Rom, die Pietà della Mente

Weit weg, außerhalb, jenseits des Tiber. Psychisch Kranke wollte man in Rom nicht in seiner Nachbarschaft haben. Hinter dem Berg, hinter dem Monte Mario, da waren sie gut aufgehoben. Und wenn jemand „zum Monte Mario gehörte“, dass er sich gefälligst dorthin begeben möge, dann wusste man, dass er, ja was denn nun? Naja, dass er ausgesondert gehörte. Oder so ähnlich.

Den Monte Mario gibt es noch heute, auf der westlichen Seite des Tibers, auf der auch der Vatikan liegt, aber er ist immer noch weit weg. Mit dem Auto benötigt man vom Kolosseum aus bestimmt 40 Minuten. Aber die Psychiatrie am Platz der Heiligen Maria des Mitleids, der Piazza di Santa Maria della Pietà, die gibt es nicht mehr. Sie war mehr als eine Klinik, sie glich eher einer Stadt. Noch bis 1999 beherbergte der Park von Santa Maria della Pietà das „Asyl von Rom“ mit 43 Gebäuden, darunter 29 Padiglioni, so nannte man die einzelnen Kliniksgebäude.

Heute ist das ehemalige Manicomico Roms ein riesiges Museum und ein Park zugleich. Die Wände der Padiglioni sind oft mit riesigen Gemälden verziert. Sie erzählen Geschichten und berühren tief. Einige sind verfallen, stehen vor dem Einsturz, andere haben noch eine Nutzung, eine medizinische Notfallstation ist aktiv. Einige Gebäude sind Teil des Museums des Geistes, des Museo Laboratorio della Mente. Und wenn das Kolosseum, auch nicht mehr in Betrieb, von Gladiatorenkämpfen erzählt, berichten die Murailles, die pitture murali,  hier von Kämpfen, die Menschen mit sich selbst ausfochten.

Während überall in Italien aus Psychiatrien „lost places“ wurden, in denen Besucher allenfalls noch ungewöhnliche Fotomotive suchen, ist hier der „Platz“ (noch) nicht verloren. Es werden sogar Wanderungen durch das parkartige Gelände und Führungen durch einige Padiglioni organisiert, zum „rescoprire“, zur Wiederentdeckung, wie es heißt.

Dass in Italien viele psychiatrische Kliniken zugesperrt wurden und seitdem verfallen,  ist einer radikalen Reform vor 40 Jahren zu verdanken. Es ging um die „Enthospitalisierung“ psychisch Kranker. Im Jahr 1978 wurden mit dem Gesetz Nr. 180/1978 – als Teil des Gesetzes Nr. 833/1978, das den Nationale Gesundheitsdienst regelt – die allgemeinpsychiatrischen Kliniken abgeschafft. Einfach so. 70 000 Menschen, Kranke wohlgemerkt, wurden nach Hause geschickt. Ihre Betreuung und Überwachung wurde aufgekündigt.

Der Grund war die Korrektur einer Vorschrift aus dem Anfang des Jahrhunderts: Artikel 1 des Gesetzes Nr. 36 aus dem Jahre 1904 besagte, dass „Personen mit psychiatrischer Andersartigkeit … in einer allgemeinen psychiatrischen Klinik untergebracht werden, wenn sie eine Gefahr für sich oder andere darstellen oder öffentliche Skandale verursachen könnten.“

Nun meinten „fortschrittliche“ Psychiater, diese Menschen stellten doch gar keine Gefahr da, sie seien keine „gefährlichen Individuen“. Wohl richtig, dass man ihnen aber so den oft notwendigen Schutzraum nahm, hat man übersehen.

Die Bilder an den Wänden erzählen vom Elend der Patienten, aber auch der Schönheit,  des geradezu Christlichen ihres Leidens. Der Blick durch die Gitter in verfallenden Padiglioni gibt Schreckliches preis. Es gab Zwangsgurte, Isolationszellen, Elektroschocks, eiskalte Bäder. Ihre Spuren sind noch da. Menschen wurden für Jahre weggesperrt und wurden doch nicht gesund. Es gab die Medikation nicht, wie es sie heute gibt, auch wenn bis heute keine humane Form der Betreuung psychisch Kranker gefunden wurde, weil immer noch ihre Andersartigkeit als vorwerfbarer Makel gesehen wird. Und erforscht wurde bis heute nicht, wo das psychische Leiden verortet werden und wie es geheilt werden kann.

