Nur ein Taleinschnitt trennt in den ukrainischen Karpaten die schönen neuen Wintersportwelten von skisportlichen Relikten aus kommunistischer Zeit.
Acht Uhr früh auf einem trostlosen Parkplatz der ukrainischen Kleinstadt Yasinia. Es dämmert, das Thermometer zeigt minus zwölf Grad. Der Atem der Wartenden dampft in den klaren Februarmorgen hinein. Das Nageln eines geschundenen Dieselmotors kündet vom Nahen des Lastwagens. Er wird die jungen Männer mitnehmen. Sich über einen besseren Trampelpfad die Berge hinaufkämpfen, dessen Schlaglöchern, Rinnen und Wellen nur die unverwüstliche Robustheit, Bodenfreiheit und schiere Kraft alter russischer Militärtransporter trotzen kann. Er wird sie nach Dragobrat bringen. Dort oben sollen sie in den felsigen Abbrüchen am Kamm der Waldkarpaten ihre Chance zur Bewährung erhalten: Dragobrat ist der anspruchsvollste Freeridespot der Ukraine und die Schar der behelmten Skifahrer und Boarder kann den sonnigen Tag im staubtrockenen Pulver kaum erwarten.
Zur selben Zeit, 20 Kilometer entfernt: Von Myriaden im Sturm expandierender Druckluft schockgefrosteter Wassertropfen, die in der soeben zu Ende gegangenen Nacht von einem gigantischen Arsenal an Schneemaschinen in die Winterluft geschossen wurden, schweben von morgendlicher Thermik getragen immer noch viele in einer Endlosschleife zwischen Himmel und Erde. Die satellitengesteuerten Ungetüme, die die Schneemassen in kordsamtene Pisten verwandelt haben, kehren zu den versteckten Ruheplätzen zurück, an denen sie den Tag verbringen. Sie weichen dem Ansturm tausender Schneesportler, die in einem stählernen Wurm aus Luxuskarossen das Tal hinauffluten, ihre Fahrzeuge in vielgeschossige Parkgaragen lenken, um sich davor in Menschentrauben zu verwandeln, die hungrige, förderbandbestückte Seilbahnen in rasendem Tempo wegzufressen scheinen.
Willkommen in Bukovel, dem Beleg dafür, dass die Ukraine schon vor der Euro in der Lage war, Großprojekte zu stemmen. Der österreichische Weltmarktführer im Seilbahnbau durfte hier 2006 in einem Sommer nicht weniger als acht neue Liftanlagen aufstellen – Rekord in der Firmengeschichte. Insgesamt 20 Anlagen führen mittlerweile auf die Hänge rund um den Ort, der vor gut zehn Jahren aus einigen hingewürfelten Holzhäusern und Schafweiden bestand und in dem heute bereits 2.000 Gäste logieren können, während weitere riesige Hotelanlagen in den Himmel wachsen. Im selben Jahr lieferte ein Bozener Unternehmen die Beschneiungsanlage. Auf 170 Sattelzügen, schließlich waren 50 Kilometer Abfahrten auf einen Schlag schneesicher zu machen. 278 Kilometer sollen es einmal sein. Bukovel wäre dann eines der fünf größten Skigebiete der Welt.
Dazu müssten die Pistenschneisen noch viel tiefer in das waldreiche Herz des 1980 gegründeten Karpaten-Nationalparks hineingetrieben werden. Einige Finger strecken sie bereits aus, doch der Griff nach weiteren als den bislang erschlossenen fünf Skigipfeln reicht nur bis auf halbe Höhe der Bergkämme links und rechts des Tals des Hnylytsyaflusses. Warum die Rodungen so abrupt abgebrochen wurden, darüber redet man in Bukovel weitaus weniger gern, als über das Ziel, einmal olympische Spiele auszutragen. Es darf bezweifelt werden, dass ein plötzlich aufkeimendes grünes Gewissen zum Abzug der Harvester führte. Vielmehr dürfte man erkannt haben, dass für eine Balance zwischen Skigebietsgröße und übriger Infrastruktur zunächst einmal andere Maßnahmen Priorität hatten: Schneesicherheit, der Ausbau der Unterkunftsmöglichkeiten, der Zufahrt und der Parkplätze.
„Ohne technische Beschneiung wäre Bukovel heute nicht das, was es ist. Die Saison war nie gesichert. Bei uns ist es zwar kalt, aber trocken. Damit wurden natürlich auch Investoren gehemmt“, so Alexander Shevchenko, der Leiter des Skigebiets. Rund 12.000 Skifahrer besuchen heute täglich das Skigebiet. Um diesen Ansturm zu bewältigen haben die Pisten inzwischen bis acht Uhr abends geöffnet, zwei neue Parkhäuser mit 2.000 und 1.000 Stellplätzen sind im Bau. „Das Skigebiet schafft natürlich auch immer wieder neue Arbeitsplätze in der Region“ erklärt Shevchenko nicht ohne Stolz. Mittlerweile hat sich Bukovel auch als Wellness-Destination einen Namen gemacht, was dem Ort nennenswerte Gästezahlen in der Sommersaison beschert. Allein der Wellnessbereich des 2011 eröffneten Radisson-Hotels misst 3.300 Quadratmeter.
