Heiliger Gral: Valencias Kathedrale hütet den legendären Kelch
Seit Jahrhunderten jagen Könige, Abenteurer und Tempelritter einem Mythos hinterher: dem Heiligen Gral. In Valencia behauptet man, das Original zu besitzen – einen Kelch, der hinter Panzerglas in einer Kathedrale ausgestellt ist. Doch ist der legendäre Gral real oder nur eine mittelalterliche Erfindung? Die Frage des Glaubens macht die spanische Mittelmeerstadt zu einem Pilgerort für Gläubige und Neugierige gleichermaßen.
Valencia – Die Hafenstadt am Mittelmeer, einst mächtiges Handelszentrum, präsentiert sich als Hüterin eines besonderen Schatzes: des Heiligen Grals. Jener Kelch, aus dem Jesus beim letzten Abendmahl trank und der später das Blut Christi bei der Kreuzigung aufgefangen haben soll, liegt angeblich hier in Valencia. Der Vatikan scheint daran zu glauben – Papst Franziskus verlieh der Kathedrale von Valencia 2015 das außergewöhnliche Privileg, im Fünf-Jahres-Rhythmus ein „Heiliges Jahr” auszurichten. Das nächste beginnt am 30. Oktober.

Während Touristen Valencia vor allem wegen Paella, Stränden und moderner Architektur besuchen, wissen viele nicht, dass hier einer der bedeutendsten christlichen Schätze verwahrt wird. Vicente Pons, der das Archiv der Kathedrale leitet, öffnet ein historisches Registerbuch aus dem Jahr 1437. Die lateinischen Einträge dokumentieren, wie König Alfons V. verschiedene Reliquien an die Kathedrale übergab – darunter den Heiligen Gral. Der Monarch hatte sich von der Kirche Geld für seine italienischen Feldzüge geliehen und den Kelch als Sicherheit hinterlegt. Das Darlehen wurde nie zurückgefordert, der Gral blieb in Valencia.
Die mysteriöse Reise eines legendären Kelchs bis nach Valencia
Ob dieser Kelch tatsächlich der Heilige Gral ist, lässt sich historisch nicht beweisen. Die Überlieferung erzählt: Der Apostel Petrus brachte den Gral von Jerusalem ins römische Reich. Jahrhunderte später, im Jahr 258, rettete Diakon Lorenzo den Kelch vor Kaiser Valerius und versteckte ihn in den aragonischen Pyrenäen. Dort bewahrten Mönche im Felsenkloster San Juan de la Peña den Heiligen Gral auf, bis sie ihn 1399 dem König von Aragón übergaben. Dessen Nachfolger transportierte den Kelch 1424 nach Valencia. Doch hier beginnt das Problem: Die Gralslegenden entstanden erst zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert durch Dichter wie Chrétien de Troyes, Wolfram von Eschenbach und Robert de Boron. Diese Autoren beschrieben den Gral mal als Kelch, mal als Stein oder mystisches Gefäß. War der Heilige Gral in Valencias Kathedrale also möglicherweise eine literarische Schöpfung, die später mit einem realen Objekt verschmolz?
Zahlreiche Orte in Europa beanspruchten im Laufe der Geschichte, den echten Gral zu besitzen. Gralsforscherin Ana Mafé argumentiert: „Alle anderen Kelche wurden aufgrund ihres Alters oder ihrer Herkunft ausgeschlossen – nur der in Valencia nicht.” 1983 analysierte Archäologe Antonio Beltrán das Stück wissenschaftlich und stellte fest: Es handelt sich um ein jüdisches Ritualgefäß aus Palästina, das zur Zeit Jesu existierte. Ob es sich um den Kelch des letzten Abendmahls handelt, könne jedoch niemand beweisen, betonte Beltrán. Es bleibe Glaubenssache. Kunsthistorikerin Mafé hingegen ist überzeugt: Sie konnte den Gral von Valencia anhand von Darstellungen bis ins 4. Jahrhundert zurückverfolgen. Historische Gewissheit über die Existenz des Heiligen Grals gibt es dennoch nicht – die Geschichte basiert auf religiöser Überzeugung statt auf Fakten.

Ungeachtet aller Zweifel verehrt Valencia seinen Kelch seit Jahrhunderten. Das Museo de Bellas Artes zeigt Renaissance-Gemälde mit Gralsmotiven, in der Nähe liegen die Überreste des königlichen Palastes, wo der Heilige Gral einst in der Schatzkammer lagerte. Wer der Spur des Grals durch Valencia folgt, taucht ins mittelalterliche Flair einer einstigen Handelsmacht ein. Die Route führt zur Kreuzritterkirche San Juan del Hospital von 1238 und zur Iglesia de San Nicolás mit ihren spektakulären Deckenfresken, die der Kathedrale den Spitznamen „Sixtinische Kapelle Valencias” einbrachten. Zwei Priester dieser Kirche – Alfons und Rodrigo de Borja, später beide Päpste – förderten im 15. Jahrhundert die Verehrung des Kelchs in Valencia massiv.
Vom mittelalterlichen Schatz zum modernen Touristenmagneten in Valencia
Im 16. Jahrhundert machte Erzbischof Juan de Ribera den Heiligen Gral zum Mittelpunkt der eucharistischen Verehrung. Er beauftragte den Künstler Juan de Juanes, das letzte Abendmahl zu malen – mit dem Kelch aus Valencias Kathedrale prominent auf dem Tisch platziert. Das Original ist eine schlichte Achatschale, erklärt Álvaro de Almenar, Domherr und offizieller Wächter des Grals. Die prunkvolle goldene Fassung mit Perlen und Edelsteinen wurde erst im Mittelalter hinzugefügt. Lange Zeit zeigte die Kathedrale den Kelch aus Furcht vor Diebstahl kaum öffentlich.
Die dramatischste Episode erlebte der Heilige Gral 1936 im Spanischen Bürgerkrieg. Als republikanische Truppen die Kathedrale in Valencia niederbrannten, rettete ein Domherr den Kelch in letzter Sekunde. Er versteckte den Gral bei einer Kirchgängerin in der Avellanas-Straße. Auch die Nazis jagten den legendären Kelch – inspiriert von SS-Chef Heinrich Himmler, wie später der Film „Indiana Jones und der letzte Kreuzzug” thematisierte. Allerdings suchten sie am falschen Ort: im Kloster Montserrat bei Barcelona statt in Valencia. Nach Kriegsende fand der Heilige Gral 1939 vorübergehend Unterschlupf in der prächtigen mittelalterlichen Seidenbörse Valencias.

Heute endet die jahrhundertelange Suche nach dem Heiligen Gral in einer unscheinbaren Seitenkapelle der Catedral de Santa María de Valencia. Dort leuchtet der Kelch in seinen erdigen Brauntönen hinter massivem Panzerglas. Der legendäre Gral, den Könige begehrten, Tempelritter beschützten und Hollywood verfilmte, steht zur Besichtigung bereit – in Valencia.
Ob man in der Kathedrale tatsächlich dem Kelch Jesu gegenübersteht oder einem Ausdruck mittelalterlicher Frömmigkeit begegnet, bleibt dem Glauben jedes Einzelnen überlassen.