Das Mekong Delta liefert Saigon, das offiziell Ho-Chi-Minh-Stadt heißt, nicht nur die vollen Reisschüsseln und exotischen Früchte. Auch der Sand, den die Bauboomtown für ihre Wolkenkratzer braucht, kommt aus dem nahegelegenen Garten Eden.
Wenn die Nachtschwärmer in Saigon noch unterwegs sind, stehen die Garküchenbetreiber schon wieder auf und brutzeln für die Frühaufsteher. Herr Do gehört zu den Frühaufstehern. Für ihn beginnt der Tag morgens um fünf mit Tai-Chi. Eine Ausnahme macht der Reiseleiter, wenn er zu früher Stunde eine Gruppe am Flughafen abholt. Korrekt gescheitelt steht er mit einem Schild in der Hand und einer Mappe unter dem Arm zwischen der langen Reihe der Wartenden. „Nicht viel los heute Morgen“, sagt er und bringt uns zum Kleinbus, mit dem wir im strömenden Regen und im Strom der morgendlichen Rush Hour zwischen unzähligen knatternden und hupenden Motorrollern mitten in die Boomtown Saigon gespült werden. Im Hotelzimmer lockt ein großes Bett. Ein bisschen Schlaf nach dem langen Flug oder eine Dusche, das wäre jetzt wunderbar. Aber Herr Do wartet in der Empfangshalle.
Saigon im Zeitraffer
Mit forschem Schritt navigiert er uns durch die Metropole. Die Lebensader Dong Khoi mitten in Ho-Chi-Minh-Stadt war schon ein pulsierendes Pflaster, als die südvietnamesische Hauptstadt noch offiziell Saigon hieß und zur französischen Kolonie Cochinchina gehörte. Damals hieß der Boulevard noch Rue Catinat. Hier traf man sich in Cafés und Restaurants, amüsierte sich in Bars und Varietés oder verbrachte den Abend in der Oper. Als die nordvietnamesische Armee 1975 einmarschierte war Schluss mit der westlichen Dekadenz im „Paris des Ostens“ und nicht nur die Flaniermeile war wie leer gefegt.
Aus Saigon wird Ho-Chi-Minh-Stadt
40 Jahre später ist die Hauptstadt im tropischen Süden Vietnams aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht. „Saigon wächst heute in atemberaubendem Tempo“, sagt Axel Korn. Der Architekt hat vor über zwei Jahrzehnten seinem Berliner Büro den Rücken gekehrt, um in Saigon am Start einer neuen städtebaulichen Ära mitzuwirken. „Hier habe ich fünf Konkurrenten, in Berlin 5000“, schätzt Korn. Alles sei hier im Aufbruch. Auch die Spekulanten. Bauprojekte werden hier eher nicht ausgeschrieben. „Viel zu zeitaufwendig“, sagt der vielbeschäftigte Architekt in seiner vietnamesischen Wahlheimat. Dass er bisher noch keine Zeit hatte, die Sprache zu lernen, sieht er ganz gelassen. „Hauptsache, man ist gut vernetzt“, so er und lächelt vielsagend
Mega City Saigon
Die Panorama-Plattform im 49. Stock des Bitexco Towers bietet einen guten Blick auf die Boomtown mit über zehn-Millionen Einwohnern. Zwischen dem Gewirr aus Wolkenkratzern, Abbruchhäusern und in die Höhe ragenden Baugerippen verschwindet die einst glanzvolle Kathedrale Notre-Dame. Die aufstrebende Skyline der Mega City am Saigon-Fluss lässt auch das einst herausragende Opernhaus in französischer Kolonialarchitektur und das gelb-weiß getünchte Rathaus daneben, heute Regierungssitz der kommunistischen Volkspartei, klein und bescheiden erscheinen. Einen Steinwurf entfernt behauptet sich das wuchtige Hauptpostamt, das Gustave Eiffel 1887 in ein eisernes Korsett hüllte. In der riesigen, gewölbeartigen Schalterhalle wacht der allgegenwärtige kommunistische Führer Onkel Ho von einem überdimensionierten Gemälde über den Handel mit Postwertzeichen und die Verkaufsstände mit landestypischen Andenken und anderem Krempel.
Saigon in traditionellem Rhythmus
Hinter den postmodernen Fassaden der Mega-City gibt der Rhythmus des traditionellen Lebens noch den Ton an. In den schmalen Gassen leben oft drei Generationen auf engstem Raum zusammen. Wohnen und arbeiten geht hier nahtlos ineinander über. Jeder betreibt seinen kleinen Handel. Eine Kochstelle, ein paar provisorische Sitzgelegenheiten und fertig ist die Garküche. Nebenan garen Mutter und Sohn einen Mix aus Reis und Knoblauch und etwas weiter folgt ein Farbenmeer aus Schnittblumen und exotischen Früchten aus dem tropischen Garten des Mekong Delta. Nach den farbenprächtigen Sinneseindrücken gibt es wild durcheinander zwitschernde Kanarienvögel aus beengten Käfigen auf die Ohren.
