Kalabrien, wenn die Italien-Liebe auf Grund läuft

Einen Tag an der Marinella, zurückgelehnt gegen einen Felsen, der Frühlingssonne entgegen bebend, das Meer zu Füßen, kann man nicht beschreiben, kein Selfie kann es festhalten, kein Telefonat die Emotionen übertragen, es gibt einfach Beschränkungen, die man akzeptieren sollte. Man kann und muss auch für sich und nur für sich genießen können. Hier ist dafür der Ort. Man findet die Marinella in einigen touristischen Ratgebern als entlegenen Küstenabschnitt bei Tropea in Kalabrien, den man von Bahnhof von Zambrone, dem nördlichen Nachbarort von Tropea, aus erreicht, wenn man die Bahngleise aus überschreitet und sich durchs Unterholz Richtung Meer traut. Es lohne sich, denn es sei der schönste Strand des Mittelmeeres und er habe karibische Wasserqualität.

Foto ganz oben: Sonnenuntergang an der Marinella im Tyrrhenischen Meer

Pentedattilo zwischen Ionischem Meer und dem Aspromonte
Pentedattilo zwischen Ionischem Meer und dem Aspromonte

Mit eigenen Augen gesehen und alles selbst erlaufen, seien eigentlich nur nebenbei einige Korrekturen erlaubt. Die generelle Qualität des “karibischen” Wassers wird angezweifelt. Dass das Wasser am von den Einheimischen Marinella genannten Strandabschnitts, ansonsten firmiert er unter spiaggia paradiso besonders sauber ist, mag aber sein. Der Weg lohnt, und er ist auch nicht beschwerlich. Möglicherweise haben diejenigen, die gerne voneinander abschreiben, übersehen, dass es inzwischen einen befestigten Weg herab zum ersten der kleinen Stände gibt. Natürlich ist der vielbeschriebene Müll da, aber während er sonst in Kalabrien fast überall als in Säcke abgepackte Krätze der Gesellschaft erkennbar ist, stolpert man hier nur über das, was das Meer an ihm vom Menschen eingetrichterten Plastikmüll wieder ausgekotzt hat. Ob es wie behauptet die schönsten Strände des Mittelmeere sind, das entscheidet wie immer das Auge des Betrachters. Wir waren die einzigen Gäste dort und fanden das in der Tat schön, paradiesisch, wie man will. Als die Sonne dann ihren Weg gen Meer suchte und hinter den drei Felsen, die aussahen wie ein Gnom, ein Vogel und ein kleines altes Männchen, verschwand, mussten wir über die nördlichen Klippen klettern, um zum nächsten Strand zu kommen. Und dort erklommen wir im wärmenden Licht einer späten Märzsonne einen großen Felsen, dessen steinerne Wurzeln in Reichweite der Wellen lagen und waren einfach nur da, während Helios mit einer Schau in Rot, Lila und Blau in den Weiten des Tyrrhenischen Meeres diesen Tag beendete.

So verlief dieser Tag anders, schöner als es die Beschreibungen der Artikel und Reiseführer hätten vermuten lassen. Aber deswegen will ich diese Form der intensiven Vorbereitung einer Reise nicht missen. Sie schafft im Kopf eine Wirklichkeit, die animiert, dazu reizt, sie mit der Realität, die dann eine zweite, weil immer noch subjektive Wirklichkeit ist, zu vergleichen. Und die Differenz zwischen beiden regt an, sich intensiver mit dem Land auseinanderzusetzen. Sie, diese Differenz zu erfahren, ist der eigentlich Gewinn, den man für sich gewinnen kann, und endlos mehr als die Abfolge von den Augen zum Verzehr vorgesetzten postkartenartigen Bildern. Natürlich weiß ich, was Kalabrien ist und wo es liegt. Ich war sogar schon einmal dort, in Tropea im Hotel Rocca Nettuno, was Stoff für eine Geschichte war, in deren realer Handlung ich von der Polizei im Bus zum Flugzeug gestoppt und dann freundlich verabschiedet wurde, unter dem Applaus der anderen Fahrgäste. Und jetzt habe ich doch von Rosario, einem einheimischen Freund, eine andere Version der Geschichte gehört.

