Besuch in Cervarolo; die Überwindung der Schande

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Mehr als 100 Teilnehmer an der Giornata della Memoria
Der Bürgermeister Elio Ivo Sassi

„Unter den 24 Menschen, die hier auf der Tenne ermordet wurden“, erinnert der Bürgermeister von Cervarolo, Elio Ivo Sassi, „waren Bürger zwischen 17 und 84 Jahren, darunter der Priester von damals Don Giovanni Battista Pigozzi, der sich geweigert hatte, eine Erklärung zu unterschreiben, dass alle, die an die Wand gestellt und mit Maschinengewehrsalven erschossen wurden, Partisanen gewesen wären. Ein anderes Opfer war gelähmt.“ Es ist heute der 20. März 2022. Die mehr als 100 Menschen, die hier auf der Tenne von Cervarolo, einem kleinen in grauem Stein gefassten Platz zusammenstehen, umgeben von ebenso grauen Häusern, haben ihre gute Kleidung angezogen, viele tragen Schärpen in italienischen Landesfarben. Zusammen mit Vertretern einiger Partisanen-Organisationen, eines Institutes für die Geschichte des Widerstandes, Vertretern der Region Emilia Romagna und anderer Kommunen der Villa Minozzo, der Verbandsgemeinde, haben sie das von einer Kapelle gespielte Partisanen-Lied „Bella Ciao“ gehört und andere Hymnen, bevor Don Giuseppe Gobetti, Pfarrer und Nachfolger von Pigozzi eine Messe feierte und das Denkmal der Gefallenen mit Blumen schmückte.
Dieser Ort liegt in einem unbekannten Italien. Der Reisende fährt vielleicht nach Mantua, nach Modena oder Regio Emilia, wenn er nicht an der Küste des Tyrrhenischen Meeres Massa, Lucca oder Forte dei Marmi besucht. Cervarolo liegt auf 1000 Meter Höhe in den nördlichen Apennin, einem Meer voller Berge, weit weg von den Perlen-Städten im Osten und Westen. Keine Schnellstraße erleichtert den Weg zu den Orten, den der Terror der zurückweichenden deutschen Armee erreichte. Es reden noch die Abgeordnete Antonella Incerti und der Präsident der Anpi Ermete Fiaccadori.
Und ein Vertreter eines Literaten-Clubs aus dem Landkreis München. Er redet von dem Schweigen über das Geschehen in Deutschland und fragt, warum das Urteil von Verona, indem die Verantwortlichen des Massakers – in Abwesenheit – zur Rechenschaft gezogen wurden, in Deutschland nicht sollstreckt wurde, warum ein zivilrechtliches Verfahren abgeschmettert wurde. Und als er dies eine Schande, „una vergogna“ nennt, brandet Beifall auf, viele schütteln ihm später die Hände dafür, dass ein Deutscher gekommen ist und sich gestellt hat.
In diesem Club, dem der Gräfelfinger Gelegenheitsschreibern (Grägs), war das Thema aufgekommen, weil einer der Täter, dem es nicht gegeben war, sich mit seiner Schuld seinem irdischen Richter zu stellen, aus einem Ort im Landkreis stammte. Das Verfahren war zwar zusammen mit anderen den deutschen Ermittlungsbehörden zur Verfügung gestellt worden, weil diese das Urteil von Verona nicht anerkannten, aber es wurde eingestellt. Einem Journalisten der Grägs wurde die Akteneinsicht verwehrt, mit „schutzwürdigen Interessen der anderen Beschuldigten im Verfahren“, die Beschwerde dagegen wurde zurückgewiesen. Das System der Vertuschung funktionierte prima bis zum Tod der letzten Täter. Ein einziges Mal fand wegen der Massaker an der italienischen Zivilbevölkerung, Cervarolo war kein Einzelfall, ein Prozess statt, der mit einer Verurteilung endete. Hier in den Bergen des Reggianer Apennin wurde in Monchio, Susano, Costrignano und Savoniero gemordet. Für das ganze Italien sind 5000 Fälle dokumentiert, bis zu 15 000 Menschen wurden getötet. Bei dem Fall, den der Münchner Richter Manfred Götzl zu entscheiden hatte, ging es wieder um einen Täter aus dem Landkreis München, der in Falzano di Cortona ein Massaker befohlen hatte. Er wurde schuldig gesprochen, zu lebenslanger Haft verurteilt, durfte aber zu Hause leben, bis er verstarb. Dieses Geschehen fand Eingang in den Roman „Richter ohne Sühne“.
