Eine Geschichte von Hase, Igel, der Elbe und einer eigenen Art zu denken

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Buxtehuder Wege

Hatte ich doch gedacht, der Spruch „Ick bün al hier“ bezöge sich auf den Wettlauf von Hase und Igel und die Tatsache, dass der Igel trotz seiner kürzeren Beine die Nase immer vorne hatte. So erzählt es das Märchen, und das spielt in Buxtehude, der komischen Stadt, in der die Hunde mit dem Schwanze bellen. Überall stößt man in dem malerischen Städtchen auf die seltsamen Tiere und ihre Artgenossen. Ballettaufführungen, Kunstausstellungen, Kinderbücher, Souvenirs, Figuren groß wie Riesen. Dann begegnen uns auf ihren Rundgängen die Gästeführerinnen in Hase- und Igelkostümen, die ihre Kunden schließlich am Has’-und-Igel-Brunnen in die zahlreichen Cafés und Wirtshäuser entlassen. Leider kamen wir für das 3. Internationale Märchenfestival 2020 zu früh. Vom 19. bis 27. September 2020 soll es stattfinden mit Lesung, Theaterstücken, Ausstellungen und Vorträgen. Hoffentlich macht Corona keinen Strich durch die Rechnung, und Covid 19 ist nicht „al hier“.
Und wenn sich der Spruch nicht auf die Epidemie bezieht, dann vielleicht auch nicht auf den von den Igeln trickreich gestalteten Wettlauf, vielleicht ist es eine Allegorie und meint: Hier sind die Hansestädte Buxtehude und Stade, hier ist der Obstgarten Altes Land, hier ist der mächtige und doch schon etwas müde erscheinende Elbstrom. Und du, Hansestadt Hamburg, du bist zweiter Sieger.
Dass unser Hotel mit dem Namen „Hanse“ damit warb, es liege nur 15 Kilometer entfernt von der TU Hamburg und als Adresse die Hamburger Chaussee angab, war schon verdächtig. Wir hatten uns auf der Hinfahrt schon gewundert, dass überall Schilder mit den Namen Hamburger Stadtteile auftauchten. Dabei wollten wir dort gar nicht hin. Natürlich habe ich nichts gegen Hamburg, bin da mal zur Schule gegangen.
Wir machten uns also auf in die Innenstadt von Buxtehude in entgegengesetzter Richtung zur TU, genossen in dem eindeutig nicht Hamburger Lokal Dionysos die Atmosphäre fröhlicher Menschen, die sich nicht daran störten, dass ihnen die Autos mehr oder weniger durch die Beine fuhren. Wer Recht hatte, der Grieche Georgiadis mit der Inanspruchnahme der Straße oder die Pkws mit der Überfahrung eines Fußgängerbereichs, es kümmerte niemanden, auch die hellenischen Südländer blieben nordisch kühl. Wir bestaunten die historische Hafenanlagen an der Este und die Gassen mit den stolzen Fachwerkfassaden aus der Hansezeit, liefen den Fleth an der einen Seite hinunter, an der anderen wieder hinauf, und dachten, was für eine schöne Stadt!
Dann ging es ins Alte Land, das weit mehr ist als eine Äpfel- und Birnenplantage. Das Alte Land ist ein Teil der eingedeichten Elbmarsch südlich der Elbe in Hamburg und in Niedersachsen. Es umfasst die Gemeinden Jork, Lühe und den Neu Wulmstorfer Ortsteil Rübke in Niedersachsen sowie die Hamburger Stadtteile Neuenfelde, Cranz und Francop. Das ganze Land zeigt Spuren unterschiedlich alter Besiedlung, zuerst die Sachsen, dann die Holländer, die mit der Hogendiekbrücke über die Lühe in Steinkirchen eine Erinnerung bekamen, später die Dänen und die Schweden. Herausgebildet hat sich ein typischer Stil des Alten Landes, niederdeutsche Hallenhäuser, meist als Zweiständerbauten errichtete Fachwerkhäuser mit aufwendigen und prunkvollen Giebelgestaltungen, mit weißen Fachwerkhölzern und roten Ziegelausfachungen. Sie gehören zu den Höhepunkten der Bauernhausarchitektur in Deutschland. Oder erkennbar ist der eigene Stil in der Prunkpforte „Grot Dor“ als Zeichen des Wohlstandes, ebenso die alte