Die Kläranlage, die nicht funktionierte und Grund dafür war, dass ich mich weigerte, den Zuschlag der Hauptsaison zu zahlen, und die Betreiber mich von der Polizei verfolgen ließen, wurde nicht deswegen neben das Hotel gebaut, weil die Betreiber, ein Deutscher und ein Österreicher, die falschen Leute im Ort geschmiert hatten, sondern der Standort stand vorher fest, und das Hotel hätte da gar nicht gebaut werden dürfen. Aber ein Gutachter „ließ das Messband durchhängen“, sagt Rosario, und so war plötzlich der notwendige Abstand zur Kläranlage gegeben. Das Rocca Nettuno wurde errichtet. Heute stehen auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwei baugleiche ausgebrannte Häuser, die vermutlich Stoff für eine weitere Geschichte lieferten. Dieses Tropea ist in seinem alten Kern wunderschön, liegt wie ein Rabennest auf einem Felsen hoch über dem Meer. In den engen Gassen sieht man Menschen ihren Geschäften nachgehen, um sich und ihre Angebote auf die kommende Saison vorzubereiten. Aber in den Randbezirken tobt sich die `Ndrangheta, die Mafia Kalabriens, aus, dort wo man meint, dass es den Tourismus nicht stören würde. Dort sieht es aus wie fast überall in Kalabrien, dort stürzt altes Bauwerk zusammen, während nebenan Neubauten direkt als Ruinen und Stahlskelette gebaut werden.

Ich kannte also Tropea und hatte eine Vorstellung von dem Gebirge, dem Aspromonte, dem rauen Berg, das der Halbinsel der Region Kalabriens, die nach Sizilien zeigt, “der Stiefelspitze”, den Rücken bildet. Nur dieser Halbinsel galt unser Besuch. Wild, zügellos, archaisch war der Aspromonte in meinen Vorstellungen. Von dort, aus dem Dorf San Luca, kamen die Männer, die in Duisburg sieben ihrer Landsleute erschossen, und dorther kamen auch die meisten Kellner im Erfurter Ristorante La Grappa, ob direkt oder über den Umweg Duisburg, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Jedenfalls beteuerten sie mir, als ich für die drei Thüringer Zeitungen eine Geschichte über das La Grappa schrieb, nichts mit der `Ndrangheta zu tun zu haben. Es ist natürlich auch blöd, jeden Kalabresen unter Generalverdacht zu stellen. Aber geglaubt habe ich es ihnen nicht. Umso mehr bekam die Fahrt in den Aspromonte einen festen Platz in meinen Planungen, zumal immer mehr Orte auftauchten, Platì und Africo, desto mehr Texte ich über die Mafia studierte. Es begann eine Fahrt, auf die ich äußerst gespannt war. Die Entfernungen waren relativ gering. Aber man kann nicht kalkulieren, welche Zeit man zu ihrer Bewältigung braucht. Und das alleine zählt. Einige Wege waren gesperrt, bei der Strecke zwischen Riace und Stile haben wir uns mit Erfolg darüber hinweg gesetzt. Zwischen San Luca und Polsi mussten wir umkehren. Im Prinzip führt jeder Weg zu einem Ort in den Bergen direkt von der Küste aus. Querverbindungen gibt es nicht, wozu auch? Historisch gesehen wurden die “Söhne der Wälder” einst ans ungeliebte Meer gebracht, dorthin wo einst die Piraten lauerten, dann aber das Geschäft mit den Touristen lockte, während in den Bergen Erdbeben und Überflutungen das Leben schwer machten. Manchmal erlebt man bei der Planung auch Überraschungen.