Es war der Psychiater Franco Basaglia, dessen Reformen ab 1978 zur Schließung aller italienischen Anstalten führten. Er rief 1973 mit Ärzten und Sozialarbeitern die Bewegung „Psichiatria Democratia“ ins Leben, um „unwürdige Zustände“ in den Kliniken zu bekämpfen. Ihr Schlagwort: „Freiheit heilt“. Wenn dem so wäre!

Als sich ein Volksentscheid über die Auflösung der Psychiatrien anbahnte, gab die Regierung nach. In nur drei Wochen peitschte sie das „Basaglia-Gesetz“ durch das Gesetzgebungsverfahren. Patienten wurden nicht mehr als „gemeingefährlich“ oder „geisteskrank“ stigmatisiert. Der Bau neuer Kliniken wurde untersagt, die alten Anstalten sollten schließen und Allgemeinkrankenhäuser ihre Aufgaben übernehmen.

Heute unterliegt die Unterbringung in eine forensische Psychiatrie, die es noch gibt, strengen Voraussetzungen. Viele Kritiker sehen darin einen Verrat an Franco Basaglia und sprechen von „einer sabotierten Reform“.

Wir betreten den Park durch einen Eingang gegenüber dem Café auf der Piazza della Pietà. Vor diesem Café wird mit einem Bild an Ornella Belucci erinnert, die sich für die „Befreiung“ der Patienten eingesetzt hatte, deren Verwandte sie „segregiert“ hatten, um an ihr Vermögen zu kommen. Wir waren gewarnt, mehr nicht. Geführte Touren muss man vereinbaren, (prenotazionimuseo@aslroma1.it) , der Eintritt ist frei.

Einer, dessen Bilder zu sehen sind, ist der Maler Gianfranco Baieri, der fast sein ganzes Leben hier verbrachte,  ein anderer Oreste Fernando Nannetti. Er ist einer der Begründer der Art Brut Bewegung. Die meisten jedoch sind unbekannt, aber der Park mit seinen mehr als 30 000 Quadratmetern ist voll mit ihren Kunstwerken.

Im Padiglione Museo Laboratorio della Mente wird die Geschichte der Insassen und der Psychiatrie erzählt. Auch ihre Stimmen werden hörbar und ihr Leid in den „Behandlungs-Maschinen“ fühlbar. Eigentlich will man das so genau nicht wissen. „Erinnerungen an die Zukunft“ heißt die Ausstellung. Verantwortet wird sie vom Studio Azzurro aus Mailand, das mit Beiträgen von Pflegern, Angehörigen und Patienten eine „Erziehungs-Reise“ geschaffen hat, die zugleich einem Weg durch die eigenen Ängste gleicht. „Aus der Nähe ist niemand normal“, heißt eine Installation im ersten Stock. Mit Spiegeln und dahinter verborgenen Schicksalen wird der Besucher mit dem Elend psychischer Erkrankung in kaum erträglich engen Kontakt gebracht. Im Saal der Biblioteca Cencelli, wo Krankheitsberichte bis zurück ins 16. Jahrhundert aufbewahrt werden, kann der Besucher eine Person ansprechen, mit der Hand berühren und nach ihrem Schicksal befragen.

Den Park wiederzugewinnen ist eine Erholung. Und die Bilder an den Häusern, die gelegentlich mit den vergitterten Fenstern verschmelzen, die meistens Menschen darstellen, viele nackt; sie zeigen viele Gesichter, aber weniger ihren Schmerz als eine unerträgliche Fassungslosigkeit. Und wir sehen die handgeschriebenen Botschaften: „Vergiss alles, nur nicht deine Träume.“ „Wenn du mich rufst, bin ich da. Sage mir wo und wann“. „Jede Person ist ein Schweigen“.

Wir wären vielleicht doch besser ins Kolosseum gegangen. Wollten wir ja, aber es war überlaufen, es gab keine Tickets mehr. Im Laboratorio della Mente waren wir allein – mit den Lebensbeichten ehemaliger Patienten und mit uns.

BU. Wandmalerei an einem Padiglione. Copyright: hhh

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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