Tallinn, wenn die Vergangenheit mit der Zukunft skypt

Gibt es eine Beziehung zwischen der Art und Weise, wie man in einer Stadt anreist und der Zuneigung, die man zu dieser Stadt spontan empfindet? Es ist anzunehmen. Ob man sich durch einen Verkehrsstau und missmutige Zeitgenossen zu seinem Hotel quält, oder ob man mit dem Fährschiff auf gleicher Höhe mit den Kirchtürmen langsam an die Pier heran geschoben wird und so von Beginn des Besuchs einen Überblick hat, das macht schon einen Unterschied im Gemüt. In Tallinn, der Hauptstadt des baltischen Estland, bietet sich uns nach der stimmungsvollen Einfahrt in den Hafen eine Einteilung für die Besichtigung an. Da ist die Oberstadt mit dem Dom St. Marien, dem Parlament, den Botschaften, der Burg Toompea Castle, und einem weiten Blick über die Unterstadt. Diese, auch Altstadt genannt, Weltkulturerbe der UNESCO, bietet dann mit ihren Gassen, dem Markt, den Kirchen, darunter die Pühaviamu Kirik, die Heiliggeistkirche, unzähligen Bars und Restaurants und einer der ältesten Apotheke Europas ein Kaleidoskop an Sehenswürdigkeiten. Hier ist, zudem bei sonnigem Wetter, Betrieb wie in einer italienischen Stadt im Sommer, die unzähligen Souvenirläden, das primäre Ziel der Kreuzfahrer, tragen das Ihre dazu bei. Blickt man von der Bar im obersten Stockwerk des Radisson-Hotels Richtung Ostsee, sieht man gen Nordwesten das Viertel Kalamaja, in dem sich Architekten an urbanen Versuchen austoben, nicht ohne Erfolg, Ruinen, in den früher Fische verarbeitet wurden, in attraktive Quartiere umzuwandeln. Ein paar Straßenzüge weiter unterhalb des Toompea Castle, gut mit der Straßenbahn zu erreichen, die Telliskivi Creative City. Ja, mit dem Mischmasch aus Estnisch, einer finno-ugrischen Sprache, und Englisch muss man sich erst anfreunden. Hier verwandeln Künstler lange Mauern aus überwundener Zeit in Kaleidoskope der Street Art, innovative Existenzgründer beleben ehemalige Brachen, ein Ginhersteller hat mit Junimperium eine Firma etabliert, deren Mischung aus Gin und Grapefruitlimonade durchaus mit einem Bier konkurrieren kann..

Foto ganz oben: Blick über Tallinn

Tallinn ist eine Komposition aus mittelalterlicher, Hanse-, russischer-Holzhaus- und gläserner Neuzeitstadt. Dabei jung, faszinierend, und ihre 430 000 Menschen verströmen Ausgelassenheit und Freundlichkeit. Kein anderes europäisches Land hat so begeistert das digitale Zeitalter begrüßt wie Estland. E-Estonia ist ein Markenzeichen geworden. Skype wurde hier entwickelt, und bei den letzten Parlamentswahlen 2015 machten rund 31 Prozent aller Wähler von ihrem Online-Wahlrecht Gebrauch. Hängen die Esten nicht an ihren Handys, singen, malen und feiern sie gerne. Dass in dieser Stadt, die bis 1918 Reval hieß, viele deutsche Wurzeln stecken, findet man vor allem in Namen und Bezeichnungen, einen Überblick bietet das „Vabamu Museum der Besatzungen und Freiheit“.
Wer über diesen Eindruck hinaus einen Blick auf die durchaus problematische Gegenwart werfen will, der fahre mit dem Bus in die Wohngegend der russischsprachigen Minderheit, die von der Sowjetunion im Versuch, dem Land das Herz zu rauben, hierher und in Plattenbauten untergebracht wurden. Der Bus fährt nach Laagna – auf einer Autobahn, die Tallinn fest an Leningrad anbinden sollte, aber nicht weitergebaut wurde. Für den Mittelstreifen war eine Straßenbahntrasse geplant, auf welche die Bewohner noch warten. In Estland sind knapp 28 Prozent der 1,3 Millionen Einwohner russischsprachig, in Laagna wohnen etwa 25 000 Menschen. Estnisch hört man hier nicht, auch nicht aus dem Fernseher in den Kneipen. Ein Riesenproblem, das ungelöst bleibt, solange die Russen als „Nichtbürger“ benachteiligt werden. Aber das Misstrauen sitzt tief, zumal Russland eine „aggressive Geopolitik“ verfolgt, wie Lettlands Präsident Raimonds Vejonis unlängst sagte. Dieser Vorwurf betrifft auch die Grenzziehung. Zwei Städte und ihr Umland hat sich die Sowjetunion 1944 herausgerissen, Petseri und Jaanilinn. Estnische Ansprüche weist Russland zurück. Diese gründen sich darauf, dass 1920 im Friedensvertrag von Dorpat anerkannt wurde, dass das unabhängig gewordene Estland diese beiden Gebiete behalten dürfe.
Dieses Thema beschäftigt indes mehr diejenigen, die sich damit befassen und damit Stimmung machen, als das wirkliche Geschehen. Das ist, soweit politisch, in diesen Tagen darauf fixiert, die vor 30 Jahren gewonnene und durch Mitgliedschaft in EU und NATO gesicherte Freiheit zu feiern und – natürlich zu besingen. Am 25. August 1989 bildete sich eine 600 Kilometer lange Menschenkette durch die drei baltischen Staaten, von Tallinn nach Vilnius in Litauen. „Baltic Way“ wurde diese Demonstration des Willens zur Unabhängigkeit genannt. Dazu gab es ein von Boriss Rezniks komponiertes Lied, das auf Estnisch Argake Baltimaad, „die Balten wachen auf“, hieß und bald zur inoffiziellen Hymne des Baltikums wurde. Nun, nach 30 Jahren, gibt es ein neues Stück, geschrieben von Reinis Sējāns. Die Idee ist, dass jede Generation mit ihrer eigenen Komposition die Erinnerung an den „Baltic Way“ am Leben hält.
So ist, beim Verlassen Tallinns, die Erinnerung an diese Stadt zugleich eine demütige Verbeugung vor ihrem Umgang mit der eigenen, oft leidvollen Geschichte und dem zukunftsfrohen Umgang mit modernen Technologien und Lebens-Konzepten. Dem entspricht, dass wir nicht mit einer stolzen Fähre uns davon machen, sondern mit einem Bus gen Riga. Den baltischen Weg als Bahnverbindung gibt es leider nicht, ist aber in Planung.

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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