch für den verunglückten Freund. Und wir haben es gewagt und geschafft. Auf dem Gipfel war ich dann ganz glücklich. Da habe ich gespürt: Es ist besser, nach vorne zu gehen, das würde ich auch jedem empfehlen. Das ist die Botschaft des Filmes: Wenn mal etwas nicht so läuft, wie vorgesehen, dann nicht aufgeben, sondern den Weg fortsetzen. Und dieser Impuls ist auch beim Manaslu da. Aber dann steige ich hoch – ganz ohne Filmteam – und bleibe zwei Meter vor dem Gipfel stehen. Ich habe alle Achttausender bestiegen, es geht nicht mehr um Ehrgeiz, es geht mir um die Geschichte. Technisch dürfen die Berge schon noch schwer sein, aber dann gehe ich eben nicht mehr wie früher an einem Tag hoch, sondern eben in zwei bis drei.
Du scheinst die Aktivitäten mittlerweile ganz anders zu genießen?
Kammerlander: Ja, ich bin jetzt ganz frei geworden. All die Jahre in diesem Wettlauf um die hohen Berge, da bist du nicht frei, da bist du einfach nur getrieben. Ich schau mehr, ich seh mehr. Der Berg ist schon noch wichtig, aber er ist eben nicht mehr alles.
Wann hat sich diese Einstellung geändert, gab’s einen Auslöser?
Kammerlander: Mit Blick auf mein Alter hätte ich sowieso irgendwann zurückgesteckt. Aber als meine kleine Tochter da war – sie ist jetzt zehn Jahre alt – da hatte ich das Gefühl, dass ich jetzt Verantwortung habe. Und ich habe auch gewusst, dass ich mich nicht mehr steigern kann, sondern die Kräfte eher weniger werden. Mit 60 sehe ich die Berge ganz anders, und es ist viel schöner geworden. Ich war die ganzen Jahre sehr riskant unterwegs, anders geht es auch nicht. Wenn ich zum Beispiel an die Jugendzeit zurückdenke, war ich auf schönen Gipfeln, egal ob es das Matterhorn war oder ein anderer Berg, und war glücklich. Das war Gipfelglück. Später, im Wettlauf, hatte ich das Gefühl, es war Gipfelerfolg. Und nun ist es wieder Gipfelglück. Jetzt kann ich oben hocken und frei sein. Die Uhr interessiert mich dann nicht. Ich schau’ auf die Wolken, ob die annehmbar sind oder ob ein Gewitter aufzieht, dann hau ich ab. Aber sonst nehme ich mir viel Zeit.
Was hat dir bei der Arbeit zum Film besonders gefallen?
Kammerlander: Für mich war es eine tolle Arbeit, vor allem die Jugendzeit zurückzuholen. Das hat mich sehr berührt und gefreut. Die Jugendzeit war sehr einsam auf dem Bergbauernhof ohne Strom, ohne Zufahrtswege, ohne fließendes Wasser im Haus, das alles noch einmal zurückzuholen, war für mich sehr schön. Und natürlich waren da auch wieder harte Momente dabei, wenn wir schwere Schicksalsschläge verfilmt haben, aber da muss man durch.
Wusstest du schon immer, dass du Bergführer werden möchtest?
Kammerlander: Als ich früher eine Arbeit am Bau, als Maurer, begonnen habe, spürte ich, dass diese Arbeit ein Leben lang nichts für mich ist. Die Leidenschaft Berg wurde immer tiefer. Das am Bau habe ich dann nur gemacht, um mir das Klettern leisten zu können. Ich hatte den Traum, wenn ich vom Alter her so weit bin – mit 21, vorher geht’s nicht – Bergführer und Skilehrer zu werden und das Hobby zum Beruf zu machen. Mit dem Diplom in meiner Hand wurde mein Traumberuf Wirklichkeit. Ich habe das dann über Jahre gelebt – ich durfte im Sommer in der Früh aufstehen und auf den Berg gehen, genauso im Winter die Skitouren gehen oder Ski fahren – das war für mich nicht Arbeit, sondern pure Freude. Im Frühjahr und Herbst hatte ich viel Freizeit und bin ganz viel geklettert auf sehr hohem Niveau. Das war wohl auch der Grund, warum mich Reinhold Messner eingeladen hat, mit ihm zu gehen (1991 umrunden die beiden in sechs Wochen ganz Südtirol auf den Landesgrenzen, 1200 km Klettern und Wandern, rund 100 000 Höhenmeter, über 300 Gipfel, Anm. d. Red.). Das war der Einstieg in diesen Wettlauf. Das Bergführersein hat mich immer fasziniert, da konnte ich runterfahren. Auch heute ist es fast mehr Hobby als Beruf. Ich habe dabei Momente erlebt, die gehören zu den schönsten in meinem Leben, zum Beispiel, wenn du jemanden auf einen Traumgipfel begleiten kannst. In der Früh siehst du, der hat die ganze Nacht vor Aufregung nicht geschlafen, und dann, wenn alles vorbei ist, strahlt er übers ganze Gesicht. Wenn du so etwas erlebst, dann weißt du, es ist ein toller Beruf. Ich mache diese Arbeit richtig gern, das lasse ich mir auch nicht nehmen. Zu meinen Hauptaufgaben zählen auch das Bücherschreiben und die Vorträge.
