Bachfestspiele Leipzig: Die Familie der Kultur

Bachfestspiele_Leipzig

„We are family” lautet das Motto, das einem bereits im Bahnhof der Stadt beim „Nachwuchs-Festival“ begegnet, vermutlich auch auf dem Flughafen in Schkeuditz. Aber wer ist „we”? Und wieso sind da irgendwelche Personen plötzlich Familie? Aus den öffentlichen Verlautbarungen erfährt man wenig Erhellendes. Mit dem Motto erinnere man an eine „Tradition der der weitverzweigten Musikerfamilie Bach. Diese traf sich im 17. Und 18. Jahrhundert einmal im Jahr an einem bestimmten Ort in Thüringen, um gemeinsam zu musizieren.“ Nun gut, jetzt könnte man mit einer Aufzählung der Bach´schen Familienmitglieder den Platz füllen. Ist der Marketing -Abteilung nichts Besseres eingefallen? Und warum ist 2023 „future” das Losungswort? Man will schon enttäuscht abwinken. Doch dann heißt es, „heute ist die Bachfamilie eine globale.“ Überall auf der Welt kämen „Menschen ihrer Liebe zu Bach wegen zusammen“, gründeten Chöre oder Gesellschaften, sagt Michael Maul, der Intendant der Festspiele. Deren älteste, die im Jahre 1900 gegründete „neue Bachgesellschaft“, feiere jedes Jahr Bachfeste. Die Familie wird größer.

Und von Vorstellung zu Vorstellung des diesjährigen Bachfestivals entwickelt sich eine Idee, wie man dieses „we are family“ interpretieren könnte. In der alten Börse etwa spielte am Samstag, dem 18. Juni 2022, um nur ein Beispiel für viele zu geben, das Berliner Ensemble „Le Jonc Flueri“ mit den Künstlern Yu Ma aus Taiwan, Kaon Kobayashi aus Japan, Constance Ricard aus Frankreich und Tung Han Hu, ebenfalls aus Taiwan. Und sie bekamen riesigen Applaus. Natürlich gehören sie zur Familie. Aber sie spielten nicht nur Bach, eine Sonate von Johann Sebastian und die Folies d´Espagne von Carl Philipp Emanuel. Sie spielten auch Telemann, Böhm, und Händel und eine Improvisation von Tung Han Hu. Auch Familie. Der Kreis ist größer zu ziehen, Bach, Vorläufer, Zeitgenossen, Epigonen. Und alle, die sie spielen, und alle, die sie lieben, die Jungen und die vielen Alten, die nach Leipzig geeilt sind. Alle gemeinsam: „we are family“. In der Stadt, im Stadtgeschichtlichen  Museum, gibt es mit „Hochzeitsmarsch mit Rosenkrieg“ eine Ausstellung welche die schwierige Beziehung  Richard Wagners zu Felix Mendelssohn Bartholdy, dem vier Jahre älteren, beschreibt. Sie mochten sich nicht, wohl weil Wagner meinte,  von dem bewunderten Kollegen zu wenig Anerkennung gefunden zu haben. Doch was beide einte, war Leipzig. Gehören beide zur Familie? Oder hat sich Richard Wagner mit seiner Schmähschrift „Das Judenthum in der Musik“ selbst herausgeworfen? Warum beruft sich Putins Söldner- und Mördergruppe „Wagner“ auf den Komponisten? Und was ist mit Bach selbst, dessen Stücke in der Wittenberger Stadtkirche vorgetragen wurden, obwohl an der Außenwand eine Plastik die Juden mit Sauen gleichstellt? „We are family“ klingt zu schön, soll Grenzen und Abgründe auszuleuchten, darf man die Künstler von ihren Werken trennen, cancel culture treibt finstre Blüten. In der Studioausstellung im Haus Böttchergäßchen 3 kann man noch bis zum 4. September den Gedanken nachgehen. Eine Konferenz des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Leipzig will sich mit dem „komplizierten Verhältnis von Wagner und Mendelssohn-Bartholdy“ befassen.

Leipzig ist die Heimstatt der „Familie“, der „Sehnsuchtsort der Bachfans“, wie es die Kulturbürgermeisterin der Stadt, Skadi Jennicke, ausdrückt. Andere Städte haben ihrer Kultur eine architektonisch spektakuläre Bühne gebaut, eine Hülle, die in der Wahrnehmung der Besucher oft Selbstzweck ist, andere haben das Geld, um auf sich aufmerksam zu machen. Leipzig hat den Geist. Und dieser Geist hat in dem Bachfestival seinen materiellen, irdischen Auftritt. Er war auch da, als am Sonntag, dem 19. Juni 2022 In der Thomaskirche das Abschlusskonzert stattfand. Und darauf hat der „schwierige Wagner“ vom 20. Juni bis zum 14. Juli seine Festtage. „Richard ist Leipziger“, sagt Thomas Krakow, Leiter des Richard-Wagner-Zentrums Mitteldeutschland, auch wenn sich Leipzig schwertut mit Richards Antisemitismus. Alle 13 Opern lässt Ulf Schirmer, der Intendant, aufführen, „ein Kraftakt“, wie er sagt.  

Und mit Gustav Mahler, dessen Vertonung von 5 der 563 Gedichten der Totenklage ein „spannendes Projekt“ im Rahmen des Mahler-Festivals 2023 sein wird, wie Skadi Jennicke sagt, meldet sich ein weiteres „Familien-Mitglied“ zu Wort. Und er ist nicht der letzte, der zu erwähnen ist, die Geschwister Clara und Robert Schumann, Max Reger sind dazu zu zählen.  Und nur dann macht auch das Motto 2023 „future“ Sinn. Die Familie lebt, sie ist groß und wächst. Als Michael Maul, der Bach-Intendant, sich in der Thomaskirche verabschiedete, nach 153 Veranstaltungen mit 3072 Mitwirkenden und gut 30 000 Besuchern; mit dem Abschlusskonzert hatten der Coro della RSI, I Barocchisti und Diego Fasolis in der Thomaskirche für nicht enden wollende Beifallsstürmen gesorgt, da hatte er sich vor der „Familie“ verbeugt und für ihr Kommen gedankt. Es war eine eindeutige Botschaft: Nicht cancel culture, future culture. Die Kultur ist der Garant der Zukunft. Und Leipzig ist ihr Hüter.

In der Thomaskirche von Leipzig

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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