Das Programm steht, vor wenigen Tagen wurde es vorgestellt. Das Jahr, in dem Chemnitz Kulturhauptstadt Europas sein wird, beginnt am 18. Januar 2025. Wirklich? Chemnitz? Hauptstadt von Dunkeldeutschland? Ja, die Mitbewerber wurden aus dem Feld geschlagen. Glück auf! Warum? Das spielt keine Rolle, es ist durch. Und die begeisterten Reaktionen und das manifeste Mitmachen der Bürger zeigen zweifelsfrei, dass hier nichts aufgesetzt ist, dass es keine in ein bodenloses Fass geworfene Unterstützung ist. Darum soll auch Schluss sein mit den Unterstellungen und Diffamierungen.
Das Nichtgesehene sehen
Wir haben uns in der Stadt umgesehen.
Das Motto für 2025 heißt „C the Unseen“, wir haben uns jetzt schon darum bemüht, das Nichtgesehene zu sehen. Das Programm hat reise-stories bereits vorgestellt.
Seit der Flüchtlingswelle 2015 steht Sachsen in den Medien immer wieder in der Kritik. Vor allem Chemnitz ist für viele – für viele außerhalb der Stadt – die Stadt des Rechtsextremismus in Deutschland. 2018 gab es Gewaltausschreitungen und einen Schulterschluss der AfD mit Neonazis. Und während sich die einen immer weiter radikalisieren, schienen sich immer mehr Menschen im Land genau daran zu gewöhnen, dass sich Rechtsextremisten in der Gesellschaft breit machen. Bereits kurz nach den Ausschreitungen schließen sich acht Männer im September 2018 zur Gruppe „Revolution Chemnitz“ zusammen. Und jetzt sind es die „Sächsischen Separatisten“, die von der Polizei hochgenommen wurden.
Nicht nur in Chemnitz ein Problem
Rechtsextremismus ist ein Problem, nicht nur in Chemnitz. Dort dominiert eine Bürgergesellschaft, die die Kulturhauptstadt gewollt und durchgesetzt hat, dort stellen die Sozialdemokraten den Oberbürgermeister, der gegen eine christdemokratische Bewerberin angetreten war. Mag Michael Nattke vom Kulturbüro Sachsen e. V. auch recht haben, dass sich „diejenigen, die damals die rechten Protagonisten waren, weiter radikalisiert haben.“ Aber die gegründete Partei ist eine Splittergruppe. Die bürgerlichen Kräfte dominieren.
“Endlich stolz auf Chemnitz”
Entscheidend ist heute, dass die Chemnitzer, jedenfalls die, mit denen wir reden konnten, „endlich stolz auf Chemnitz“ sind. Die „stille Mitte“ der Stadt beginnt sich zu artikulieren. Im Bewerbungsbuch zur Kulturhauptstadt fanden sich auch Projekte zum Kampf gegen Rechtsextremismus und zur politischen Bildung. Es gab und gibt viele Aktionen, die den Bürgern Kultur näherbringen. „Die Kulturhauptstadt gibt uns Mut“, sagt ein Jugendlicher, den wir am Roten Turm ansprachen, „dass wir uns Chemnitzer wieder mehr für Demokratie, Kultur und Europa begeistern können. Jetzt muss die Kultur nicht mehr betteln und bangen.“
Die Gestalter der Zukunft
Alle die Menschen, die sich immer wieder engagiert hatten, bekamen so nun endlich eine Ermutigung, eine Bestätigung. In Chemnitz kann die Zukunft noch gestaltet werden. Mit dabei im Kampf gegen Minderwertigkeitskomplexe und demokratischen Defizite der Verein AGIUA e.V. Migrationssozial- und Jugendarbeit in Chemnitz. „Wir stehen für ein Handeln nach den menschlichen Grundwerten eines solidarischen und empathischen Umgangs miteinander. Wir wirken auf eine demokratische, diskriminierungsfreie und antirassistische Gesellschaft hin, in der Diversität anerkannt und geschätzt wird, sowie gleichberechtigte Teilhabe Realität ist.“ Das klingt pathetisch, aber mitten in einer Plattenbausiedlung, im „Haus der Kulturen“, wird es gelebt, wenn etwa jeden Freitag Menschen unterschiedlichsten Alters und Nationalität bei Kaffee und Kuchen zueinanderfinden und reden. Miteinander reden ist der Schlüssel zu allem. „Die Gemeinschaft spielt in unserem Verein eine große Rolle, denn alle unsere Projekte ergänzen sich sehr gut miteinander“, meint Rola Saleh, die als Sozialarbeiterin hauptamtlich für den Verein arbeitet. „Es gibt sehr viele Menschen, die wegschauen, die sagen, es interessiere sie nicht oder habe nichts mit ihnen zu tun – und diese Mentalität stört mich, aber es gibt auch viele Deutsche, die sich für die Geflüchteten engagieren, die nicht wegschauen, wenn jemand angepöbelt wird.“
Tage der Toleranz
Seit 1991 finden in Chemnitz die jährlichen Tage der jüdischen Kultur statt. Das Festival wird vom Verein „Tage der jüdischen Kultur in Chemnitz e.V.“ in Zusammenarbeit mit der Jüdischen Gemeinde, dem Evangelischen Forum Chemnitz und dem Bürgerverein FUER CHEMNITZ e.V. ausgerichtet. Die Tage der jüdischen Kultur befördern Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Lebensformen. Ruth Röcher, die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde: „Die Tage der jüdischen Kultur sind eine großartige Sache. Keine sächsische oder sogar ostdeutsche Stadt kann ähnliches vorweisen. Wir begehen in diesem Jahr das 31. Festival. Und dies ist ein schönes Beispiel für das Zusammenspiel zwischen Christen und Juden. Heute füllen wir zwei Wochen mit 70 bis 80 Veranstaltungen und haben dafür extra einen Verein gegründet, der mit fast allen Kultureinrichtungen der Stadt zusammenarbeitet.“
Es gibt Vereine, die sich zwischenmenschlich engagieren, und es gibt Kultur auf grass- roots – Niveau. Das Kiez-Atelier No.1 zum Beispiel ist eine allen offene Werkstatt, die eine „kreative und inspirierende Umgebung“ für alle bietet, die sich für Kunst, Handwerk und Reparatur interessieren. Ein besonderes Angebot im Kiez-Atelier No.1 ist der Kunstnachmittag. Unter der Anleitung von erfahrenen Künstlern können Kinder Techniken und Materialien ausprobieren und ihre eigenen Kunstwerke schaffen.