In einem Buch über Friedrich II, welcher der einzige Herrscher hier gewesen zu sein scheint, dem man attestiert, etwas für Land und Leute getan zu haben – nicht den Anjous, nicht den Bourbonen, nicht Umberto und Vittorio Emanuele, den Regierungen der Republik Italien schon gleich gar nicht – fand ich Nicotera. Auf den Ruinen seiner Festung – in den Zeiten, als man noch baute um fertigzustellen, machten Invasoren oder Erdbeben hier regelmäßig alles platt – hatte eine Fürstenfamilie ein stattliches Anwesen errichtet. Und um diese Gebäude herum, die heute eine lokales Museum und einen Verein beherbergen, der Rest steht leer und verfällt, hat sich ein kleines, aber munteres Städtchen entwickelt. Mit Blick über das Tal und bis zum Ionischen Meer kann man in einen bequemen Korbsessel gefläzt einen Cappuccino für 1 Euro 30 trinken, während die Chefin vom Markt in einer Plastiktüte frische Alici in die Küche bringt. Doch wenige Minuten weiter kommen wir nach Rosarno, und ohne zu diesem Zeitpunkt wissen, dass der Gemeinderat wegen Zugehörigkeit zur `Ndrangheta aufgelöst und von Rom aus ein Verwalter eingesetzt wurde, spüren wir, dass diese Stadt krank ist, Müll auf den Straßen, die schon übliche Krätze, Häuser, deren Bau im Rohbau aufgegeben wurde, warum auch immer. Frauen, schwarz gekleidet, die den Blick gesenkt, die Einkaufstüte am Arm vorbeihuschen. Dass die gewählten Politiker ihre Plätze im Rathaus mit Zellenbänken tauschen mussten, ist in vielen Kommunen der Region der Fall, aber der erhoffte Befreiungsschlag blieb bislang aus. Die `Ndrangheta ist so tief ins soziale Gewebe des Landes eingefressen, dass mit dem Austausch einiger Korrupter nur wenig erreicht wird. Zumal es neben der `Ndrangheta noch eine “normale” Kriminalität gibt, so dass wie es Gioacchino Criaco, Autor des Buches “Anime nere” (schwarze Seelen) auf einer Veranstaltung im Münchner Literaturhaus am 12. April 2016 sagte, eine bürgerliche Laufbahn für einen Jugendlichen keine naheliegende Option ist. Doch das Schlimmste stand uns da noch bevor: San Luca. Hier wohnt das Böse, hier wird man so bedrückt, dass einem die Luft zum Atmen fehlt, dass man sich weigert aus dem Auto auszusteigen.

Besuche in vergleichbaren Orten wie Platì oder Vulcano versagten wir uns dann, weil wir nicht als Voyeure menschlicher Verworfenheit erscheinen wollen. Es ist fast niemand in San Luca auf der Straße, jedenfalls nicht zu Fuß. Kein Kind schreit, kein Verkäufer preist seine Waren an, kein Hund bellt, keine Katze liegt in der Sonne. Keine Blume im Topf verziert den Ort. Es gibt keine Sonne, gelegentlich misstrauische Blicke der Männer, kleine schwarze Frauen blicken direkt vor sich auf den Boden, während sie ihre Einkaufstüten nach Hause schleppen. Auf der Bank der Piazza keine Alten, die ratschen, und die Bar ist kein Ort, der einlädt zu verweilen, sie gleicht einer Höhle. Nichts wie weg. Auf dem Weg nach San Luca, einer schmale Straße, überholt uns ein Porsche Cayenne mit Münchner Kennzeichen. Ob ein anderes Fahrzeug, das uns auf unserer vergeblichen Fahrt nach Polsi überholte, uns kontrollieren wollte? Im Ort selbst: DU, EF, L, DD, S, man kommt sich vor wie in Deutsch… nein, kommt man sich nicht. Die Kfz-Zeichen scheinen nur alle aus einem falschen Film zu stammen. Man soll hier auch deutsch sprechen können, fand ich bei den Vorbereitungen, aber ich habe nur einen Mann in einem Fahrzeug mit einem Erfurter Kennzeichen auf Italienisch angesprochen, der auf meiner Höhe hielt, und ihn gefragt, ob er aus dem La Grappa sei. Er verneinte. In einem Mercedes begegneten uns zwei Klischee-Figuren, der Fahrer im Rolli, daneben einer im weißen Anzug mit Krawatte. Wie aus dem Kino: Klassisch, der Boss und sein Killer. Aber anders als die Filme es suggerieren wollen: Mit Folklore, Räuber- oder sonstiger Romantik hat das nichts zu tun. Es ist das Böse, das einen schier betäuben will mit seiner verrotteten Architektur, seinen eingeschüchterten Menschen, seiner Absage an jede normale Wirtschaftstätigkeit. Und wenn ich spontan sagte, von Rosarno würde ich heute noch zu Fuß weggehen, bloß um der Bedrückung und Bedrohung zu entfliehen, aus San Luca würde man auf allen Vieren kriechen um wegzukommen.

