Celle, das ist doch dieser Vorort von Hannover. Nun muss man Hannover mögen, um dieser Stadt die Wertschätzung entgegenzubringen, die gemeinhin eingefordert wird, wenn von der Landesregierung Niedersachsen, der Internationalen Messe und einem ehemaligen Bundeskanzler, der derzeit in Putins Diensten steht und steuerrechtlich in einem Schweizer Billigkanton angemeldet ist, die Rede ist. Ist die Einstellung zu Hannover dagegen neutral, und ist man bereit, nicht erst in Hamburg, sondern vorher sein gen Norden strebendes Auto abzubremsen, dann sollte dies unbedingt in Celle geschehen. Denn Celle hat es verdient. „Ihr seid also von unten“ war die freundliche Begrüßung im Hotel Georg Garni, ein Fachwerkhaus in einer vom Durchgangsverkehr befreiten Straße, und gleichwohl in walking distance zur Altstadt. „Von unten“ meinte aus der Tiefe einer den Cellern zur Verfügung stehenden Deutschlandkarte. Nun gut, München ist nicht down under, aber weit unten. Und Celle? Liegt auch in Deutschland, weiter oben. Es ist eine Perle gefasst in Fachwerk. Straßenzug um Straßenzug besteht aus gepflegt und sorgfältig restaurierten Häusern, in denen alles untergebracht ist, was eine Stadt so braucht, vom Pfandhaus und Sparkasse bis zu Gericht, Modegeschäften und immer wieder Restaurants und Bars. Da die Straßen zumeist Fußgängerzonen sind, stehen die Tische auch dort und erfreuen die Gäste. Selbst die Synagoge findet man in einem Fachwerkhaus. Das ist ein Gebäude aus dem Jahre 1740, zugleich das älteste jüdische Gotteshaus in Niedersachsen. Die Synagoge wurde in der Reichspogromnacht geschändet, jedoch nicht angezündet, weil man ein Übergreifen der Flammen auf die in der Altstadt eng beieinander stehenden Fachwerkhäuser befürchtete. In den Vorderhäusern wurden ab 1942 die verbliebenen jüdischen Gemeindemitglieder zur Deportation untergebracht. Eine Installation in der Synagoge „Ungesühnt, Verschwiegen, ein Heimatbild“, die sich mit diesem Teil der Celler Geschichte beschäftigt, tauchte in den allgemeinen Bekanntmachungen der Stadt erst mit Verspätung auf. Es scheint, als igele Celle sich ein in der Puppenstube seines Fachwerks. Wer sich auf den Rundwanderweg Altencelle begibt, kommt zur Ur-Siedlung Kellu, zu den Osterloher Alpen, einer riesigen Sanddüne, die ebenso wie die Aller an einem Wehr renaturiert wurde. Der Wanderweg ist 15 Kilometer lang und führt durch eine Puppenlandschaft wie der Rundgang durch die Altstadt durch eine Puppenstadt führt. Vom Welfenschloss zur Stadtkirche, dem Rathaus, Celler Glockenspiel, dem ältesten Haus aus dem Jahre 1526 am Heiligen Kreuz 26, dem Stechinellihaus, dem französischen Garten. Von der Synagoge geht man die Bergstraße hinunter und landet wieder am Ausgangspunkt, dem Welfenschloss. Alles gut, alles schön.
Das Celler Schloss zählt zu den schönsten Schlössern der Welfen, einem der ältesten noch heute existierenden Fürstenhäuser, das durch sein aktuelles Oberhaupt allerdings in wenig schmeichelhafte Schlagzeilen geriet. Die prachtvolle Vierflügelanlage, in der Renaissance und Barock eine faszinierende Mischung eingehen, ist davon unberührt. Sie beherbergt ein Museum, das älteste, heute noch bespielte Barocktheater Europas sowie die Schlosskapelle, das einzige Gotteshaus nördlich der Alpen mit vollständig erhaltener Renaissance-Ausstattung.
Und dass Bergen-Belsen, erst Lager für Häftlinge, dann KZ, in der Nähe liegt, ist deutsches Schicksal. Alle Lager liegen irgendwo bei Städten. Celle liegt weit genug weg vielleicht von Hannover und Hamburg, um eigenes Profil zu gewinnen, von der Vergangenheit weit genug weg, das nicht geht nicht. Aber wie schafft man den touristischen USP, die Darstellung dessen, was andere nicht haben? Gut, man spricht ein sauberes, klares Hochdeutsch. Und ist mächtig stolz drauf. Darum war die Wirtin auch so verwundert, dass die „von da unten“ keinen Dialekt sprachen. Nach den Ausweispapieren hätte Bayrisch erwartet werden können.
Und die Installation in der Synagoge? Das ist ein USP, den keiner vorzeigen will. Vor 75 Jahren, am 8. April 1945, wurde bei einem Bombenangriff auf die Bahnanlagen beim Celler Güterbahnhof ein Transportzug mit KZ-Häftlingen getroffen, der auf dem Weg in das Konzentrationslager Bergen-Belsen war. Ein Teil der Überlebenden konnte sich aus den Waggons befreien und fliehen, verfolgt von Angehörigen der SS, der Wehrmacht, der Polizei und leider auch von Celler Bürgern, denen, die sauberes Hochdeutsch sprachen. Diese ermordeten 170 Fliehende. Mit fiktiven Porträts versucht Peter Barth, in Celle geboren, die Ermordeten aus dem Fluss des Vergessens herauszuholen und ihnen ein Gesicht zu geben.
Das ist ein mutiges Unterfangen, aber zugleich eine notwendige Auseinandersetzung, und so könnte gelingen, dass Celle mehr ist als eine Fachwerk-Puppenstube auf dem Weg von Hannover nach Hamburg.
Die 16-teilige Serie findet Eingang in eine Foto-Text-Ausstellung „Gesichter Deutschlands“ im öffentlichen Raum in Gräfelfing und in einen Katalog mit gleichem Namen. Der Katalog „Gesichter Europas- eine Reiseliebe“ ist mit der ISBN 978-3-942138-67-3 über die Buchhandlungen oder direkt beim GRÄV-Verlag zum Preis von 15 Euro zu beziehen.
Nächste Folge: Lüneburg
Im Spätherbst auf der Donau zu schippern – das klingt erst mal gewöhnungsbedürftig. Sollte man wirklich in der „schlechten“ Jahreszeit ... Weiterlesen