Taumeln zwischen Verf-Halle, Halle-zination und Halle-luja

Händel behält den Überblick

Ich gebe es zu, meine große Sorge bei der Wiedervereinigung galt der Möglichkeit, dass die Meridionalisierung, besser die Italienisierung der alten Bundesrepublik, die Umgestaltung zu Lebensfreude, Leichtigkeit, zu Pizza, Pasta und Cappuccino Schaden nehmen könnte. Unfug, wie so viele Sorgen Unfug sind. Ich weiß es heute besser. Und wie um das Unfughafte zu bestätigen, stellen dieses Jahr 2025 die Händel-Festspiele in Halle in Sachsen-Anhalt seinen Aufenthalt in Italien als für ihn „prägende Zeit in seinem Leben und Schaffen, die seinen späteren Ruhm begründete“, in den Mittelpunkt. Händel verbrachte etwa vier Jahre (1706-1710) in Italien und sammelte Erfahrungen, die ihn zu einem der bekanntesten Komponisten Europas machen sollten. Der Einfluss Italiens auf Deutschland ist deutlich älter als die alte Bundesrepublik.
In Florenz schuf Georg Friedrich Händel die Oper “Rodrigo” (1707) und das Oratorium “Messias”, in Venedig erlebte er die Uraufführung seiner Oper “Agrippina” (1709).

Händel in Italien

Auf diese Werke griff er ein Leben lang zurück. Er schuf selbst den Fundus, aus dem er schöpfte, oder anders gesagt: Kaum einer kopierte sich so meisterhaft wie Georg Friedrich. Nichtsdestoweniger ist unser Wissen über die italienischen Jahre Händels sehr lückenhaft. Es gibt eine umfassende Quelle: John Mainwarings Memoirs of the Life of the late George Frederic Handel (London 1760). Sie ist die Grundlage aller Rekonstruktionsversuche, zugleich ist ein nicht geringer Teil von Mainwarings Angaben dünn und wird durch andere Quellen widerlegt. Tatsächlich lohnt sich eine tieferschürfende Suche, denn im 18. und 19. Jahrhundert gehörte es in den besseren, das waren damals die adligen, Kreise dazu, sich auf Reisen über die Alpen den nötigen kulturellen und gesellschaftlichen Schliff zu holen. Es soll aber nicht zu Goethe abgewichen, sondern Prinz Anton Ulrich von Sachsen-Meiningen zu Rate gezogen werden, dessen Tagebuch heute im Thürinigischen Staatsarchiv Meiningen verwahrt wird.
1707 begegnete der Prinz Händel mehrfach in Rom und hat diese Begegnungen in seinem Diarium festgehalten. Dazu gehören einerseits die italienischsprachige Forschung zur Musikpraxis in den italienischen Musikzentren kurz nach 1700, zur italienischen Institutionsgeschichte, Literaturgeschichte oder auch Biographik, andererseits Methoden, Thesen und Ergebnisse der historischen Nachbardisziplinen, und hier vor allem der neueren Reiseforschung und der Forschung zur Repräsentationskultur und Patronage des frühen 18. Jahrhunderts in Italien und Deutschland.
An dieser Stelle interessant ist die Feststellung, dass Halle, dass die neuen Bundesländer uns von der geliebten Italienisierung nichts wegnehmen. Im Gegenteil. Und die Italienisierung der alten Bundesrepublik war selbst ein Mythos, mit dem sich eine Nachkriegs-Bundesrepublik von den Schatten der Vergangenheit befreien wollte.