Du bist regelmäßig in Nepal. Was fasziniert dich an diesem Land?
Kammerlander: Dort bin ich gern. Nepal ist meine zweite Heimat geworden, dort habe ich viele Freunde und ich habe dort mit Freunden aus Deutschland, von der Nepalhilfe Beilngries, und Österreich, von der Nepalhilfe Lichtenegg, viele Projekte aufgebaut. Es sind mittlerweile 26 Schulen mit unserer Unterstützung entstanden, wir haben zudem Krankenhäuser gefördert und, soweit ich weiß, die einzige Kinderblindenschule errichtet. Auch kümmern wir uns um Waisenhäuser, was besonders viel Freude bereitet. Wenn du in einem Kinderheim bist und alle Kinder sind gut gekleidet, haben essen, ein geregeltes Leben, eine neue Familie und sehen glücklich aus – das ist ein so schönes Gefühl. Das, was du gibst, kriegst du doppelt und dreifach zurück. Ich bin schon oft aus einem Waisenhaus raus und habe mich besser gefühlt, als wenn ich auf einem Achttausender war. Ich empfand eine tiefe Freude. Für den Film haben wir in Nepal eine meiner Schulen besucht.
Zum Dalai Lama hast du ebenfalls ein besonderes Verhältnis. Warum?
Kammerlander: Ich habe ihn drei-, viermal getroffen, er ist ein besonderer Mensch, er hat etwas, was ich nicht beschreiben kann. Mich fasziniert seine Akzeptanz anderer Religionen. Die Tibeter leben schon eine schöne Philosophie.
Bist du gläubig?
Kammerlander: Da bin ich mir nicht so ganz sicher. Ich musste als Kind jeden Tag in die Messe, dann in die Schule, mein Vater war sehr gläubig. Am Abend gab’s dann noch den Rosenkranz, das war mir alles zu viel. Und die Geschichte und Entwicklung unserer Kirche hat mich dann auch nicht angezogen. Ich glaube aber schon an irgendetwas, sonst würde es die schöne Natur nicht geben. Aber an was ich glaube, das weiß ich nicht. Mir ist auch wurst, als was ich im nächsten Leben wiedergeboren werde. Ich habe auch keine Angst vor dem Tod. Das ist so befreiend. Man darf nicht vergessen: Die Religionen sind von Menschen erfunden worden.
Menschen treiben auch die Vermarktung der Berge voran. Wie empfindest du die Entwicklung in diesem Bereich?
Kammerlander: Ich weiß nicht, wo das hinführt. Ich möchte den Leuten nur sagen, geht dahin, wo nicht jeder hingeht. Das, was sich am Everest abspielt, ist furchtbar: Es darf nicht sein, dass ein Land wie Nepal 500, 600 Leute auf den Berg lässt, nur weil die tausende Dollar bezahlen. Im vergangenen Jahr hat zum Beispiel ein fanatischer Vater einen 13-Jährigen auf den Everest schleifen lassen, nur, damit er der Jüngste auf dem Gipfel ist. In solchen Momenten denke ich schon: Du armer Berg.
Macht dir sowas Angst?
Kammerlander: Es macht mir Sorge. Angst ist etwas anderes.
Zur Person
Hans Kammerlander (Jahrgang 1956) wurde als sechstes Kind einer Bergbauernfamilie in Ahornach bei Sand in Taufers/Südtirol geboren. Er verschrieb sich früh den Bergen und der Extreme. Der Bergführer und Skilehrer hat rund 2000 Klettertouren auf dem Buckel – davon etwa 50 Erstbegehungen. 13 von 14 Achttausendern hat er ohne Sauerstoff bezwungen, sieben davon mit Reinhold Messner. Er hält Rekorde wie die vierfache Besteigung des Matterhorns (4478 m, höchster Berg der Alpen) von allen Seiten in 24 Stunden oder die Skiabfahrt vom Gipfel des Mount Everest (8848 m) im Himalaya.
Der mehrfache Buchautor hält Vorträge und unterstützt seine Heimatregion touristisch mit einem breiten Aktivprogramm. Seine 24-Stunden-Wanderungen (auch 30 Stunden) erfreuen sich seit Jahren großer Beliebtheit. Er beschert seinen Kunden zudem exklusive Klettererlebnisse bei privaten Führungen und gemeinsame Fernreisen mit Expeditionen, etwa nach Nepal.
„Manaslu – Berg der Seelen“ kommt am 14. Dezember 2018 in die Kinos in Österreich und Südtirol, in Deutschland am 3. Januar 2018. Alle Infos dazu gibt es hier.
Nepal nennt Kammerlander seine zweite Heimat. Er ist häufig vor Ort und unterstützt die Nepalhilfe. Infos dazu gibt es hier.