Wenn man vom wunderschönen L‘viv, der nächstgelegenen Stadt mit einem internationalen Flughafen, die Straße via Ivano-Frankvisk in Richtung Bukovel nimmt, will sich der Glaube daran, am Ziel der Fahrt ein solches Musterbeispiel des Aufschwungs Ost zu finden, zunächst nicht so recht einstellen. Mehr als 50 Stundenkilometer sind auf der schlaglochübersähten Piste nicht drin. Die Route führt durch trostlose Dörfer deren Häuser die Armut ihrer Bewohner selbst in der Dunkelheit nicht verbergen können. Etwa 30 Kilometer vor Bukovel ändert sich das Bild. Plötzlich rücken Neubauten in den Lichtkegel der Scheinwerfer. Schilder künden von Gasthäusern, Restaurants und Verleihgeschäften. In den zahlreichen Hotels in Yaremche oder etwa in der Pension Galina in Mykulichin kann man für eine Handvoll Grivna nächtigen und auch das Essen ist gut und günstig.
Ganz anders in Bukovel selbst. Hier zahlt man schnell einige hundert Euro für das Doppelzimmer. Das Essen in den zahlreichen, aber viel zu kleinen und daher chronisch überfüllten Bergrestaurants ist lächerlich teuer. Dafür hat man als weder des ukrainischen noch des russischen mächtiger Mitteleuropäer eine Menge Spaß dabei, seine Bestellung bei der weder des Deutschen noch des Englischen oder Französischen mächtigen Bedienung loszuwerden. Das Huhn wird schließlich pantomimisch dargestellt, was sehr zur Erheiterung von Personal und umstehenden Gästen beiträgt. Überhaupt wird viel gelacht und man begegnet meist gut gelaunten und herzlichen Menschen, die sich glücklich zu schätzen scheinen, in dieser schönen neuen Urlaubswelt einen Fluchtpunkt vor den Verhältnissen anderswo in der Ukraine gefunden zu haben.
Für Alexander Shevchenko ist das ein zusätzlicher Ansporn. „Wir arbeiten hart daran die Infrastrukturen und das Angebot immer weiter zu verbessern“ erzählt er über seine Ziele. Will man internationale Gäste gewinnen, ist das auch nötig. Zwar bietet Bukovel im gesamten Skigebiet WLAN, akzeptiert auch in der kleinsten Hütte Kreditkarten und verfügt über ein eigenes Notfall-Zentrum, dessen Nummer auf allen Skipässen aufgedruckt ist. Aber die verdreckten Toiletten stinken zum Himmel, den gleichförmig durch Waldschneisen führenden Pisten mangelt es an Charakter und mehr als 400 Höhenmeter kommen auf keiner Abfahrt zusammen. Die umliegenden Berge gipfeln bei rund 1400 Meter – wo man hier eine mindestens 800 Höhenmeter erfordernde olympische Herrenabfahrtsstrecke herzaubern will, bleibt Shevchenkos Geheimnis.
Dragobrat hingegen hätte die topografischen Voraussetzungen. Das Skigebiet reicht bis auf 1883 Meter hinauf. Dafür fehlt es hier so ziemlich an allem Anderen, angefangen bei einer Zufahrtsstraße, die mit normalen Fahrzeugen zu bewältigen wäre. An deren Ende tauchen nach rund 40-minütigem Rütteln und Schütteln (zum Preis von fünf Euro) überraschend einige einfache, aber saubere Hotels, Imbissbuden und sogar Liftanlagen auf. Skischulen bieten Anfängerkurse an, bloß mangelt es an Hängen, die flach genug für das erfolgversprechende Absolvieren eines solchen wären. Die beiden Sesselbahnen und die vier Bügellifte erwecken nicht den Eindruck, als würden sie einer TÜV-Abnahme standhalten, aber die gibt es hier ja zum Glück nicht.
Wer in Dragobrat Ski fährt ist ohnehin lieber auf eigene Verantwortung unterwegs. Im ungespurten Gelände jenseits der Waldgrenze oder darunter, zwischen den Buchen und Fichten. Zu den besten Startpunkten fürs Freeriding gelangt man entweder zu Fuß von der Bergstation der Liftanlagen oder direkt von der kleinen Hotelsiedlung aus per Pistenraupe. Eine Fahrt kostet fünf Euro und die lohnen schon allein für die großartige Rundumsicht. Vom höchsten Punkt, dem Blyznytsya, sieht man im Osten über dem Tal von Yasinia den Hoverla aufragen, den mit 2061 Meter höchsten Berg der Ukraine. Im Süden reicht der Blick bis nach Rumänien hinein. Abfahren kann man von hier aus im Prinzip in jede Richtung – wenn man den Rücktransport organisiert. Aber auch in Richtung der kleinen Station gibt es zahlreiche Varianten.
Dragobrats spezieller Charakter sorgt dafür, dass man hier eher andere Gäste aus Mitteleuropa trifft, als in Bukovel. Dafür weniger reiche Russen und Ukrainer, obwohl die mit ihren Geländewagen noch am ehesten die Chance hätten, die Auffahrt zu meistern. Die Freeride-Gemeinde ist eben neugieriger, was neue Ziele abseits eingetretener Pfade betrifft und nimmt ein wenig Komfortverzicht für ein paar feine Schwünge im frischen Pulver gerne in Kauf. Davon gibt es hier dank der Höhenlage und orografischer Gunst deutlich mehr als in Bukovel. Soviel, dass die Saison bis in den Mai dauert, und das ganz ohne Schneekanonen.
Informationen
Skigebiete:
Bukovel: 859-1372 m, 22 Lifte, 50 km Pisten
Dragobrat: 1300-1707 m (Pistenraupe bis 1883 m), 6 Lifte, ca. 5 km Pisten
Preise: Tageskarte Bukovel 336-396 UAH (ca. 31-36 Euro), Skiverleih ca. 8-34 Euro (je nach Kategorie), 20 Fahrten an den großen Schleppliften in Dragobrat 200 UAH (ca. 19 Euro), Skiverleih 5 bis 10 Euro, Skilehrer ca. 15 Euro/Std.
Weitere Auskünfte: www.bukovel.com, www.dragobrat.com
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