Venezia, vera città. Wem gehört eigentlich Venedig

 

Wenn man es nach Venedig nicht deutlich weiter hat als nach Hamburg oder Berlin, dann spricht nichts dagegen, die Serenissima in den Rang einer „Heimatstadt“ zu erheben, einer Destination, die man häufiger besucht und an deren Leben man teilnimmt, auch wenn man nicht vor Ort ist. An- und Abreise sind einfach und billig: per Flug, Bahn oder Bus. Und was sich bis zum Ersten Weltkrieg nur Mitglieder des Adels oder gesellschaftlich anerkannte Dichter, wie Thomas Mann und Friedrich Nietzsche, oder Maler, wie William Turner und Claude Monet, leisten konnten, ist heute für Kreti und Pleti erschwinglich. Bei den Hotels muss man, dieser sozialen Kategorie zugehörend, etwas erfinderischer sein. Grand Hotels sind nicht erschwinglich. Doch wie in anderen Städten Italiens auch haben Asiaten nicht nur die Friseurstudios, die Buden an den historischen Brennpunkten und die bis in die Nacht geöffneten Mini-Superläden übernommen, sie drängen auch mit Billigangeboten in die Gastronomie und Hotellerie. So dass man sich besorgt fragen muss: Wo arbeiten eigentlich die Italiener? Wir hatten uns für unsere November-Visite in unserer „Heimatstadt“ – auch ein Monet sagte: „Man kann aus Venedig nicht abreisen, ohne sofort wiederkommen zu wollen“ – ein supernah an der Accademia gelegenes Haus ausgesucht: Die Casa Artè.
Es stellte sich heraus als ein kaltes Loch in der schönsten aller Städte. Auch im November, als tagsüber die Sonne strahlte. Aber nachts ging die Temperatur runter auf 5 Grad. Und da hätte man es gerne im Zimmer und Bett wärmer. Den Tod in Venedig braucht man nicht, selbst wenn man Thomas Mann für einen großen Schriftsteller hält. Also runter zur Rezeption und gefragt, ob man in dieses kalte Loch nicht etwas Wärme bekommen könnte. Ein freundlicher Asiate, dessen Englisch so schlecht wie sein Italienisch war, folgte dienstbeflissen ins eiskalte Zimmer, stellte dann fest, dass er den Heizkörper auch nicht zum Laufen bringen könne. Aber er würde mit dem Eigentümer reden. Nach einigen Minuten kam er mit dem Gesprächsergebnis zurück, dass das Zimmer über den Handtuchhalter geheizt würde. Am nächsten Morgen im Frühstücksraum: dunkel, kein Blick nach draußen, Funzellicht. Frage an eine freundlich aussehende Angestellte, tatsächlich Italienerin, die neben der Kaffeemaschine eine Spüle für das Geschirr derer betrieb, die das Frühstück schon hinter sich hatten. Ob man die Heizung nicht höher stellen könnte. Antwort, weniger freundlich: Die Heizung hätte einen nicht veränderbaren „orario“. Und jetzt wäre sie laut Plan abgestellt. Keine Art. Und weder casa noch Arte.

Foto oben: Wer rettet die Palazzi vor den Touristen? Lorenzo Quinns Skulptur „Support“.

Wer so mit dem rauschenden Weltgeschehen infiziert ist wie wir alle, kann nicht erwarten, dass er in eine Stadt wie Venedig kommt, ohne sich mit dem Zeitgeist konfrontiert zu sehen. Man muss sich nur dessen bewusst sein. Und man kommt nicht umhin, sich dieselben Fragen immer wieder zu stellen, auf die es schwerlich eine Antwort gibt (und vielleicht gerade deswegen immer wieder gestellt werden): Wie sind die Menschen, die wir sehen, sind sie anders als wir, oder denken wir nur, dass sie es sind? Und wie sind wir? Vielleicht genauso wie sie? Oder glauben wir, dass wir im Kokon Venedigs letztendlich alle einer Gleichschaltung unterliegen? Dabei möchten wir doch zurückhaltend sein, unauffällig, nicht den Touristen mit kurzer Hose und Selfiestick oder dicker Kamera heraushängen lassen. Und immer wieder tut man es doch, nur eben anders, für sich selbst nicht bemerkbar.

Doch das ist eines der Dilemmata: Die Ubiquität des Europäers, überall zu Hause sein zu wollen, setzt eine gewisse Ökonomie bei den Reiseausgaben voraus. Im Danieli und anderen First-Class-Häusern kann man dann nicht absteigen. Es hat sich daher ein No-Class-Angebot herausgebildet, das einen hohen Ranz- und Räudigkeitsfaktor hat, wie das Artè. Ähnlich strebt in Venedig das kulinarische Angebot auseinander, entweder sehr teuer mit Vorspeisen um die 20 Euro und secondi piatti um die 30, oder relativ billig aus der Fritteuse, wieder überwiegend beim Asiaten. Was bisweilen tatsächlich die bessere Wahl ist. Aber wie war das? Wollte man nicht „das wahre Venedig, la Serenissima vera“, erleben, ist man das seiner Wahlheimatstadt nicht schuldig?