Agrippina in der Oper Halle

Ein halbes Jahrhundert lang waren die Italiener der Inbegriff des Gastarbeiters, obwohl sie niemals nur diese eine Funktion ausgefüllt haben. Heute zählt nur noch eine Minderheit von ihnen dazu. Mehr als die Hälfte dieser Gruppe ist wieder in die Heimat zurückgekehrt. Längst kommen ganz andere Gruppen zu uns: Wissenschaftler, Künstler, Unternehmer, vor allem aber, und zwar seit jeher, die kleinen Selbständigen, Gastwirte und Kaufleute, die den Italienbezug als Wettbewerbsvorteil nutzen, weil wir Deutsche ihr Angebot mit “dolce vita” und “dolce far niente” verbinden. Aber nicht alle Italiener kamen freiwillig: hunderttausende wurden während des Krieges nach Deutschland gezwungen, waren Gefangene und Zwangsarbeiter. Entschädigt wurden sie nicht
Und heute stellen die Händel-Festspiele diesen Italien-Bezug des Altmeisters in den Mittepunkt. Gut gemacht. Halle spricht italienisch, jedenfalls dort, wo seine Opern aufgeführt werden.
Halle, die Stadt mit den fünf Türmen, mit den alten Chemiewerken und den alten Vorurteilen. Für viele ist Halle einer jener Orte, die man mit dem sperrigen Begriff „Dunkeldeutschland“ abstempelt: wegen Wahlergebnissen, verfallener Altbauten oder schlicht aus Ignoranz. Dabei ist Halle nicht finster, wie es der Begriff suggeriert. Und ein alter Hallenser mit Perücke und italienischer Eleganz könnte Licht und Wissen in so manches Hirn bringen, nicht nur wenn er gefeiert wird.

Clori, Tirsi e Fileno in Bad Lauchstädt

Georg Friedrich Händel, geboren 1685 in Halle, ist das größte, kulturelle Pfund, mit dem die Stadt wuchern kann. Auch wenn seine Musik, seine Opern, seine Oratorien erst im Ausland ihre Magie entfalten konnten. Händel wurde in London berühmt, zum Komponisten von Welt wurde er in Italien. In Rom, Florenz, Neapel sog er den Glanz barocker Sinnlichkeit auf, lernte musikalisches Raffinement und den süßen Klang des Belcanto. Seine Werke sprechen italienisch. Doch seine Vaterstadt pflegt seine Werke.
Es gibt in Halle auch anderes als einen rechten, direkt gewählten Bundestagsabgeordneten, rechte Parolen und einen traumatischen Anschlag auf die Synagoge. Halle hat eine Arbeitslosen-Quote von mehr als 10 Prozent, hinzukommen weitere 10 Prozent, die „unterbeschäftigt“ sind. Bei einer Einwohnerzahl von 227 000 gibt es 32 400 Langzeitarbeitslose, die Stadt ist praktisch pleite, der parteilose OB Alexander Vogt hat eine Haushaltssperre verfügt. Teile der Altstadt rund um die Große- Ulrich-Straße haben sich den sozialen Verhältnissen angepasst. Mit Billig-Läden, Second-Hand-Shops und einer Gestronomie, die arabisch, türkisch oder indisch kocht, aber zu einer Hälfte des Preises, den ein Italiener nehmen würde. Diese, wie ein Wirt am Markt bestätigte, überlegen sich zu gehen, Händel hin oder her.

Das Zukunftszentrum kommt nach Halle

Es gibt aber auch eine stolze Martin-Luther- Universität, es gibt viel Kultur und bürgerschaftliches Engagement. Und es gibt seit Neuestem, im Salinemuseum wurde es vorgestellt, ein “Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation”. „Diskurs und Wissensvermittlung“ sollen im Mittelpunkt stehen, eine Entwurf für das zu errichtende Gebäude wurde ausgewählt, Jobs wurden ausgeschrieben. Man reibt sich die Augen, ist das eine Halle-zination oder ein Halle-luja? Die Stadt hat einen bewundernswerten Lebenswillen, der nur aus ihrer Hingabe an die Kultur zu verstehen ist. Und dann gibt es noch diesen Händel. Er steht bis heute für eine Stadt, die protestantische Aufklärung atmete, die musikalische Genies hervorbrachte und deren Blick weit über die Saale hinausging – bis nach Venedig, Neapel und Rom.

Händels Italienbezug taugt natürlich nicht als Persilschein für die Gegenwart. Aber er erinnert daran, dass kulturelle Größe nicht immer dort wächst, wo die wirtschaftliche Sonne am hellsten scheint. Vielleicht liegt die eigentliche Dunkelheit nicht im Osten, sondern in der Unfähigkeit, die feinen Töne zu hören. In Halle aber, wenn man genau hinhört, klingt Händels Musik noch immer – leise, aber hell.

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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