So rau ist er nicht, der Aspromonte
So rau ist er nicht, der Aspromonte

Wir hofften, in der Kapelle von Polsi, einem lokalen Heiligtum, Antworten zu bekommen, haben es aber dann aufgegeben, weil der Weg einfach nicht befahrbar war. Und zwei Mal 20 Kilometer zu Fuß in dieser Gegend wollten wir nicht riskieren. Abends waren wir von Locri aus, wo wir im “Terre del Sud” bei Herrn Carmelo, einem feinen alten Signore, Aufnahme fanden, noch in Gerace, über eine Straße, die den Namen nicht verdient, wo ein Auto sich durchquälen muss und zwei nur im Schritt aneinander vorbei kommen. Und diese Straße führt weiter durch den Aspromonte bis nach Gioia Tauro. Kilometermäßig ist das nicht weit, keine 60 Kilometer, aber eigentlich ist das nicht zu fahren. Gerace ist eine alte Stadt mit einer Festung aus Normannenzeit, aber von einer Düsternis, die der Nebel, der uns auf der Höhe umfing, nicht mehr verstärken konnte. Viele große Kirchen, ein Dom. Die Religiosität der Leute spielt hier eine große Rolle. Eine Zeitung, die ich mitgenommen habe, machte zu Ostern mit einer Lazarus-Erscheinung im Krankenhaus auf. Diese Gläubigkeit vereint Mafia und Bürger und spielt so dem organisierten Verbrechen in die Hände. Gott gilt für beide, Gott weiß, was gut ist, wer oben zu sein hat, wer unten. Wir gerieten in Amandolea, neben dem gleichnamigen See, eine der Top-Empfehlungen von Merian, der allerdings statt Wasser Geröll führte, in eine prächtige Hochzeit der ehrenwerten Gesellschaft. Wie wir gemeinsam das Haupt vor dem Kreuz neigen, so neigt ihr das Haupt vor uns. Es ist gottgefällig. Und es ist die Botschaft, auch bei dieser Gelegenheit. Papst Franziskus hat die Mafia verurteilt, gar exkommuniziert, aber das heißt gar nichts, solange die örtlichen Priester nicht den Verbrechern die Kirchentüre ins Gesicht schlagen. Ohne kirchliche Trauung hätten diese Familien in ihrer Umgebung keine Zukunft mehr. Denn hier sind sie kulturell und sozial verankert, auch wenn sie das Geld woanders machen, hier rekrutieren sie den Nachwuchs, in den Familien. Die Kirche versagt, auch weil sie einem “nur” bürgerlichen und gesetzestreuen Leben die erlösende Wirkung abspricht. Und der Staat ist keinen Deut besser, eher schlimmer.Denn er füttert die `Ndrangheta mit öffentlichen Aufträgen, die dann nicht zu Ende geführt werden. Immer wieder liest man Appelle, auch während unserer Reise, sich von ihr abzuwenden. Aber wo die Jugend ihre Zukunft und ihre Perspektiven herbekommen soll, wenn nicht von der Mafia, sagen sie nicht. Wie komme ich zu einem deutschen Nummernschild, wie kann ich anfangen ein Haus zu bauen, auch wenn ich es nicht zu Ende bekomme, warum auch immer? Nur mit Hilfe des organisierten Verbrechens.

