Wir sind in Cursi. „Cursi? Ma scusi! Entschuldigen Sie, was ist das? Ich kenne den Salento, den südlichen Teil Apuliens, gelegen zwischen der Adria und dem Ionischen Meer. Aber Cursi? Nie gehört.“ Doch, Cursi gibt es, es ist eine kleine Stadt unweit von Maglie, in der Nähe von Lecce. Keiner kennt es, aber es war die erste Station des 70. „educational“, wie Carmen Mancarella, Chefin der Zeitschrift Spiagge, Autorin des Buches „il Salento a due Voci“ und unermüdliche Promotorin des Salento ihre Touren nennt, um Journalisten zu informieren, zu „erziehen“ eben.

Carmen Mancarella und ihre Lektionen
Und Cursi kann einige Lektionen bieten. Etwa in Griko, einem italienisierten Griechisch, entstanden als Süditalien noch Teil der Magna Graeca war und aufgefrischt durch Flüchtlinge aus dem Jahrhunderte lang osmanischen Griechenland. Griko wird in acht bis neun Ortschaften Apuliens gesprochen. Heute sind die Griechen Apuliens als Minderheit anerkannt. Es ist eine kleine wenige tausend Menschen zählende Gemeinschaft.
Eine weitere Unterrichtung betrifft den Stein, den hellen Pietra Leccese, mit dem nicht nur hier in Cursi die Häuser, Kirchen und Paläste wie der Palazzo del Dono gebaut wurden, sondern Bauwerke in der ganzen Welt seit den Zeiten des Barock.
Der lernbereite Reisende mag sich die Ausstellungs- und Werkräume der Firma Pimar, die Casa di Pietra und die alten Cave anschauen, wo dem Boden das wertvolle und leicht zu bearbeitende Gestein entnommen wurde.
Der Salento, ein leuchtender Diamant
Es ist, wie es ist, der Salento ist wie ein Diamant mit vielen Seiten. Ob man ihn von Cursi aus betrachtet, von Cavallino, Maglie oder Galatina aus. Er leuchtet. Lecce ist im Moment leider nur bedingt zu empfehlen, die römische Altstadt gleiche eine „Latrina“ empörte sich zu Recht der „Nuovo Quotidiano di Puglia“. Ansonsten ist man überall ist fasziniert von dem Land, den Städten und den Menschen. Der Doyen der Italien-Reiseführer, Eckart Peterich, hat nicht Recht mit der Behauptung, die Bewohner Apuliens seien unfreundlich. Ich folge Elisa Mele, der Vize-Bürgermeisterin von Cursi: Das Auffallende an den Salentinern sei, dass keiner übersehen wird, sagt sie. In Kommunen, die fast alle weniger als 10 000 Einwohner haben, habe jeder eine Bedeutung, viele sogar mehrere. Wer Funktionsträger sei, kann auch eine Masseria leiten oder eine Wohnung vermieten. Carmen Mancarella hat auch mehrere Funktionen und hat uns viele Menschen vorgestellt, denen es genauso geht und die gerne den Kontakt zu uns (und ihr) suchten.
Was will man hier?
Man sollte sich nur vor Antritt der Reise überlegen, was man hier will: Wer nur baden und sich sonnen will. Das Meer ist überall nicht weit, hat Sandstrände am Ionischen und faszinierende Buchten am adriatischen Meer, wir etwa Roca, Torre Sant` Andrea, Torre dell` Orso oder die berühmte Grotta della Poesia. Wer Geschichte lernen will, der findet Dolmen und Menhire aus der Steinzeit an vielen Stellen in der Landschaft. Der besuche Roca Vecchia, das auch an der Küste liegt und tauche ein in die immer noch geheimnisumwobene Geschichte der Messapier, die vor den Griechen ins Land kamen, und auf die sich noch heute mehrere Gemeinden beziehen. Nach Herodot stammten die Messapier von den Kretern ab. Diese seien auf der Rückfahrt von einem letztlich erfolglosen Feldzug gegen die Sikaner auf Sizilien, wo einige Jahre zuvor ihr mythischer König Minos den Tod fand, durch einen Sturm an die Küste Japygiens (Salentos) verschlagen worden, wo sie blieben und die Stadt Hyria gegründeten. Neu ist die Annahme, dass sie nicht aus Kreta sondern aus Illyrien stammten, bewiesen ist das nicht. Wer mehr über ihr Leben erfahren will, der besuche in Cavallino das Museo Diffuso e Laboratorio Ecomuseale. Ja – und dann kamen die Römer, die Normannen, die Staufer, Schwaben und Bourbonen. Und da viele Völker hier schon heimisch waren, entstand eine Vielfalt an Kulturen, die einzigartig ist.
