Es ist eine Reise, die uns, wie es bei sicherlich vielen im Jahr 2020 der Fall war, Corona-bedingt nicht ins Ausland führte, sondern Ziele im Inland avisierte. Mit der Pandemie gingen diejenigen, die wir auf der Reise trafen, fast alle verantwortungsbewusst um. In Dagebüll, im Hotel Neuwarft, brachte man die Freiheitsliebe des nördlichsten deutschen Bundeslandes auf originelle Weise ins Spiel: Waren Masken für die Touristen Pflicht, sobald sie sich von ihren Plätzen erhoben oder diese erreichen wollten, hatten die Mitarbeiter Wahlfreiheit: Schnutenpulli oder nicht. Alle meinten: Nö.
Nach welchen Kriterien erfolgte unsere Auswahl der Ziele? Es sollten Nord- und Ostsee dabei, der Weg dahin von München aus abwechslungsreich sein, und vor allem kamen nur Destinationen in die Wahl, die uns noch unbekannt waren. Also begannen wir mit Tüchersfeld und Pottenstein in Franken, gefolgt vom Kyffhäuser, dieser von Celle, Lüneburg, Buxtehude, Dagebüll, Amrum, Plön, Fehmarn, Neustadt in Holstein, Boltenhagen, Gardelegen, Eisleben und Erfurt. Von dort wieder heim. Nun gut, nicht alles war mir neu, ich bin da vielleicht kein guter Maßstab.
Und es ist auch einzuräumen, dass man die Reise quer durch Deutschland auch mit anderen Stationen hätte machen können. Ich bin geneigt zu sagen: mit beliebig vielen anderen. Aber was verbindet die Stationen, was hält sie im Inneren zusammen, macht sie zu einer Reise, die empfohlen und nachgemacht werden kann?
Der erste Teil der Antwort ist einfach und wenig überraschend: Deutschland ist überall schön, jede Ecke hat ihre Reize, ihre Fachwerkhäuser, ihre reetgedeckten, ihre Klinker- und nordischen Holzhäuser. Auch wenn man die Umsatz- und Imagebringer unter den Destinationen weglässt, findet man Dinge, die es nur dort oder nur dort so schön gibt. Ein Land voller touristischer USP, unique selling points. Nirgendwo fanden wir einen Flecken zum Davonlaufen. Und es gibt immer Elemente, die das Zusammengehören mit allen anderen Flecken deutlich machen. Es ist ein Land, trotz seiner Vielfalt. Dabei sind es nicht die Herrschaftsstrukturen ausgehend von den großen, den Regierungsstädten, die das Ganze im Griff haben. Denn viele haben auch ihre Bedeutung verloren, wie die Fürstentümer oder die Hanse. Das verbindende Gefüge ist kapillar und filigran. Es sind Denken und Sprache, die Geschichte und die Geschichten, die alle Teile und Teilchen zu Einem verbinden. Und wenn hier das Wetter „hübsch“ ist, dort „garstig“, wenn ich hier mit „moin“ begrüße und dort mit „hallo“ oder „Grüß Gott“. Freundlich gemeint vereint.
Wenn die Autobahnen die Lebensadern sind, ist das Land dazwischen kein nekrotisches Gewebe, da ist nichts tot, nichts ohne Blut. Kein rechtsfreier, kein aufgegebener, ungepflegter Raum. An der Internet-Abdeckung könnte noch gearbeitet werden, das Eisenbahnnetz verdient eine Revitalisierung, wir sehen viele Schienenstränge nutzlos im Gras liegen.
Der zweite Teil der Antwort verdient ebenfalls Beachtung: Deutschlands größte Fans sind die Ausländer, die hier leben und arbeiten. Wir trafen EU-Bürger aus Italien, Griechenland, Frankreich, Holland. Wir sprachen mit einem Kellner aus Afghanistan, einem Schäfer aus Moldawien, Touristen aus den USA, Hotelangestellten aus vielen Ländern. Sie waren alle froh, hier zu sein; nicht nur wegen Corona. Und dieses „Hier“ meinte in der konkreten Situation eben nicht Berlin, Hamburg oder München, sondern die kleine Stadt, das kuhdünstige Dorf. Man kann also mit einer gewissen Berechtigung sagen, die Ausländer lehrten uns auf unserer Deutschland-Reise, unser Land zu lieben, es ihnen darin nachzutun. Wir brauchen sie also nicht nur, uns das Essen auf den Tisch zu stellen, das leergegessene Geschirr abzuräumen, die Zimmer zu machen oder unsere Schafe zu hüten, wir brauchen sie auch, um unser Deutschsein zu aktivieren, das wir in unserem globalen Reisetaumel im Koffer verräumt haben. Und wenn wir unseren Schatz an Geschichten aus ferner Ländern vor Ort derzeit nicht auffüllen können, die Erzähler sind hier. Reden wir mit ihnen.
Die 16-teilige Serie findet Eingang in eine Foto-Text-Ausstellung „Gesichter Deutschlands“ im öffentlichen Raum in Gräfelfing und in einen Katalog mit gleichen Namen. Der Katalog „Gesichter Europas- eine Reiseliebe“ ist mit der ISBN 978-3-942138-67-3 über die Buchhandlungen oder direkt beim GRÄV-Verlag zu beziehen.
Nächste Folge: Tüchersfeld und Pottenstein
Als leidenschaftlicher Genussmensch tauche ich in die faszinierende Region Burgund in Frankreich ein. Hier gibt es für Weinliebhaber, Kulturfreunde und ... Weiterlesen