Chemnitz, der schöne Underdog
Und hinter den einzelnen Aktivitäten, von denen es noch mehr als die hier aufgezählten gibt, lebt der Rahmen, die Stadt. Und die ist schön. Wandbilder, Brunnenskulpturen, häufig Männer und Frauen, die ihre proletarische Herkunft zeigen wollen. Die Häuser in der Innenstadt haben Blumenkästen und Balkone. Am Tietz-Parkplatz laufen archäologische Ausgrabungen. Das Restaurant „ Shalom“ bietet Chemnitzer Küche. Im Lichthof des Kulturkaufhauses „DAStietz“ ist ein fossiler versteinerter Wald zu bestaunen und Karl Marx’ Kopf, der „Nischel“ ragt hoch über die Brückenstraße.
Chemnitz war ein Underdog. Doch der Gewinn der Kulturhauptstadt ist Balsam für die verletzte Seele der Stadt. Einst war sie eine reiche Industriestadt des 19. und 20. Jahrhunderts, hier wurde das Geld erwirtschaftet, das in Leipzig verwaltet und in Dresden ausgegeben wurde. Sagt der Volksmund. Mit der Hilfe der Kultur soll nun wieder ein stolzes Kapitel Stadtgeschichte geschrieben werden.
„Wirtschaftsstrategie Chemnitz 2030“
Was für die Kultur die europäische Hauptstadt 2025 ist, das ist für die Industrie die „Wirtschaftsstrategie Chemnitz 2030“. Sie will die Stadt „als modernen, international wettbewerbsfähigen und nachhaltigen Wirtschaftsstandort“ positionieren. Die Strategie fokussiert den Ausbau der industriellen Wertschöpfung und zeigt Handlungsfelder auf, in denen die Stadt ihre Kräfte künftig bündelt. Es werden darin Schnittstellen angelegt zu Handel, Dienstleistung und Gesundheitswirtschaft. Die Strategie setzt auf das Potenzial als regionales Kraftzentrum, um über die Fokussierung auf die drei strategischen Handlungsfelder (Mobilität, Digitalisierung, Energie) Technologieführung und Produkte für die Weltmärkte zu entwickeln und daraus neues Wachstum zu erzeugen. Wenn die Wirtschaftsinitiative den Elan entwickeln kann wie die Kulturhauptstadt, ist Großes zu erwarten, Start-Up-Szene und Gründernetzwerke stehen bereit. Die Technische Universität Chemnitz hat bereits Hunderte Start-Ups hervorgebracht, in denen Fachkräfte Arbeitsplätze finden. Neben innovativen Unternehmen zählt die Stadt 50 Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen, darunter zwei Fraunhofer-Institute. Im Smart Systems Campus und dem Technologie Campus bieten sich 30 ha Platz für neue Ideen.
Kunst und Kultur will in Chemnitz zum Katalysator werden, um im öffentlichen Raum für Interaktion zu sorgen und zum Nachdenken anzuregen. Chemnitz’ Geschichte hat sich in das Stadtbild eingeschrieben und wird dabei selbst zum Teil der Ausstellung. Die künstlerischen Positionen, die im öffentlichen Raum sichtbar geworden sind, provozieren, sie zeigen auf und sie würdigen.
Nun hat Paula Irmschler, Redakteurin der Satirezeitschrift „Titanic“, einen Roman („Superbusen“) geschrieben, der Chemnitz ganz offiziell zum Sehnsuchtsort erklärt. Für die Heldin gab es nur ein Ziel: weg von Zuhause. Dass Chemnitz das neue Zuhause wird, ist weniger Absicht als Zufall. Für eine coolere Stadt reichte das Geld nicht, und für Politikwissenschaften gibt es hier keine Zugangsbeschränkungen. So konnte sogar Chemnitz zum Sehnsuchtsort werden.
Weder grau noch braun
Zum Abschluss der Recherche erreichen wir den Kaßberg. Dieses Gründerzeitviertel braucht sich vor Görlitz nicht zu verstecken. In einer Liste sind die Kulturdenkmale dieses Stadtteils verzeichnet, die bis März 2022 vom Landesamt für Denkmalpflege Sachsen erfasst wurde, darunter ein erhaltenes Gasbeleuchtungsnetz integriert in die zeitgenössische Bebauung.
Zu guter Letzt belohnen wir uns mit einem Abend im „Alexxanders“ bei mediterraner Küche. Dass es sogar eine Aussage zu Chemnitz trifft verwundert nicht: „Chemnitz ist weder grau noch braun.“ Das klingt wie ein weiteres, gesellschaftliches Programm – neben der Kulturhauptstadt und der Wirtschaftsstrategie.