Was hier die Menschen verbindet
Was sie verband war das Leben mit den Oliven, deren Öl einst Europa Städten, selbst London, Licht gab, dem Wein, dem Meer und natürlich dem Stein. Hinzu kamen das Getreide, wie der berühmte Hartweizen, das Gemüse, Obst. Man war wohlhabend, trieb Handel mit der Welt, und während der Norden Apuliens in den 1950er Jahren von Auswanderung geplagt wurde, ging es dem Salento vergleichsweise gut, der Tourismus brachte dann neues Leben in die alten Gassen und in die Masserien, die landwirtschaftlichen Güter. Heute sind sie bevorzugte Aufenthaltsorte der Gäste, die nicht am Strand oder in einer der großen Städte wohnen wollen. Sie bieten allen Komfort, hervorragendes Essen, Pools und Wellness und die Freundlichkeit ihrer Betreiber.

Die Welt der Masserien
Wir haben einige Masserien besucht, wie die Tenuta Masseria Chicco Rizzo in Sternatia, zwischen Lecce und Maglie gelegen, mit 16 sehr schönen Zimmern, einem Pool und einem Restaurant im Freien, die Masseria Paralupi bei Lecce oder das Willaria Country House bei Cursi. Die Masserien können alle über Internet gebucht werden, das Problem ist die Suche, wenn man den Namen nicht hat. Trotz Navi kommt man um den Erwerb einer Karte nicht herum. Auch die Unterkünfte in den Ortschaften sind buchenswert, etwa das BB di Charme Trapetum Domus House in Cursi, das B&B Casa Feremi in Cavallino oder das Corte dei Granai in der Altstadt von Maglie. Erlebenswert auch die Küche, das Mittagessen des Steinbrucharbeiters die pucce salentine, gefüllt mit gegrilltem Gemüse und gewürzt mit kalt gepresstem Olivenöl in der Pizzeria Conacana, nur einen Steinwurf von der Chiesa Madre in Cursi entfernt, abends Pizzen aus dem Steinofen mit Olivenholz oder rustici leccesi und mit Mozzarella und Tomaten gefüllte calzones. Feinste violette Garnelen aus Gallipoli, Schwertfisch-Carpaccio, direkt in Andria gekaufte Burratine und Capocollo gab es im Ristorante Rubino a Gallipoli, wo uns die Chefin Silvia Ferrari durch ein Menü der Poesie begleitete. Als Liebhaber der traditionellen salentinischen Küche aus vergangenen Zeiten ist die Osteria La Remesa in Cavallino auf Großmutters Rezepte spezialisiert: Saubohnen und Chicorée, Orecchiette mit Rübengrün, Sagne ncannulate mit Ricotta forte (hausgemachte Spiralnudeln aus Hartweizengrieß), Turcinieddhi (gebratene Lamminnereien) und zum Abschluss Törtchen und hausgemachte Fenchel- oder Myrtenbitter. In Galatina kommt man natürlich an dem Gebäck aus Schokolade und Mandeln, den pasticciotti, in der Prosit Bar nicht vorbei. Der Clou sind Pralinen aus Mandelpaste und Eiscreme, erfunden von Fabio Grecuccio, der Kurse in Weißer Kunst” absolvierte, um mit Cremes, Mandeln, Mehl und Schokolade zu experimentieren. In der Eros Bar probierten wir den Africano probieren, das typische Dessert von Galatina, das mit Eigelb und Zucker zubereitet und im Ofen gebacken wird. In Cursi durften wir uns daran versuchen, selbst Nudeln zu drehen, ein Spektakel für Touristen. Mir gelang es nicht.
Jeder suche und finde, jeder erlebe seine Seite des Diamanten. Meine Bewunderung, sorry Herr Peterich, gilt den Salentinern, auch wenn ich ihre Gläubigkeit und ihre tiefe Verbundenheit mit den Mythen der Madonnen nicht verstehe. Dies wenigstens versuchsweise zu lernen war ebenfalls Teil der „educational“.
Kirchen, Heilige und ihre Sagen
Das bringt uns zu vielen Kirchen, ihren Heiligen und ihren Sagen, etwa der Basilica di Santa Caterina d`Alessandria in Galatina, zur Madonna del Abbondanza, die ihre Kirche auf dem Land außerhalb von Cursi hat. Einst, so geht die Sage, herrschte Trockenheit im Land, und in seiner Not verließ ein Bauer seine Gemeinde und suchte in den Feldern nach einer Wasserstelle. Die Madonna erschien ihm und versprach ihm Hilfe, wenn er die Bewohner zu ihr führen würde. Was er tat, sie waren gerettet – und mehr noch, die Frauen, die mit einem Kleidungsstück die Madonna berührten und dann sich, konnten plötzlich ihre Kinder stillen, in abbondanza, im Überfluss. So erzählte uns ein Pfarrer die Geschichte.