San Luca, wo das Böse wohnt
San Luca, wo das Böse wohnt

Es führt nur eine Straße nach San Luca. Die vielleicht mit Geländewagen befahrbare Straße am oberen Ende führt nach Polsi in den tiefsten Aspromonte, nicht weiter. Wenn man vor San Luca einen Carabinieri-Posten einrichten würde, der jedes Fahrzeug kontrolliert, bis darauf, ob das Warnkreuz dabei ist, das wäre wenigstens eine, wenn auch noch so kleine Maßnahme. Ansonsten sind alle Appelle, von wem auch immer, nur das Wischen mit einem feuchten Lappen an einem Haufen Dreck und versöhnen scheinbar mit dem Phänomen des Verbrechens, weil es ja dann doch nicht so schlimm sein kann, wenn solche Sprüche genügen. Echauffieren kann man sich ohne Ende. In Gerace habe ich die Anzeige zum Jahresgedenken eines jungen Carabiniere gelesen, der im Dienst gestorben ist, in Afghanistan. Wenn das die alternativen Lebensläufe in diesem Land sind. Ein anderes Phänomen würde ich auch gerne erklärt bekommen. Egal wo man, jedenfalls in der Provinz Reggio Calabria ist, überall trifft man auf Häuser und komplette Wohnanlagen, bei denen man kurz vor der Fertigstellung Hammer und Pinsel weggeworfen hat. Entweder hat man im Parterre und ersten Stock die Öffnungen zugemauert oder leere Fensterhöhlen starren dich an. Man mag es nicht glauben und hofft zunächst, es mit Wohnungen zu tun zu haben, die jetzt außerhalb der Saison nicht bezogen sind, in denen aber ab Juni bis in den September das Leben tobt. Doch diese Wohnungen waren nie bezogen. Sie wurden begonnen, um sie nicht fertigzustellen.

Konzipiert als Ruinen. Und dieses Phänomen trifft man nicht nur vereinzelt an besonders verwahrlosten Stellen. Wenn etwas als das Charakteristikum Kalabriens gelten kann, dann das: Bauruinen in allen Stadien, von einsam in betonierten Grund gegründeten Pfeilern bis hin zu fertigen Wohnanlagen, bei denen lediglich Gardinen in den Fenstern und Blumen auf den Balkonen fehlen. Doch wie ist so etwas möglich? Die Antworten, die gegeben werden, sind nicht in Deckung zu bringen, und das ist für sich schon wieder spannend. Weil die Antworten Rückschlüsse über die Antwortenden zulassen, seien sie knapp widergegeben. Eine Version sagt, die Familienväter würden für ihre Kinder Häuser bauen, aber da sind dann keine Kinder mehr da, sie zu beziehen. Eine Theorie lautet, bei Bauabschluss müssten Steuern gezahlt werden, also sorgt man dafür, dass es diesen Abschluss nicht kommt. Diese Variante kennt man aus Griechenland. Eine weitere Version lautet, diese Vorhaben würden von amtlicher Seite stillgelegt, weil Vorschriften nicht eingehalten wurden, oder weil der Nachbar dies behauptet hat. In einem Land, wo man bewusst Verstöße in Kauf nimmt, weil die rettende Geldbuße einkalkuliert ist, auch nicht sehr glaubhaft. Eine andere Antwort lautet, hinter den Neubau-Ruinen würden sich die Luxuswohnungen der Mafia-Bosse verbergen, die ihren Reichtum nicht zeigen wollen. Das mag es alles geben, aber als generelle Begründung überzeugt mich das nicht. Ich habe Mafia-Paläste in protziger Pracht auf den Hügeln gesehen. Mafia-Bosse lieben klassische Säulen und Rundbögen, nur stimmt der goldene Schnitt nicht. Und vor wem sollten sich die Mafia-Bosse verstecken? Ich glaube, dass bei den Neubau-Ruinen Fördergelder abgegriffen wurden, und es nur darum ging. Jedenfalls bei öffentlichen Großaufträgen habe ich auch die Bestätigung gefunden:. Bei Ausschreibungen für Straßen, Energieanlagen, Wohnsiedlungen und was auch immer gewinnen Ndrangetha-Firmen. Sie kassieren Vorschüsse und erste Zahlungen, dann geht die Projekt-Firma pleite, und nichts geht weiter. Die Schäden erreichen Milliardenbeträge. Der Staat, so schreibt die Zeitung “Riviera” am 28. Februar 2016, sei dagegen machtlos. Es seien 93 Pleiten im Jahr 2015, mit einer in den Sand gesetzten Investitionssummer von 707 Millionen Euro, 29 mehr als im Vorjahreszeitraum.