Auch das kulturelle Venedig hat sich auf extrem unterschiedliche Gäste eingestellt. Wir kamen gerade zurecht zum Ende des „künstlerischen Wettstreits“ vieler Länder mit ihren Pavillions, die von der Biennale di Venezia gerne den Goldenen Löwen mit heim nehmen würden. Dies gelang Anne Imhof mit dem „besten Nationalen Pavillon“, dem deutschen. Zum Thema „Viva Arte Viva“ schauten wir uns den irakischen Beitrag und den surrealistisch anmutenden Versuch an, aus Panzern Anregungen für ein Bild zu gewinnen. Das Leben der Kunst gegen den Tod. Die ganze Kunstbiennale ist komplett abgehoben, zielt auf Mann und Monet und nicht auf Bus- und Kreuzfahrt-Reisende. Man muss sich nur Paola Baratta, den Präsidenten anhören: „Diese Biennale findet ihre Bestimmung gerade darin, die Existenz der Kunst und der Kunstschaffenden selbst zu feiern und ihnen sozusagen Dank abzustatten, die uns mit ihren Welten eine Aufweitung unseres Horizonts und unseres gesamten Daseinsraumes schenken. Eine Ausstellung, die sich am Humanismus inspiriert.“ Dabei fürchten die Venezianer eher eine Einengung des eigenen Horizonts als dessen „Aufweitung“. Nicht nur die Mafia – „Mafia No, Venezia è sacra“ schreit eine Banderole an der Rialtobrücke – Substanzschäden und Korruption gefährden die Stadt, die ein Jahr praktisch ohne Regierung dastand. Und von Touristen hat nicht nur der aktuelle Bürgermeister Luigi Brugnaro genug: „Wir sind voll.“ Als wir die Giudecca besuchten, schob sich gerade der massige Körper der Aida-Bella durch die Lagune an den gebrechlichen Häusern vorbei. Man kann den Mann verstehen. Lorenzo Quinns Skulptur „Support“ reckt, wie um den Bürgermeister zu unterstützen, verzweifelt die Hände aus dem Kanal. Oder sind es Hände der Gier, die nach den Palästen greifen?
Die Deutschen gelten als Inbegriff und Feindbild der touristischen Überwältigung. Wir waren zweimal im Konzert der Interpreti Veneziani in der Chiesa San Vidal. Die Ansprache, wie man sich bitte verhalten möge, erfolgte nicht auf Deutsch, dafür auf Russisch. Dabei sind die meisten ausländischen Besucher der Konzerte deutschsprachig. Sie wurden negiert. Da wäre sogar eine Ansage auf Chinesisch oder Japanisch sinnvoller gewesen, man möge bitte mit den Selfiesticks nicht die klassischen Instrumente beschädigen. Aber vielleicht hat man Russland als künftigen Markt im Auge. Dabei haben die Venezianer generell nichts gegen die Leute nördlich der Alpen. Derzeit läuft in der Accademia eine Ausstellung über die letzte „Gloria di Venezia“, und ebenso wie die Ausstellung „dell’ Settecento Veneziano“ im benachbarten Palast Ca Rezzonico erhalten die Habsburger, die ein geplündertes Venetien aus Napoleons Nachlass erhielten und es bis 1866 behielten, viel Lob auf (vielleicht bestellten) zeitgenössischen Bildern. Immerhin sorgten sie für die Rückgabe des Markuslöwen und der Quadriga. Und auch Einheimische, die uns beobachteten, wie wir unsere Eindrücke mit bunten Farben auf Zeichenblöcken festhielten, kamen auf uns zu, um sich freundlich zu unterhalten. Es geht vielleicht also doch nur um den Menschen, der seine „Heimatstadt“ liebt, und nicht um die Kurzbesucher, die mit den umweltschädlichen Ozeanriesen die Kulisse der Kanäle konsumieren, Sehenswürdigkeiten von einer Liste abhaken und nicht einmal Geld für die Übernachtung in der Stadt lassen – und wenn es das Arté wäre.
Entschieden sind uns die Einheimischen näher, bei ihnen wollen wir angekommen sein. Daher stören wir uns auch an den Asiaten, die einerseits alles übernehmen, Geschäfte, Buden, Hotels, die andererseits – für uns – empfindungslos die „Highlights“ als Kulisse für Selbstportraits entwerten. Vielleicht aber liegt hinter unserem Gestörtsein auch die Angst vor der eigenen Entfremdung. Suchen wir in Venedig etwas Ur-heimatliches, etwas Zeit-Loses, die in Materie – wenn auch gefährdeter – verfestigte Kultur von Nietzsche und Wagner, von Vivaldi und Canaletto. Was wir, wenn wir endlich vor Ort sind, als etwas erkennen, das letztendlich eben doch vor allem nur Kulisse ist und eben nicht nur Italienisch, europäisch, sondern der ganzen (fremden) Welt gehörend. Wir suchen das Außergewöhnliche und das Ur-heimatlich zugleich, müssen aber erkennen, dass die Masse genau dasselbe sucht wie wir. Genau darin besteht das schmerzhafte Paradoxon.
Alle wollen das Juwel. Und gerade darin droht seine Entwertung. Die einzige Chance ist, alles wertzuschätzen, auch, dass man eine Stadt – das Juwel, nicht für sich beanspruchen kann. Dass es Änderungen unterworfen ist. Man muss akzeptieren könnten, dass man in der Chiesa San Vidal Vivaldi hört und gerne im 18 Jahrhundert wäre und draußen die neonblauen Propeller von verspieltenen Nordafrikanern in die Luft geschossen werden und die Coperta, die zusätzlichen Abgaben für jeden Gast im Restaurant, sich gegenseitig überbieten. Das ist die Kultur im 21 Jahrhundert. Man muss die Stadt freigeben für die Zeit, das Weltgeschehen, auch für Asiaten. Dann erst hat man etwas begriffen vom wahren Venedig, von Venezia, der città vera. Wenn man glaubt, durch Gespräche mit den letzten Einheimischen, durch Anbiederung und Frontbildung vor der Gegenwart abtauchen zu können, geht man unter – mit Venedig.

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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