Eisleben, nah´ dem Leben, näher dem Sterben

Manche Ortschaften rufen in mir spontane Reaktionen hervor, etwa die auf dem Brennerpass: Ich möchte nicht Tourismuschef von Brennerbad sein, auch wenn der amtierende vielleicht begeistert ist von seinem Job. Was ich dagegen sein möchte, und so ging es mir auch diesmal, als wir auf unserer Deutschland-Tour nach Eisleben in die Lutherstadt kamen, ist dort der für Wirtschafts-Ansiedlungen und –Entwicklungen zuständige Dezernent zu sein. Auch wenn der amtierende diesen Wunsch womöglich gar nicht goutiert. Denn hier ist nichts los, hier dodelt´s, hier könnte man bei Null anfangen.

Die Lutherdekade, die von 2008 bis 2017 währte, ist vorbei. Und ermattet hütet sich jeder Tourismusverantwortliche davor, irgendwelche Jubiläen auszugraben, an denen man irgendetwas Spektakuläres festmachen könnte und dann, einmal in die Welt gesetzt, auch müsste.

Martin Luther wurde am 10. November 1483 in Eisleben geboren. 525 Jahre später, am 8. November 2008, wurde hier feierlich die Lutherdekade in der St. Andreaskirche eröffnet. 2017 dann das Reformationsjubiläum.

Und 2020? „Die Lutherstadt Eisleben mit ihren Ortschaften bietet ihren Bürgern und Gästen ein vielfältiges Kulturangebot an. So öffnet sich in der Landesbühne der Lutherstadt regelmäßig der Vorhang für kurzweilige Aufführungen.“ So die amtliche Verlautbarung.

Aber die „Bringer“, die Quellen, aus denen man schöpfen kann, sind immer noch auf den Reformator zurückzuführen, Luthergeburtshausensemble und das Museum Luthersterbehaus.  Wir besuchen beide und seine Taufkirche, aber wir sind allein, die Quellen scheinen versiegt. Der Markt zu Füßen des Abbilds des Reformators, wo sonst frisches Obst und Gemüse aus der Region und billige Massentextilien aus chinesischen Produktionsstätten angeboten werden, ist bei unserem Besuch verweist. Der Strom der Touristen fließt trotz Corona und des weitgehenden Verzichts auf Auslandreisen an der kleinen Stadt fast völlig vorbei. Man wundert sich kaum noch, warum es immer noch so viel leere und verfallende Häuser in der schönen Stadt gibt, bestaunt außerhalb ihrer Mauern die Berge aus Abraum und Schlacke, Zeugnisse des Bergbaus, der einst ihren Reichtum ausmachte.

Und wir erinnern uns fast wehmütig der vielen Koreaner, die 2017 von so weit herkamen und das, was es von dem größten Sohn der Stadt zu bestaunen gibt, wie Reliquien verehrten und in ihre Selfies integrierten.

Damals hatte uns Ute Klopfleisch, die Kulturdezernentin Eislebens, gesagt: „Die Luthergedenkstätten in der Lutherstadt Eisleben wurden im Dezember 1996 als Kulturerbe der Menschheit von der UNESCO anerkannt. Sie repräsentieren einen bedeutsamen Abschnitt in der Geschichte und haben als Schauplätze der Reformation universelle Bedeutung.“

Man kann das alles nachlesen, und die Geschichte passt zum Ambiente, wenn fromme Dichtung und Wahrheit verschwimmen. Das spirituelle Gefühl zählt. Heute befindet sich das „Hotel Graf Mansfeld“ in dem historischen Sterbehaus. Es ist geöffnet, uns scheint es, als wäre es das einzige Haus, das Leben in sich hat. Hinter dem Haus gibt es ein kleines Café im Freien, und dort treffen wir tatsächlich Menschen, die sich auf die Spuren des Reformators gemacht haben.