“Bei einigen Aufträgen bestand von vorneherein nicht die Absicht der Fertigstellung”, so das Blatt. Inzwischen gäbe es 321, die man noch vollenden könnte. Der Staat ist machtlos? Wenn er es wäre, wenn er die Erfüllung nicht durchsetzen könnte, würde er diese Form von öffentlicher Investition und Ausschreibung sofort beenden. Aber er tut es nicht, und vergibt weiter Aufträge, bevorzugt an dieselben Firmen, wissend und wohl auch wollend was passiert. Warum wohl? Auch der Assessor müsse essen, wurde ich schon in meinen ersten Italien-Jahren belehrt. Der Staat ist nicht machtlos, er könnte die Fertigstellung erzwingen, schon bei der Ausschreibung. Indem er einfach die Vorlage einer Fertigstellung-Versicherung verlangt. Er tut es nicht. L´assessore deve mangiare. Und so rosten Kläranlagen, Kraftwerke und Wohnungen vor sich hin. Groß angekündigte und applaudierte Projekte zur Qualifikation der Menschen gehen nie an den Start. Der Zorn füllt die Zeilen, die sich auch und vor allem dem Schönen öffnen sollten. Denn das gibt es auch. Vibo Valentia mit dem Normannen-Kastell, das Capo Vaticano mit dem einmaligen Blick auf den Stretto, die Straße von Messina, und Sizilien, dann Scilla mit Felsen, Castello Ruffo und Strand, sind alle einen Besuch wert.

Pentedattilo, die verlassene Schönheit
Pentedattilo, die verlassene Schönheit

In Reggio Calabria lädt ein Spaziergang auf dem Lungomare Falcomata ebenso wie auf dem Corso Giuseppe Garibaldi ein. Das Schloss der Aragoner, der Dom und natürlich das Museum mit den Riace-Statuen, welche die Stadt als ihr touristisches Highlight so liebt, dass sie für keine Ausstellung der Welt auf Reisen geschickt werden. Aber in ihrer aseptischen, luftgefilterten Umgebung erinnern sie weniger an griechische Standbilder, Ausdruck von Perfektion in ihrer künstlerischen Darstellung und hellenischer Kraft, als eher an Mumien in Totenstarre. Pentedattilo, das aufgegebene Städtchen am Rande des Aspromonte, in das sich zaghaft Künstler und Handwerker zurücktasten, lohnt den Abstecher ebenso wie das erwähnte Gerace, graue mittelalterliche Festungsstadt, fast so tot wie Pentedattilo. Locri, Hauptort der Locride, mag im Sommer Atmosphäre haben, die lokale Zeitung “Riviera” beschreibt es als “Zona franca” des Verbrechens, das Krankenhaus wird mit einem Todeskopf bebildert, es sei eigentlich keins. “Non è un ospedale.” Wie kann das sein? Wir aßen im Restaurant Cactus, und es war sehr gut. Unser Hotelwirt im “Terre del Sud” war liebenswert und bemüht. Doch wer kommt dort hin außer uns und Leuten, die in der Kathedrale eine Taufe feiern wollten? Sehenswert auch die griechischen Ausgrabungen in Epizefiri, in unmittelbarer Nähe von Locri. Eine Amphitheater und eine Säule, ein Museum und eine Ausgrabungsstätte inmitten des Nichts. Und immer wieder engagierte Menschen, die nicht wahrhaben wollen, dass sie keine Chance haben. Oder sie wissen es, und können nicht anders. Riace wird international für die Aufnahme von afrikanischen Flüchtlingen gelobt. Zu Recht. Domenico Lucano, der Bürgermeister von Riace, inzwischen weltbekannt, erzählt eine märchenhafte Geschichte:

