Der Kairos Wittenbergs

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Ingmar Bergmann
Wittenberg 1517
Der Stadtführer Glaubig in der Schlosskirche
Der Markt der Lutherstadt Wittenberg

Einen Kairos (Καιρός) nannten die Griechen einen Moment, in dem vieles glücklich zusammenkommt. Als einen solchen bezeichnet Dr. Stefan Rhein, Direktor der Luthergedenkstätten Wittenberg, bei einem den geladenen Journalisten gewährten Preview, so heißt die Besichtigung einer Ausstellung vor ihrer Eröffnung, die Tatsache, dass vor 500 Jahren vieles zusammenkam, was die Reformation nicht nur begünstigte, sondern überhaupt erst ermöglichte: Friedrich der Weise, Kurfürst, hatte 1502 in dem 1900- Seelen- Städtchen eine Universität eröffnet. Hier gab es nur flache Hierarchien, und was man an die Kirchentür hämmerte, hallte rasch durchs ganze Land. Hier traf Luther nicht nur auf den genialen Bildungsprediger Philipp Melanchthon, hier hatte der malende Apotheker Lucas Cranach seine Werkstatt, hierher strömten bald 3000 Studenten, dazu begnadete Professoren, und der Herr über das Treiben, Friedrich, bezog zwar keine Position, die ihn in seinem kleinen Fürstentum hätte gefährden können, aber er hielt über alles seine schützende Hand, vor allem über den Mönch, der sich zwar nicht mit ihm anlegte, dafür aber mit dem Papst Gregor I , dessen Bannbrief er zum großen Gaudium seiner Studenten öffentlich verbrannte, und mit dem Kaiser Karl V, dem er auf dem zu seiner Bestrafung einberufenen Reichstag in Worms trotzig die Stirn bot.
500 Jahre ist der Thesenanschlag, mit dem Luther den Ablasshandel geißelte, jetzt her. Und die Erinnerung an ihn liefert wieder einen Kairos, unter anderen Voraussetzungen und mit anderen Maßstäben, aber doch groß genug, so der Oberbürgermeister Torsten Zugehör, dass Wittenberg, die Stadt die sich „Lutherstadt“ nennt, danach ein anderer Ort sein könnte: „Das kann mit einer Stadt etwas machen, ein positives Schwingen auslösen“. Seine Bürger sind sich nicht sicher, ob sie den Ansturm der Besucher gut finden sollen, daher macht Zugehör Themenabende, um die Sorgen der Bürger zu zerstreuen. Einiges an Programm kommt zusammen in diesen Wochen, die vor uns liegen. Vielen erscheint es fast zu viel, aber wer außer unserer Journalistengruppe muss alles sehen, was es zu sehen und zu hören gibt? Jeder kann auswählen, in Wittenberg und in den beiden zentralen Ländern der Reformation, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Bleiben wir in Wittenberg, das Angebot ist riesig genug. Natürlich haben wir Dinge gesehen, die uns besonders gefielen. Aber da das eine individuelle Sache ist, hier der Versuch eines Überblicks:
1. Stadtführungen
Wir haben unseren Weg in die Welt der Reformation mit einem Stadtführer begonnen, mit Johannes Glaubig, was sehr empfohlen werden kann. Man sollte dies rechtzeitig tun, wenn man ihn als Gruppe persönlich haben will, aber auch, um sich einer der angebotenen Themenwanderungen anzuschließen. Diese gehen von „Waschweib Marie und Schankmagd Johanna bei ihrer Stadtführung“ über „Martin Luther und Katharina von Bora“ bis hin zu „Denkmal Lucas Cranach“, „Pilger Paul bei seiner Stadtführung“ und „Schwarze Beulen und fauler Atem – Eine Pestführung“. Johannes Glaubig weiß auch sonst eine Menge über seine Stadt zu erzählen. „Ich bin stolz darauf, was geschafft wurde“, sagt er, meint dies aber nur im Hinblick auf das Erscheinungsbild seiner Stadt, nicht im Hinblick auf die Missionierung der Wittenberger, die auch nach Ende der Luther-Dekade zu 80 Prozent Atheisten sind, während sein Oberbürgermeister schier daran verzweifeln will, dass einige Mitbürger nicht bereit sind, ihre leer stehenden Häuser in Ordnung zu bringen. „Was die Kommune tun konnte, hat sie getan“, sagt Zugehör, „die anderen versuche ich mit Briefen in Bewegung zu setzen.“ In „positive Schwingungen“ eben.