Das wichtigste Museum ist neben dem Sterbehaus-Museum, einige Schritte oberhalb des Hotels, in dem wir die Besucher aus Kassel trafen,  das sanierte und um Ausstellungsräume erweiterte Geburtshaus in der Lutherstraße, ein geschickter Anbau, der dessen ursprüngliche Substanz nicht angegriffen hat. Auf 700 Quadratmetern Ausstellungsfläche zeigt die Ausstellung „Von daher bin ich – Martin Luther und Eisleben“ die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Luthers Kindheit und Jugend prägten. Dargestellt im Museum wird auch die Spiritualität des Spätmittelalters, und wir haben das Gefühl, berührt zu werden und an Verständnis zu gewinnen. Hier werden rund 250 Exponate aus der Zeit zwischen dem 13. und dem 19. Jahrhundert gezeigt.

Im Sterbehaus-Museum gibt es aktuell keine besondere Ausstellung, es widmet sich der allgemeinen „kulturellen Bildung“.

Unweit, in der St.-Petri-Pauli-Kirche, Luthers Taufkirche,  dominiert ein Ganzkörpertaufbecken. Mit der Taufe hatte man es eilig, die Kindessterblichkeit war hoch. Seit 2012 ist die St. Petri-Pauli-Kirche wieder eröffnet. In der St.-Andreas-Kirche, die Pfarrkirche der Eisleber Altstadt, hielt Martin Luther in der Zeit vom 31. Januar bis zum 15. Februar 1546 seine vier letzten Predigten und führte zwei Pfarrer in ihr Amt ein. Am 19. Februar erfolgte hier die Aufbahrung des toten Reformators, ehe der Leichnam über Halle in die Schlosskirche nach Wittenberg überführt wurde. Dieses Mal sind uns die St. Andreas- und die St. –Petri-Pauli Kirche verschlossen.

Die Ausstrahlung und Faszination dieser Stätten scheint uns verblichen. Es fehlen die Besucher. Vielleicht hält die Erschöpfung infolge des Jahres 2017 noch an.  Es benötigt vielleicht einer neuen Anstrengung, etwa auf den Lutherweg aufmerksam zu machen, der  in Sachsen-Anhalt auf 410 km Länge durch tiefe Wälder und vielfältige Kulturlandschaften läuft. Nach Mansfeld mit dem Elternhaus Martin Luthers ist es nicht weit. Dann gibt es die Städte Allstedt und Stolberg, die neben dem thüringischen Mühlhausen mit Thomas Müntzer, dem Anführer der Bauern in ihren Kriegen um Freiheit, verbunden sind. Es gibt vieles zu entdecken, vom Süßen See über Wippra bis nach Stolberg.

Ab dem 17. August 2020 öffneten die Eisleber Theaterkassen für die Spielzeit, die am 31. August, 12 Uhr beginnen soll, unter dem Motto „Die Wahrheit und die Menschlichkeit“ (Iphigenie V.3.) zum ersten Mal mit der Premiere eines Kinderstücks auf der Großen Bühne. Das Augenmerk ist auf den Publikumsnachwuchs und der Blick ist nach vorn in die Zukunft gerichtet.

Das ist richtig und notwendig. Die Bevölkerungsentwicklung verzeichnet nicht nur seit der Wende, sondern auch seit 2011 einen Rückgang,   minus 4,8 Prozent. Und immer mehr Stellen sind zu besetzen. Das ist das einzige, was hier boomt: Stellenanzeigen. Ein schwieriger Job, die Wirtschaftsförderung,  vor allem, wenn Martin Luther nicht mehr helfen kann. Vielleicht wäre ich in Brennerbad doch besser aufgehoben.

Diese 16-teilige Serie findet Eingang in eine Foto-Text-Ausstellung „Gesichter Deutschlands“ im öffentlichen Raum in Gräfelfing und in einen Katalog mit gleichem Namen. Der Katalog „Gesichter Europas- eine Reiseliebe“ ist mit der ISBN 978-3-942138-67-3 über die Buchhandlungen oder direkt beim GRÄV-Verlag zum Preis von 15 Euro zu beziehen.

Nächste Folge: Erfurt

Eisleben, Luther und ein leerer Markt

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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