Wenn 826 Weine von 425 österreichischen Winzern und 31 Weine von 20 Winzern der angrenzenden Länder innerhalb einer Woche während einer Weinverkostung durch die Kehle rinnen, sind die Geschmacksknospen gefordert.
Würzig und komplex läuft der Grüne Veltliner von Filip Mlynek aus Tschechien über die Zunge. Die tschechischen Arte Vini Rieslinge und der Sauvignon Blanc kommen erfrischend vollmundig daher. Nachdem die verschiedenen Weine vom Gaumen hin und her geschaukelt und über die Zunge gerollt sind, heißt es ausspucken. Dafür hat jeder einzelne Verkoster seinen Spucknapf neben sich stehen. Die meisten Weine würde man am liebsten durch die Kehle rinnen lassen, aber der Tag des Verkostens hat gerade erst begonnen und es folgen noch viele gute Tropfen aus Wien und Niederösterreich, dem Burgenland und der Steiermark und den Terroir-Schnittstellen zwischen Österreich, Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien.
Schnitt durch exzellentes Terroir
Weinverkostungen gemeinsam mit den Winzern der österreichischen Nachbarländer waren lange Zeit undenkbar. Das Ende des Ersten Weltkriegs hatte bereits tiefgreifende Folgen für die Weingärten an Österreichs Grenzen eingeläutet. „Durch Staatsgrenzen, die es bis 1918 nicht gab, wurden exzellente Terroirs entzweigeschnitten“, erklärt Willi Klinger, ehemaliger Geschäftsführer der Österreich Wein Marketing (ÖVM). Verschärft habe sich die Lage in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. „Nachdem der Fall des Eisernen Vorhangs dem Kalten Krieg 1989 ein Ende gesetzt hatte, sind sich die grenzübergreifenden Weinbauern allmählich wieder näher gekommen“, so der Experte österreichischer Weine.
Mehr als hundert Jahre nach den Pariser Vorort-Friedensschlüssen 1919, die einen Schlussstrich unter die multinationale Habsburger Monarchie gezogen und die Republik Österreich eingeläutet hatten, können sich die Winzer der Grenzweingärten in Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Slowenien wieder mit ihren österreichischen Nachbarn austauschen und gemeinsam verschiedene Sorten kreieren. Vom „Dreiländerblick“ im Grenzort Schrattenberg im Weinviertel, der Brücke von Andau am Neusiedlersee, oder der „Weinblick Aussichtsplattform“ bei Eisenberg bis zum Grenztisch in der Südsteiermark bekommt man einen Eindruck der weiten Rebenflächen, durch die für lange Zeit eine Grenze verlief.
Der kleine Grenzverkehr der Weinbauern
Durch den nordöstlichen Teil des Weinviertels in Niederösterreich etwa zog sich die Grenze zwischen Österreich, Tschechien und der Slowakei. Einige Gemeinden waren unmittelbar davon betroffen, darunter auch der Winzerort Poysdorf. In Schrattenberg erinnert der Aussichtsturm „Dreiländerblick“ an die bewegte Geschichte der Habsburger Monarchie. Während der Zwischenkriegszeit hatte der kleine Grenzverkehr im angrenzenden Südmähren bestens funktioniert bis der Eiserne Vorhang nach dem Zweiten Weltkrieg eine undurchdringbare Grenzlinie nach sich zog. In der Abgeschiedenheit der Grenzregionen hielt es niemanden, wenn sich anderswo eine Chance bot. Das Wein- und Waldviertel war schon fast in einen Dornröschenschlaf versunken, als der Eiserne Vorhang vor 35 Jahren fiel und zwischen Wien und Brünn wieder Leben einkehrte. So auch bei den Weinbauern diesseits und jenseits der Grenze, die nunmehr an ihre historischen Gemeinsamkeiten anknüpfen konnten
Spitzenlagen im edlen Schloss
Das pompöse Schloss Hof, einst Anwesen von Prinz Eugen von Savoyen, der im Dienst der Habsburger zum „edlen Ritter“ aufgestiegen war, hatte im Kalten Krieg all seinen Glanz verloren. Nachdem die Grenze gefallen war, wurde das ergraute Gemäuer zur edlen Event-Location herausgeputzt. In diesem vornehmen Ambiente präsentierte die österreichische Winzerin Christine Artner-Netzl nebst ihrem Kollegen Philipp Grassl und dem tschechischen Sommelier Rastislav Sutok ihre grenzübergreifenden Spitzenlagen. Unter allen Rebsorten dominiert der Grüne Veltliner, der hier im Weinviertel seinen typischen Charakter von würzig bis scharf pfeffrig entfaltet.
