Ankunft in Santiago de Compostela

Man kann seinem Schicksal nicht davonlaufen, nicht entkommen, wussten schon die alten Griechen. Ihm zu „entpilgern“ versuchen  einige, mit unterschiedlichen Ansätzen und unterschiedlichem Erfolg. Unter dem Slogan „ich bin dann man weg“, machte sich Harpe Kerkeling auf den Weg nach Santiago de Compostela, nachdem ihn das Schicksal mit Erkrankungen herausgefordert hatte. Weg und Weg sind im Deutschen dasselbe Wort. „Der Weg ist das Ziel“ sagte der chinesische Philosoph Konfuzius und meinte nicht, dass „weg“ im Sinne von „verschwunden sein“. Als wir auf dem Platz vor der Kathedrale von Santiago de Compostela, dem Praza do Obradoiro, eintrafen, war uns eines sofort klar: Nicht der Weg oder das Weg (-sein) – das Ziel war das Ziel. Hier ist der Endpunkt eines jeden Jakobswegs, Liber Sancti Jacobi, komme er nun aus Porto in Portugal oder gar aus Frankreich, oder noch von weiter her. Alle Jakobswege, der Camiño Portugués da costa, der nördliche, der englische, der französische, der Fisterra-Muxía Weg, die Meeresroute, der Weg des Silbers oder des Winters. Sie alle haben das eine Ziel, hierher wollen sie, dorthin wo Shirley MacLaines ihre „Reinkarnation“ erlebte.

Die Pilger stellten ihre Rucksäcke ab, oder schleuderten sie gleich vom Rücken, einige gingen in die Knie mit Blickrichtung der Grabeskirche des Apostels Jakobus. Hier sollen seine Gebeine ruhen, bis auf den Schädel, den zu haben beansprucht die armenische Jakobskathedrale in Jerusalem.  Die Pilger, die wir sahen, waren zu Fuß gekommen, sie stellten ihren Stab, ihren „dritten Fuß“ zur Seite und fielen sich in die Arme, ersatzweise auch uns. Eine Mutter erzählte, sie sei mit ihrer Tochter, die vielleicht 12 Jahre alt war, in sechs Tagen 103 Kilometer gelaufen. Das Kind war schüchtern und stolz zugleich. Die Mutter drückte und herzte uns, obwohl wir entfernungsmäßig nicht mithalten konnten, und freute sich über die Fotos, die wir von ihnen machten. Das sprach sich herum, und andere, denen die Selfies nicht genug waren, erbaten sich denselben Gefallen. Sie waren alle erschöpft und trotzdem aufgekratzt. Es war eine Stimmung des Freude und des Friedens. Keiner hier war „weg“, alle waren nun bei sich. Sie waren am Ziel des Weges. Und nach einer ersten Ruhephase betraten einige die Kathedrale, um einer Predigt beizuwohnen, nachdem sie sich ihre erfolgreiche Pilgerfahrt hatten testieren lassen. „Ich vergesse, was da hinten ist und strecke mich aus nach dem, was da vorne liegt“, dies sei der Weg der Christen, zitierte der Pfarrer den Apostel Paulus. „Machen wir uns bewusst, dass wir auf dem Weg zum Ziel sind und das Ziel nicht aus den Augen verlieren dürfen.“

Dieses Jahr, 2022, ist ausnahmsweise Heiliges Compostelanisches Jahr, weil zwar im Vorjahr, der 25. Juli, der Tag des Heiligen Jakobus, auf einen Sonntag fiel, was eigentlich Voraussetzung ist, aber wegen Corona waren die Pilger weggeblieben. Die Heiligen Pforte bleibt noch bis zum 31. Dezember geöffnet und dient den Pilgern als Zutritt in die Kathedrale, die dazu sprechen: „Venient omnes gentes et dicen gloria tibi Domine“ (So kommen alle Völker und verkünden Deine Ehre, Herr). Es ist  nun müßig, darüber zu diskutieren, ob ein Virus namens Covid mächtiger ist als die Instanz, die darüber entscheidet, ob und wann ein Jahr „heilig“ ist, oder ob die ganze Heiligkeit nur ein Marketing-Trick ist, um Gutgläubige in die Stadt und die Kirche zu bekommen. Die Mutter und ihre Tochter, welche die Strapaze des Weges auf sich genommen haben, und alle anderen Pilger, die wir auf dem Praza do Obradoiro trafen, mit denen wir uns in den Armen lagen und von denen wir Fotografien machten, sie alle haben unseren Respekt verdient, und demütig hören wir von denen, die sich noch aufmachen wollen, den Camino zu gehen, ob noch im Heiligen Jahr 2022 oder im nächsten Jahr oder irgendwann.

BU: Auf dem Platz vor der Kathedrale, der Pilger ist am Ziel. Copyright: hhh

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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