Nie hat einer, der den Befehl zum Morden gab oder selbst den Abzug durchzog, von einem deutschen Nachkriegsgericht eine Strafe bekommen, die er hätte in einem Gefängnis verbüßen müssen. Nie. Und wenn Politiker, wie der gegenwärtige Bundespräsident Steinmeier sich aufmachen, um etwa in Fivizzano Präsenz zu zeigen, bedauern sie, weisen aber entschuldigend auf die Rechtslage hin. Dabei ist längst höchstrichterlich entschieden, dass es keine Rechtfertigung für das Töten Unschuldiger gibt.
In Cervarolo geht der Gedenktag, die Giornata della Memoria, weiter. Schüler der scuola secondaria Galileo Galilei rufen in künstlerischer Weise das Geschehen an diesem Tag vor 78 Jahren und die Opfer in die Erinnerung zurück: Alberghi Marco, Alberghi Egisto, Alberghi Giacomo, Alberghi Alfredo, Alberghi Mauro, Borea Cesare, Croci Adolfo, Costi Ennio, Costi Lino, Fontana Remigio, Ferrari Armido, Fontana Paolo, Genesi Americo, Maestri Sebastiano, Pigozzi Don Giovanni Battista, Paini Gaetano, Paini Pio, Rovali Antonio, Rovali Celso, Rovali Italo, Tazzioli Dino, Vannucci Augustino, Vannucci Giovanni.
„Gerade in diesen Tagen des russischen Krieges in der Ukraine“, hatte Bürgermeister Elio Ivo Sassi gesagt, sei es wichtig, sich zu erinnern, dass das „nie wieder Krieg nicht nur gesagt sondern gelebt“ werden müsse. Und in seiner Rede hatte der Repräsentant der Grägs auf die Frage, welche Botschaft „vom heutigen Gedenktag ausgeht“ geantwortet: „Heute vor 78 Jahren wurden unschuldige Menschen an die Wand gestellt und erschossen. Heute werden in der Ukraine unschuldige Menschen, die hinter Mauern, den Mauern ihrer Häuser, Schutz gesucht haben, getötet. Wir können nicht sicher sein, dass sich das Böse nicht wiederholt, nicht sicher sein, dass der Mensch gelernt hat. Wir müssen aufpassen auf uns. Auch in Italien und auch in Deutschland.“
Nach der Mittagspause, um 15:30 Uhr erläutert Wassili Orlandi im Namen der Partisanen-Verbände, die historischen Begleitumstände der Schlacht in den Bergen zwischen den faschistischen Milizen, und der deutschen Wehrmacht auf der einen Seite und den Partisanen auf der anderen. Dass die Schlacht von Cerrè Sologno zu Gunsten der Partisanen ausging, war wohl der Grund für das Massaker von Cervarolo. Im Nachkriegsitalien verschwanden die Akten im Schrank der Schande, der erst 2005 geöffnet wurde und zur Verurteilung der Mörder im Jahre 2014 im Prozess von Verona führte, ein Prozess, dessen Frieden und Versöhnung schaffende Kraft indes ausblieb.
Der Bürgermeister zog zum Abschluss des Tages einen Vergleich zwischen der Ukraine 2022 und Cervarolo 1944, „Heldenmut und Opfertod für die Freiheit und die Demokratie“.
Im Landkreis München wollen die Literaten der Grägs die Erinnerung an Cervarolo und die vielen anderen Ortschaften in Italien, die dahingeschlachtet wurden, wachhalten und in künstlerischer Form den Nachgeborenen die Erinnerung und die Lehren vermitteln, auch gerade wenn die Enkel der Täter dabei sein sollten. Bürgermeister Elio Ivo Sassi verspricht Unterstützung auf dem Weg aus der Vergogna, der deutschen Schande.

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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