Vom Weinblick aus über den Weingärten schweben
Im burgenländischen Seewinkel, wo Österreich an Ungarn grenzt, setzte der Volksaufstand von 1956 dem kleinen Grenzverkehr endgültig ein Ende. Über die Brücke von Andau hatten die Weinbauern bis dahin ihre Weingärten jenseits der Grenze erreicht und bewirtschaftet. Doch nachdem über 70.000 Ungarn die schmale Holzbrücke als Fluchtweg genutzt hatten, sprengten ungarische Soldaten kurzerhand den Übergang über den Einser-Kanal. Damit war der kleine Verbindungsweg endgültig abgeschnitten. Erst als österreichische und ungarische Soldaten 40 Jahre später eine neue Brücke gebaut und eingeweiht hatten, rückten die Weinbauern mit ihren grenzübergreifenden Weingärten um den Neusiedlersee wieder zusammen, um gemeinsam ihre Rot-, Weiß- und Süßweine zu produzieren.
Mit der modernen Aussichtsplattform „Weinblick“ wollen die Einwohner der südöstlichen Burgenlandgemeinde Deutsch-Schützen am Eisenberg ihre Besucher auf das Pinkatal aufmerksam machen. Über den schier endlosen „Naturpark Weinidylle“ reicht der Blick bis weit nach Ungarn. „Von hier aus ist es, als würde man über den Weingärten schweben“, sagt Weinexperte Christian Zechmeister, Direktor von „Wein Burgenland“. Im Weingut Schaftlerhof in Deutschkreuz präsentiert Weinbauer Franz Weninger verschiedene Lagen seines Blaufränkisch, darunter „Alte Reben“, strukturbetonte und tanninärmere Lagen aus dem ungarischen Sopron und runde, frische und fruchtbetonte Gewächse von österreichischen Rieden.
Im südlichen Grenzgebiet des Burgenlands verschafft der Kalkboden der Leithaberge dem Sauvignon Blanc seine besondere Note. Das pannonische Klima am Neusiedlersee bietet zudem beste Bedingungen für die Burgenland Beerenauslese und den Furmint.
Trutzburg im steirischen Vulkanland
Das südsteirische Vulkanland grenzt bei Radkersburg, einst österreichisch-ungarisches Garnisonstädtchen, an Slowenien. Eingeengt von der ungarischen Grenze nach Osten und der slowenischen im Süden erlitt die Kleinstadt nicht nur wirtschaftliche Folgen. Auch Familien riss die unvermittelte Teilung der Steiermark auseinander. Die Mur wurde zum Grenzfluss ernannt und das Gebiet südlich des Flusses dem jugoslawischen Slowenien zugeteilt. Nicht selten herrschte damit auch innerhalb mancher Familie Kalter Krieg.
Schon Jahrhunderte vor den beiden Weltkriegen war das von weitläufigen Rebhügeln umgebene Schloss Kapfenstein hart umkämpft. Hunnen, Türken und ungarische Rebellen hatten immer wieder versucht, die Trutzburg im fruchtbaren Vulkanland der Steiermark zu erobern. Vor gut hundert Jahren ließ sich die Winzerfamilie Winkler von Heumaden in dem historischen Gemäuer nieder. Das weiträumige Restaurant nebst sommerlichem Gastgarten ist ein weithin beliebtes Ausflugsziel. Hier kann man auch die Weine der sonnenverwöhnten Lagen genießen, deren Qualität für die Familie oberste Priorität hat. Ob Sauvignon Blanc, Grauburgunder, Chardonnay oder Gelber Muskateller, es wäre zu schade, all die guten Tropfen in den Spucknapf zu befördern. So rinnt das ein oder andere Gläschen genüsslich durch die Kehle während der Blick über die malerischen Weinberge hinunter auf das südsteirische Weingebiet fällt. Wer noch ein bisschen bleiben möchte, kann sich in einem der behutsam restaurierten Zimmer einmieten.
Text und Bilder: Renate Wolf-Götz
Informationen
Mit dem Titel „Wein in Österreich – die Geschichte“ haben Willi Klinger und Karl Vocelka als wissenschaftlicher Leiter ein umfassendes Standardwerk zur Weinbaugeschichte Österreichs von Beginn bis zur Gegenwart herausgegeben. Dabei sind der Entwicklung der Gebiete an den Staatsgrenzen nach 1919 und dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 sowie der Person Friedrich Zweigelt, der sich nicht nur in der Bundeslehranstalt für Weinbau in Kloster Neuburg einen Namen gemacht hat, sondern auch Zeit seines Lebens ein bekennender Nazi war, umfangreiche Kapitel gewidmet.
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