Orgel von St. Martini et Nicolai in Steinkirchen. So ist das Alte Land mehr als ein beliebtes Naherholungsziel oder ein Obstgarten. In Jork fanden wir Erinnerungen an große, stolze Zeiten. Das bauliche Ensemble rund um den Gräfenhof spricht deutlich davon, nicht in einem Apfeldorf zu sein. Das Alte Land verfügte seit dem Mittelalter über eine Selbstverwaltung, zuletzt seit 1885 in Gestalt des preußischen Landkreises Jork, der neben dem Alten Land auch die Stadt Buxtehude und die Gemeinde Neuland umfasste. Hier heiratete Gotthold Ephraim Lessing am 08. Oktober 1776 Eva Koenig. „Mit seiner Art zu denken wollen wir uns verbinden“, so formuliert es der Bürgermeister heute. Er belebe “unbegrenzte Neugier, die alles anstaunt und erkennen will, auf mancherlei Spuren geräth, aber keine bis zum Ende verfolgen konnte, Ansichten zeigt, aber in Gegenden, die oft des Anblicks kaum werth sind”. So beschreibt Lessing seinen Entdeckergeist.
Erstmals schriftlich erwähnt wird der Obstanbau an der Niederelbe im Stadtbuch von Stade, wo am 25. März 1312 von einem innerhalb der Stadt gelegenen Pomarium (Obstgarten) der Herren des Klosters Sankt Georg die Rede ist. Heute reifen auf fast 11000 Hektar Kirschen, Birnen, vor allem aber Äpfel. Um die Kirschbäume vor räuberischen Vögeln, hauptsächlich vor Staren (auf plattdeutsch „Spreen“) zu schützen, verwendete man „Klappermühlen“, kleine Windmühlen an langen Stangen, die laute klappernde Geräusche von sich gaben, oder die jungen Leute wurden zum Spreenhüten mit Handklappern und Rufen geschickt. Heute hört man kein „hoi hoi hoi“ oder „schu schu“ mehr, heute werden Netze über die Bäume gezogen.
Dann geht es zum Strom, am Lühenanleger bestaunen wir die Elbe, große Schiffe, und weit im Osten sind sogar die Kräne des Hamburger Hafens erkennbar. Am Hang des Deiches treffen wir Vassili aus Moldawien mit seiner Schafherde. Er erzählt von seinem bewegten Leben und beklagt sich, dass die Touristen die Absperrungen zum Schutz der Tiere und der Deiche oft nicht respektieren würden. Eine Geschichte, die er nicht erzählt, spielt sich direkt vor unseren Augen ab. Blickt man auf die Elbe, sieht man drei Inseln, den Hahnoefersand, dahinter Hanskalbsand und Nessand, dahinter wieder die Elbe und dahinter ist Wedel mit der Schiffs- Begrüßungsgaststätte Willkomm-Höft. Die Inseln gehören zu Jork, damit zu Niedersachsen. Aber auf Hahnoefersand befinden sich die Justizvollzugsanstalten der Freien und Hansestadt Hamburg. Hamburg will die Gefängnisse, deren Mitarbeiter in Jork und Umgebung leben, nach Schleswig-Holstein verlagern, hat Pläne, die allerdings mit den Plänen von Jorks Bürgermeister nicht kongruent sind. Der will ein touristisches „Leuchtturmprojekt“, wie Bürgermeister Matthias Riel sagt. Der Friede ist gestört, in Jork wird, wer es hören will, daran erinnert, dass bereits 1989 die Stadt Hamburg Pläne hatte, Hahnoefersand abzubaggern, um das neue Airbus-Gelände aufzuschütten.
Ein Streit, der sich mit der märchenhaften Landschaft des Alten Landes nicht verträgt. Und es ist nicht ausgemacht, ob der Igel am Ende die Nase vorne hat, und wer hier eigentlich Igel und wer Hase ist.
Die 16-teilige Serie findet Eingang in eine Foto-Text-Ausstellung „Gesichter Deutschlands“ im öffentlichen Raum in Gräfelfing und in einen Katalog mit gleichem Namen. Der Katalog „Gesichter Europas- eine Reiseliebe“ ist mit der ISBN 978-3-942138-67-3 über die Buchhandlungen oder direkt beim GRÄV-Verlag zum Preis von 15 Euro zu beziehen.
Nächste Folge: Dagebüll, die Halligen

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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