2. Lutherhaus
Nach der Stadtführung begibt sich unsere Gruppe ins Lutherhaus, das heute das größte reformationsgeschichtliche Museum der Welt beherbergt. Es ist das ehemalige Augustinerkloster, das im Zuge der Reformation aufgelöst und der Familie Luther 1532 als Wohnhaus übereignet wurde. Nach dem Tod Luthers übernahm die Universität das Gebäude und baute es zur Unterkunft für Stipendiaten um. Eine Dauerausstellung erzählt vom Leben und Wirken Martin Luthers. Die original erhaltene Lutherstube erinnert an die einstigen Tischgespräche des Reformators. Kürzlich (2004) ausgegraben wurde auch der „locus“, auf dem, wie es Stefan Rhein erzählte, Martin Luther seine „reformatorische Erkenntnis gewonnen“ haben soll. Dass er unter chronischer Verstopfung litt ist kein Geheimnis. „Da fing ich an“, zitiert Rhein, „die Gerechtigkeit Gottes als eine solche zu verstehen, durch welche der Gerechte als durch Gottes Gabe lebt, nämlich aus dem Glauben. Da fühlte ich mich wie ganz und gar neugeboren, und durch offen Tore trat ich in das Paradies ein.“
3. Die Nationale Sonderausstellung „Luther! 95 Schätze – 95 Menschen“
Drei Sonderausstellung gibt es, eine in Berlin „Der Luther Effekt“, auf der Wartburg „Luther und die Deutschen“ und in Wittenberg „Luther! 95 Schätze – 95 Menschen“ verbunden mit der auf Kinder und Jugendliche abzielende Sonderausstellung „Der Mönch war`s“. Alle drei sind einen Besuch wert. Aber der Teil „95 Menschen“ ist vielleicht der interessanteste. Während man bei den vielen Ausstellungen sich oft zu Demut und einseitiger Bewunderung genötigt sieht, fordern Friedrich Nietzsche, Käthe Kollwitz, Martin Luther King und viele andere dazu auf, sich mit Luthers Lehren und Wirken auseinanderzusetzen. Julius Streicher, der sich im Nürnberger Prozess auf Luther und dessen Antisemitismus berief, steht hier neben Sophie Scholl. Dem Kurator Haselhof ist hier ein großer Wurf gelungen. Natürlich ist auch der andere Teil, die „95 Schätze“ sehenswert. Gezeigt werden 319 Exponate, die das Leben, das Werk und die Wirkung Martin Luthers veranschaulichen. Ausgestellt werden unter anderem das eigenhändig verfasste Testament Martin Luthers, sein hölzerner Schreibkasten sowie der elchlederne Mantel, den Schwedens König Gustav Adolf 1632 bei seinem Tod in der Schlacht bei Lützen trug, mit Einschussloch. Natürlich hat Stefan Rhein, der Direktor der Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt Recht: „Wo, wenn nicht in Wittenberg sollte eine große Ausstellung Martin Luther würdigen?“
4. Melanchthonhaus
Auch das Melanchthonhaus, sein ehemaliges Wohnhaus, erzählt mit der Dauerausstellung „Philipp Melanchthon: Leben – Werk – Wirkung“ über das Leben und Wirken von Philipp Melanchthon und lohnt einen Besuch. Und nicht nur Stefan Rhein meint, das der „äußerlich unscheinbare Freund der eigentlich genialere von beiden gewesen sei“.

5. Schlosskirche
An die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg schlug Luther seine 95 Thesen, die die Welt veränderten. Mit dem Slogan „die volle Wucht der Reformation“ und „3xHammer.de“ will man Zweifler zur Ruhe bringen, die meinen, er hätte seine aufrührerischen Thesen versandt. Aber in einem ausgestellten Brief seines Mitarbeiters Georg Rörer an Albrecht von Brandenburg vom 31. Oktober 1517 steht „affixit“, und das heißt anheften. Was damals durchaus üblich war. Im Kircheninneren können das Grab Luthers, die letzte Ruhestätte des Melanchthons und, wenn man Glück hat, ein Altarbehang, den Königin Margrethe II selbst entworfen und bestickt hat, besichtigt werden. Die Ausstellung „Der Luther Effekt“ im Martin-Gropius-Bau in Berlin belegt anschaulich die Bedeutung des lutherischen Glaubens für Schweden.
6. Stadtkirche
Die Stadt- und Pfarrkirche St. Marien, die Luthers Predigtkirche war, in der erstmals die Heilige Messe in deutscher Sprache gefeiert und das Abendmahl zum ersten Mal an die Gemeinde ausgeteilt wurde, darf bei einem Rundgang durch die Stadt nicht fehlen. Die Stadtkirche, das wohl älteste Gebäude der Stadt, gilt daher als „Mutterkirche der Reformation“. Vieles fiel den Bilderstürmern zum Opfer, aber Lucas Cranachs d.Ä. Reformationsaltar ist noch zu bewundern. Auch am als “Judensau” bezeichneten umstrittenen Relief an der Außenseite der Kirche aus dem Jahre 1305 sollte man nicht achtlos vorüberlaufen. Eine Bodenplatte versucht eine Einordnung.