Die Sinne schwirren, als Herr Do zielstrebig ein farbloses Haus in dem Gassengewirr ansteuert. Eine Gruppe junger Sehbehinderter bietet hier Blindmassagen an. Mitten im Trubel der Altstadt sind wir gleichsam in einer Oase wohltuender Stille gelandet. Ohne viele Worte funktioniert die Verständigung mit den blinden Masseur.innen. Mit ihrem geradezu magischen Gespür kneten sie hartnäckigste Verspannungen weg Derweil kann man abtauchen und entspannt die Gedanken schweifen lassen. Mit dieser privaten Initiative können sich die Blinden eine kleine Existenz aufbauen. Besonders für Behinderte seien solche Projekte wichtig, denn, so Reiseleiter Do: „Bei uns gibt es keine soziale Unterstützung“.
Kulinarische Entdeckungstour per Scooter in Saigon
Tiefenentspannt fädeln wir uns danach in den Feierabendstrom der Motorroller ein. Schon der erste große Kreisverkehr auf unserer kulinarischen Entdeckungstour treibt den Schweiß auf die Stirn. Nach einer Erfrischung zwischendurch klemmen wir uns wieder hinter den Scooter-Piloten. Verschiedene Kostproben der Straßenküche von Saigon geben dem Magen Halt, bevor es ins Royal Saigon Restaurant zum Schlemmen geht.
Gastgeberin Yen-Linh Tran, deren Eltern einst vor den vietnamesischen Kommunisten nach Deutschland geflohen sind, machte sich vor zwölf Jahren in ihrer Heimat am Bodensee auf den langen Weg in die Heimat ihrer Eltern. Im Gepäck hatte die junge Frau eine gute Ausbildung und eine große Portion Ehrgeiz und Umweltbewusstsein. In Saigon fasste sie Fuß und gründete ein Speiselokal mit vegetarisch-vietnamesisch-kantonesischer Küche. Mit ihrem Konzept der konsequenten Nachhaltigkeit wollte sie Zeichen setzen. „Das steckt hier noch komplett in den Kinderschuhen“, sagt sie. Viele Tonnen Abfall sammeln sich allein in Saigon täglich an. Beispielhaft dümpeln Teile an Müll, die regelmäßig im Saigon River landen, in einem Aquarium in ihrem Restaurant.
Von Saigon ins Mekong Delta
Die Worte der umweltbewussten Restaurantchefin hallen noch nach, als wir am nächsten Tag beschaulich auf Deck einer Dschunke über das braune Gewässer des Mekong schaukeln. Auf seiner letzten Etappe fächert sich der gewaltige Fluss im Süden Vietnams in acht Hauptarme auf, die sich später im Südchinesischen Meer verlieren. Die schicksalsgläubigen Vietnamesen haben den acht Flussarmen neun Drachen zugeordnet. Nicht nur, weil die Neun den verhassten Chinesen Unglück verheißt. Für die Vietnamesen bedeutet die Neun Glück. Und das offenbart sich hier als ein fruchtbares Delta, das ihnen eine gut gefüllte „Reisschüssel“ beschert.
Auf einer beschaulichen Radtour durch die amphibische Wunderwelt mit ihren schattigen Kokospalmengärten und Plantagen entdecken wir die Vielfalt an Gemüsesorten und exotischen Früchten, die in dieser fruchtbaren Landschaft gedeihen. Darunter Litschis, Granat- und Javaäpfeln, Drachenfrüchten, Kaki-Persimonen und Tamarindenschoten. Mit einem freundlichen Lächeln bietet eine Bauernfamilie uns Kostproben aus ihrem tropischen Garten Eden an, als wir einen kurzen Stopp auf unserer Radtour einlegen.
Die Stadt läuft dem Leben im Mekong Delta den Rang ab
Im Mekong Delta sind die traditionellen Strukturen noch weitgehend intakt. Jeder hat sein Häuschen mit Garten, ein paar Hühner, Gänse, Ziegen oder Kühe. Die Delta-Bewohner mit ihren vielen Religionen, Göttern und Heiligen, denen sie in bescheidenen oder opulenten Tempeln, Moscheen und Kirchen huldigen, leben noch friedlich mit- und nebeneinander, die Gräber ihrer Ahnen neben den Reisfeldern stets in Sichtweite. Der kommunistischen Verwaltung sei das allerdings ein Dorn im Auge.