Ein Segelboot mit 217 Flüchtlingen strandete vor Riace. “Politisch links zu stehen”, sagt er, “hat für mich schon immer bedeutet, mich um die Schwächsten zu kümmern.” So wird der Ort, der sich anschickte, das Schicksal von Pentedattilo zu teilen, ein Ort der Begegnung. Lucanos Verein “Città Futura” restaurierte Häuser und vergab Wohnungen. Und weil sich das rechnet, belebte sich die Stadt. “Warum soll ein Mensch vor einem anderen Menschen Angst haben?” fragt Lucano. “Wenn jemand Angst vor einem andern Menschen hat, dann handelt es sich eher um eine psychologische Störung, die er bei sich selbst suchen sollte.” Das Flüchtlingsproblem als medizinisches. Oder als Utopia, wie Wim Wenders anlässlich des 20. Jahrestags des Mauerfalls sagte: “Die wahre Utopie ist nicht der Fall der Mauer”, sagte der Regisseur, “sondern das Zusammenleben der Menschen in Riace.” Klingt gut, ist aber nur ein Teil einer Wahrheit, die funktioniert, weil die Kasse stimmt. Ein Flüchtling kostet Rom 55 Euro pro Tag, in Riace die Hälfte. Und verschwiegen wird auch, dass sie kein Geld sondern Boni bekommen, die nur hier gelten. Warum? Damit sie nicht den Ort verlassen und die Probleme der Großstädte vergrößeren. Nur wollen die Läden und Bars die Boni nicht mehr annehmen, weil sie sehr lange auf die Vergütung warten müssen. Und, so sagt uns Raffaele, der hier geboren wurde und Obst und Gemüse verkauft: “Die profughi und die Einheimischen haben nichts miteinander zu tun. Jeder geht seiner Wege. Es sei denn Journalisten kommen.” Dann werde etwas organisiert.

Blick vom Capo Vaticano auf die Straße von Messina
Blick vom Capo Vaticano auf die Straße von Messina

Stilo ist ein lebendiger Ort, und im benachbarten Bivongi leben die Hundertjährigen, welche die amerikanischen Wissenschaftler angelockt haben, um in ihren Genen das ewige Leben aufzuspüren. Ein Borgo wird jetzt zu einem “vertikalen Hotel” saniert. Wie viele Tage muss ich buchen, um meine Lebenszeit zu erhöhen? In Sella San Bruno wird in den die Reise vorbereitenden Schriften die älteste Certosa Europas zum Besuch anempfohlen. Doch außer einem alten Turm und einem Blick über die Mauer ist da nichts zu sehen. Das Kloster sei nicht zu besichtigen, heißt es. Im Museum könne man “alles finden, was einen am Leben der Mönche interessieren könnte.” Das Museum ist ein Kiosk, mehr nicht. Diese weltabgewandte Arroganz der Orthodoxen ist ein Graus. Dabei ist San Bruno das, was es ist, ein armes, aber sympathisches Städtchen im Gebirge. Vielleicht gilt das für das ganze Kalabrien: Wer etwas in seinen Vorstellungen und durch die Reisevorbereitung Vorgefertigtes sucht, ein archaisches, naturbelassenes Italien, etwa Goethes bukolisches Land, wo die Zitronen blühen, wird enttäuscht. Es stimmt, Zitronen, Orangen und Bergamotte blühen hier, die Fahrt durch den Aspromonte und den anderen Nationalpark, den Sila, ist voller Reiz, und jeden Besuch wert. Aber wer eine Reise nach Kalabrien sorgfältig vorbereitet und hofft, seine Erwartungen erfüllt zu sehen, wird enttäuscht. Selbst der Peterich, der Altvater der Italien-Führer, gibt zu, vieles nicht selbst gesehen und bei seiner Reise verpasst zu haben. Vermutlich hatte er keine Lust, ein zweites Mal zu kommen. Wer dagegen nichts erwartet, wer bereit ist, sich überraschen zu lassen, der Abenteurer, der findet in der riesigen Schlucht zwischen dem Bild, das er mitbrachte, und dem, das er vorfand, reichlich Stoff zum Grübeln und Graben. Nicht nur über Kalabrien, das von Italien verstoßene Kind. Das auf sich alleine gestellt, mit Sicherheit ein failed state wäre, eine staatliche Karkasse. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht sind die Locride und der Rest deswegen eine “zona franca” des Verbrechens, weil der Staat sich darauf beschränkt, Geld hineinzupumpen, das sofort abgegriffen wird, nur nicht zum Wohle des Landes. Doch was bedeutet es für das Bild von bella Italia, das man in sich trägt?