In Cavallino wirkt die Madonna del Monte, wir waren auf ihrer Prozession, und das ganze Städtchen war auch da. Die Geschichte geht so: Ein Bauer hütete sein Vieh, als ein Ochse plötzlich ein Madonnenbild aus byzantinischer Zeit aus der Erde zog. Die fromme Gemeinde wollte an der Stelle des Funds eine Kapelle bauen, aber was sie des Tags errichtete, fiel des Nachts wieder zusammen. Ein Mädchen rettete die Situation. Ihr hatte die Heilige anvertraut, die Kapelle müsse auf einer Anhöhe errichtet werden, damit sie von der Straße nach Lecce aus einsichtbar wäre. Und so geschah es. Donna Beatrice Acquaviva D’Aragona, Frau des Marchese Francesco Castromediano, ließ dann an dieser Stelle 1629 eine neue Kapelle aus Stein bauen.
Heute hat jeder Ort im Salento seinen Heiligen und sie verehren ihn mir den „feste patronali“. Dazu wird der oder die Heilige auf Schultern durch den Ort getragen, es spielen Kapellen, die Bürger beten. Feuerwerke krachen.
Nur um wenige Beispiele zu nennen: In Calimera am 21. Juni, in Gallipoli vom 23. bis zum 25. Juli, in Castro am 12 August, und in Otranto vom 13. bis zum 15. August, zur Erinnerung an die 800 Märtyrer, die 1480 während der Belagerung durch die Türken ums Leben kamen.

Der Biss der Tarantel
Zu lernen ist auch, dass manchmal sich Frömmigkeit, Frauenfeindlichkeit und Psychiatrie auf gefährliche Weise verbinden. Beschönigend nennt man es „Tanzwut“. Frauen mit langen Röcken und flatternden Tüchern tanzen mit nackten Füßen zu den schnellen Schlägen des Tamburins. Es ist der Volkstanz pizzica. Historisch wird er damit erklärt, dass Ende des 14. Jahrhunderts der Biss der Tarantel mithilfe einer herbeigetanzten Trance kuriert werden sollte. Da aber nur Frauen davon befallen wurden, diese Spinnenart nur selten beißt und ihr Gift für den Menschen unbedenklich ist, dürfte die Wahrheit woanders zu suchen sein. Der Volksglaube an die Austreibung der Spinnenbesessenheit durch ekstatisches Tanzen hat sich bis weit ins 20. Jahrhundert gehalten. In der Kapelle des heiligen Paolo in Galatina sind Bilder aus dem Jahre 1970 von Frauen zu sehen, die auf dem Boden liegen und ein Mitarbeiter erzählt , dass das Trinken heiligen Weihwassers aus dem Brunnen in der benachbarten Chiesa dei Santi Pietro e Paolo das Spinnengift aus dem Körper der tarantati, der Infizierten, vertreibe. Das magische Tanzritual konnte mehrere Tage andauern und endete meist mit dem körperlichen Zusammenbruch. Es gibt heute auch eine Umdeutung, die in der pizzica einen Aufstand gegen die patriarchale Unterdrückung der damaligen Zeit sieht. Ab dem 17. Jahrhundert wurden aus dem ganzen Salento Wallfahrten nach Galatina unternommen. Der Vorplatz der Kirche wurde zur Bühne für die krampfartigen Zuckungen der Besessenen. Auch für den heiligen Paolo gibt es einen Umzugstag, den 29. Juni. Der Kult von San Paolo di Galatina baut auf der These auf, dass er selbst folgenlos gebissen worden sei, und auf uraltem „Wissen“ über die therapeutische Kraft von Ritus, Musik und ekstatischer Bewegung, was von der modernen Medizin pathologisiert worden sei. Die pizzica war demnach nicht nur Heilung, sondern auch ein Ventil für psychische Spannungen, für unterdrückte Wünsche und soziale Zwänge. San Paolo wurde und wird als Beschützer inszeniert. Während die Kirche sonst ekstatische Frauen verfolgte und bestenfalls in Klöster verbannte, erlaubte sie in Galatina ein begrenztes Ventil, das jedoch immer in einen sakralen Rahmen eingebettet blieb. Dabei sei der Kult ein zutiefst subversiver, ja widerständiger Akt weiblicher Selbstermächtigung gewesen. Die moderne Medizin entlarvte den Tarantismus als „Aberglaube“, die betroffenen Frauen seien psychisch krank gewesen – meist ohne Heilung, trotz Musik, trotz Tanz. Ernesto de Martino deutete den Tarantismus dann neu als kulturelle Form der Bewältigung von Leid, Trauma und Repression, als Ressource für eine humanere Psychotherapie.
Wir durften bei der Vorstellung eines Buchs dabei sein, das unbewusst an Tarantismus erinnerte. Der Autor Maria de Giovanni erläuterte in „Sulle orme della sclerosi multipla, la pienezza della vita“ (auf den Spuren der Multiplen Sklerose, die Fülle des Lebens), dass die Multiple Sklerose eher ein mentales als medizinisches Problem sei.
Was lernten wir auf der 70. Educational? Die Tarantel ist immer noch unter uns und beißt.