Ein wesentlich größeres Problem bereiten heute aber die Nachkommen, sagt Herr Do: „Die wollen lieber in die Stadt, als sich auf den Reisfeldern abzurackern “. Als Kind musste der 55-Jährige schon morgens vor seinem langen Weg zur Schule aufs Reisfeld. „Das war hart“, versichert er. Viel härter, als die Arbeit im Maschinenbau später im fernen Chemnitz. Für vier Jahre hatte die ehemalige DDR damals Spezialisten aus dem kommunistischen Bruderstaat angeheuert. Bei guter Arbeit wurde um weitere vier Jahre verlängert. „Danach hätte ich die Staatsbürgerschaft beantragen können“, erzählt Herr Do. Aber er sehnte sich in seine Heimat zurück, trotz der noch sichtbaren Spuren des Vietnamkriegs.
Das Mekong Delta und seine heimliche Hauptstadt
Zurück an Deck der nostalgischen Touristen-Dschunke nehmen wir Kurs auf Cai Rang und genießen die beschauliche Abendstimmung auf dem ruhig dahin fließenden Strom. In den frühen Morgenstunden schaukelt die Dschunke durch den größten exotischen Markt für die variantenreiche vietnamesische Küche. Noch vor Sonnenaufgang beginnt der Handel auf dem schwimmenden Markt von Cai Rang. Bis zur feuchten Mittagshitze wird um alles gefeilscht, was das Delta hervorbringt. Ein Boot nach dem anderen kreuzt die Wasserstraße. Reissäcke, Obst- und Gemüsekörbe werden auf- und abgeladen, Fisch und Fleisch, Blumen und Bambushölzer wechseln die Besitzer. Zwischen dem Gedrängel staken zierliche Frauen mit typischem Kegelhut aus Reisstroh ihre kleinen Boote seelenruhig durch das Durcheinander an Kähnen und Dschunken. Ähnlich gelassen geht es auf den Decks zu. Männer sitzen rauchend auf Bambusstühlen während Frauen Gemüse putzen und das Baby schaukeln, das in einer Hängematte schlummert.
In Can Tho setzt sich das pralle Markttreiben am Flussufer der heimlichen Hauptstadt des Mekong Delta fort. Zwischen den Händlern und ihren ausgebreiteten Auslagen exotischer Früchte und Blumen, Geflügel und Fisch bahnen sich abenteuerlich beladene Fahrräder, knatternde Motorroller und Einkaufenden zu Fuß einen Weg.
Saigon – die Faszination der pulsierenden Stadt
Dicht besiedelt ist das Delta, das der Mekong auf seinen letzten 200 Kilometern in Südvietnam geformt hat. Doch das Gleichgewicht im Garten Eden gerät ins Wanken.
Auf dem 5000 Kilometer langen Weg durch sechs Länder sammeln sich tonnenweise Sedimente im träge dahin fließenden Wasser des Mekong an. Umweltexperten wie Herr Vinh setzen sich innerhalb des weltweiten GIZ-Projekts für eine nachhaltige Entwicklung in ihrem Land ein. In der Idylle einer kleinen Deltainsel an der Peripherie von Can Tho erklärt der Umweltprofessor in einer nachhaltigen Hotelanlage zwischen schützenden Mangrovenwäldern, wie sich die bedrohlichen Umweltszenarien auswirken können. „Wir dürfen nicht nur nehmen, was uns die Natur gibt“, sagt er und meint vor allem auch die Mengen an Sand, die für den Bauboom an den Ufern des Mekong abgetragen werden.
Zurück in Saigon saugt uns die pulsierende Stadt wieder ein, die vor Energie berstet. Ho-Chi-Minh-Stadt strahlt eine ganz eigene Faszination aus. „Sie müssen wiederkommen“, hat der Berliner Architekt Korn empfohlen. „In zehn Jahren werden Sie die Stadt nicht wieder erkennen“.
Text und Bilder: Renate Wolf-Götz
Infos zu Vietnam
Beim Veranstalter „Reisen mit Sinnen“ gehört neben den Entdeckungen von Menschen, Mythen, Natur, Kultur und Kulinarik auch Nachhaltigkeit zum Programm. www.reisenmitsinnen.de
Veranstalter vor Ort: Terraverde Travel
Der nachhaltige Veranstalter, gegründet von Vu Minh Anh, der in Deutschland aufgewachsen ist, führt für „Reisen mit Sinnen“ Touren in Vietnam, Kambodscha, Laos und Myanmar durch. www.terraverdetravel.com
Unterkunft in Saigon und Can Tho
Hotel Liberty Central City Point
The Myst – zentral gelegen an der Dong Khoi
Hotel Azerai Can Tho
Mekong Kreuzfahrt
Essen und Trinken
Restaurant Royal Saigon
Lektüre
Südostasien – Die Mekong Region
Stefan Loose Travel Handbücher
www.stefan-loose.de (26.99 Euro)
Mekong – Vom Dach der Welt zum Delta der neun Drachen
www.picus.at