Italien ist nicht schön, denn wie kann das Ganze sich schön nennen, wenn Teile extrem brutta sind, vor Hässlichkeit strotzen? Und was bedeutet das für den Italien-Liebhaber? Kann er wegsehen, wenn am Ortseingang von Rosandra neben einer riesigen Müllhalde, die wohl einmal ein Parkplatz war, sich die Frauen und Töchter von Immigranten prostituieren? Liebhaber zu sein heißt, nicht unbeteiligt sein zu dürfen. Wer in Amalfi träumt und nicht über Locri weint, ein paar Kilometer weiter im Süden, ist ein Heuchler und kein Liebhaber. Schon deswegen, wegen der Tränen, mussten wir die Reise antreten. Das Gute an diesem Europa ist, eines seiner vielen positiven Seiten, dass keiner mehr sagen darf, das geht dich nichts an. Blick´ aufs Meer und dreh´ dich nicht zur Müllhalde um. Keiner kann mehr in die Rolle des gleichgültigen Bewunderers verwiesen werden. Es gibt eine europäische Öffentlichkeit, vieleicht auch eine Verantwortung. Die klassische italienische Frage, ob man Freund sei, dann habe man zu jubeln, oder Feind, dann bitte Klappe halten, die kann man heute mit “Ja, Freund” beantworten, ohne dass daran bestimmte Erwartungen geknüpft werden können. Der Liebhaber Italiens darf nicht nur schreien, wenn er sieht, wie Teile des Landes vergewaltigt werden, er muss es. Und er muss es aushalten, wenn ihm vorgesetzt wird, in Deutschland sei auch nicht alles toll, und wer einen Hitler in seiner Geschichte habe, solle gefälligst die Klappe halten. Alles nur ablenkende Whatabout-Dialektik und alles Bullshit. Und wenn man hört, dass man keinen Ort wie San Luca unter Generalverdacht stellen dürfe, der `Ndrangetha anzugehören. Warum eigentlich nicht? Sicher gilt die Unschuldsvermutung für jeden einzelnen, für eine Gesellschaft gilt sie nicht. Wer soll das denn sein, der in San Luca mit einer Duisburger oder Erfurter Nummer im Mercedes fährt? Ein Schäfersohn, der es in Germania geschafft hat?

In “Anime Nere”, den schwarzen Seelen, wird das Schicksal von drei Jungen aus dem Aspromonte erzählt, die in das organisierte Verbrechen abgleiten. Das kann genauso passieren wie im Roman, jeden Tag, immer wieder in Kalabrien. Die Welt, wie sie uns Raffaele in Riace darstellte, wo einst der Bauer mit dem Esel das Essen für die ganze Familie aufs Feld brachte, ist vorbei. Die Mafia mit den Briganten zu verknüpfen und Robin-Hood-Geschichten draus zu stricken, dass den Reichen genommen würde, um den Armen zu geben. Wirklich nicht, den Armen wird der letzte Rest an Würde genommen, wenn sie um zu überleben Christal Meth in Europas Großstädten verticken müssen. Auch wenn sie dann zu Hause mit einem Porsche zwischen den Ruinen umeinander rasen.

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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