7. Klosterkirche
Eine Überraschung erlebt der Besucher in den Räumlichkeiten der Historischen Stadtinformation. Im Jahr 2009 entdeckten Arbeiter bei Bauarbeiten auf dem Gelände des alten Franziskanerklosters in der Lutherstadt Wittenberg die Grabstätte des Herzogs Rudolf II. von Sachsen-Wittenberg, der von 1356-1370 als Kurfürst regierte. Der Herzog gehörte zum Geschlecht der Askanier, einem deutschen Uradelsgeschlecht. Man hat um sie herum eine Installation aufgebaut, die in eine mittelalterliche Kathedrale versetzt. Hier wird die Geschichte der Askanier, die in Vergessenheit geraten sind, nacherzählt. Stefan Rhein sagt zwar, das habe mit Luther nicht zu tun. „Aber Wittenberg ist eben nicht nur Luther.“ Wenn eine Stadt die Bezeichnung „protestantisches Rom“ verdient, dann sei es vielleicht doch diese Stadt.
8. Weltausstellung
Es ist ein großer Name, der sich uns Teilnehmern der „1. Pressesternfahrt Mitteldeutschland – das Herz der Reformation“ nicht so recht erschloss, was sich vielleicht auch damit begründen lässt, dass immer noch daran gearbeitet wird. Immerhin bedeutete es einen dankbar angenommenen Rundgang durch die ehemaligen Wallanlagen der Stadt.
„Sieben Tore der Freiheit“ und die damit verbundenen Themenbereiche sollen „den Blick für die Zukunft öffnen“: Welcome, Spiritualität, Jugend, Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, Globalisierung, Ökumene und Religion und Kultur heißen die „Torräume“, in denen sich Kirchen aus aller Welt, internationale Institutionen, Organisationen, Initiativen und austoben können. Dazu haben sie 16 Themenwochen Zeit.
9. Luther 1517
Mit dem 360°-Panorama LUTHER 1517 von Yadegar Asisi ist sicherlich ein Highlight entstanden, das uns Seifert Camilo sachkundig erläuterte. Es widmet sich den Ereignissen in Wittenberg vor 500 Jahren. Der Zeitgeist an der Grenze des Mittelalters zur Neuzeit, das Leben zwischen Individuum und sozialer Bestimmung, der Alltag aus feudalem Prunk und gelehrter Askese, sowie Sorgen und Freuden der kleinen Leute werden erlebbar, damit auch viele Entwicklungen nachvollziehbar. Allerdings bedarf es der Erläuterung, und man sollte unbedingt an einer Führung teilnehmen.
10. Luther und die Avantgarde
Eine Kunstausstellung im Alten Gefängnis widmet sich einer aktuellen künstlerischen Bestandsaufnahme. Rund 70 Vertreter der internationalen Gegenwartskunst treffen auf Martin Luther, der als „Ideengeber und soziokultureller Avantgardist seiner Zeit“ bezeichnet wird. „Luther war entschlossen, die Welt zu verändern – wer verändert sie heute?“
11. Kirchentage
Sechs „Kirchentage auf dem Weg“ sollen darauf ihre Antwort geben. In Leipzig, Magdeburg, Erfurt, Jena, Weimar, Dessau-Roßlau, Halle, Eisleben finden sie statt und erleben mit dem Festgottesdienst vor den Toren Wittenbergs am 28. Mai 2017 ihren Höhepunkt.
Die Lutherdekade war ein gigantisches Unterfangen, das jetzt in Wittenberg, Eisenach, Erfurt, Eisleben und anderen Städten seinen Höhepunkt zelebriert. In einer überwiegend von Atheisten bewohnten Gegend ist es zugleich ein flammender, missionarischer Apell, obwohl das nirgendwo herausgestellt wird. Für jeden, Lutheraner, Katholik oder Nichtgläubiger, sind die jetzt beginnenden Wochen der richtige Moment, sich mit dem Reformator Martin Luther auseinanderzusetzen. Wann, wenn nicht jetzt? Das ist ein Kairos, Stefan Rhein hat Recht.
Informationen:
www.3xhammer.de; www.martinluther.de
Tourist-Information Wittenberg: +49 (3491) 4986-10; info@lutherstadt-wittenberg.de.

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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