Am Sonntagabend, dem 23. Februar 2020, kam ich aus Mailand zurück, zusammen mit meiner Tochter Eva. Der Samstag war dort noch ein Tag wie so viele zuvor, ausgelassen, mit fröhlichen Leuten auf der Piazza del Duomo, dem Corso, der Piazza dei Mercanti, an beiden Seiten der alten Kanäle, der Navigli. Der Sonntag dagegen war voller gespenstischer Leere, die wenigen Leute, die wir auf der Straße und vor dem Dom sahen, hatten eine Maske vor dem Mund, die das Lachen und das Reden versperrte, die nur zaghaft gehoben wurde, um ein Eis, ein gelato to go, zu verzehren. Die Stadt verschwand hinter dem Leichentuch, das die ganze Lombardei verhüllen sollte.
In München gelandet dachten wir, den Covid-19-Virus abgeschüttelt, in Italien zurückgelassen zu haben. Ein Irrtum, er verfolgte uns, nicht nur dass uns angeraten wurde, uns in Quarantäne zu begeben. Er lähmte unser Leben. Alle Skireisen wurden abgesagt, eine Reise nach Apulien stornierten wir. Keine ITB, keine Leipziger Buchmesse, keine Händel-, keine Bachfestspiele, nichts blieb uns. Und dieses Nichts droht zu bleiben. Die Reise nach Zypern findet nicht statt, das Konzert von Rammstein in Hamburg auch nicht. Selbst die Wiesn-Zelte bleiben im Lager.
Der wirtschaftliche Schaden ist unermesslich, für mich erträglich, die Zeitungen und Online-Plattformen zahlen eh so, dass man davon nicht leben könnte. Aber was macht es mit uns, seit inzwischen vielen Wochen nicht reisen zu können? Nicht einmal an die Seen, in die Berge. „Ich bin dann mal daheim“ als finale Antwort auf das „Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling. Es gibt Menschen, die Reisen als Menschenrecht begreifen und die jetzt die Beschränkungen ein „Verbrechen“ nennen. Sie machen es sich zu einfach, ist Reisen doch eher ein Geschenk als ein Recht, das sich im Übrigen nur der macht, der es sich erwirbt durch sorgfältige Vorbereitung und bewusste Durchführung, jedenfalls, wenn das Reisen mehr ist, als das Handtuch vom Isar- an den Meeresstrand umzulegen.
Reisen bildet, sagt der Volksmund. Und er hat Recht. Und was macht Nichtreisen? Dumm? Nein, dann bleibt man, was man gewesen ist. Und hat etwas verpasst. Wenn man stattdessen mit dem Bemühen um das Verstehen des besuchten Landes gereist ist, kommt man stets als ein anderer heim. So wie man nie zweimal in denselben Fluss tritt, weil man immer anderes Wasser um die Füße bekommt. Und dann macht man heute in der Quarantäne zwei vielleicht überraschende Erfahrungen, wenn man sehnsüchtig vom Balkon in den Himmel starrt. Die eine ist, dass einem keiner die gewonnen Eindrücke nehmen kann, auch kein Virus.
Der Sonnenuntergang von Kap Sounion, die grünen, tanzenden Schleier des Polarlichts in Island, der ernste Blick von Giordano Bruno auf dem Campo de` Fiori in Rom, die Faraglioni Capris, vor allem die unendlich vielen geschüttelten Hände, die Umarmungen, die gewechselten Worte und Gespräche mit so vielen Menschen, zu denen jetzt nur noch der Kontakt über die unpersönlichen, weil hautkontaktfreien Medien möglich ist. All dies kann uns heute keiner nehmen. Es hat uns bereichert, uns geprägt. Wir wären andere. Das ist die eine Erfahrung, die andere ist: Die vertraute und auch geliebte Fremde lehrte die eigene Heimat, das Zuhause in Ehren zu halten. Diese Lehre hilft heute, die eignen vier Wände nicht als Gefängnis zu sehen. So blicken wir sehnsüchtig vom Balkon, hoffen die unerreichbaren fernen Länder wenigstens im Herzen empfinden zu können. Eva schickt mir zur Aufmunterung täglich ihre Fotos und Aufnahmen ihrer Bilder, die als „Jubiläen“ vom Handy bereit gestellt werden.
Heute vor einem Jahr waren wir in Rom. So in der Seele gestärkt, sehe ich mein Heim mit neuen Augen, beginne es aufzuräumen und aufzuhübschen. Viele Ideen, die wir bekommen hatten, aber nicht umsetzen konnten, nehmen jetzt Gestalt an. Reisen ist wie ein Gang durch ein gigantisches Einrichtungshaus, vielleicht wie Ikea, mit seinen vielen Räumen. Anregungen nimmt man mit, vielleicht auch mehr. Nicht mehr reisen zu können, lehrt nicht nur, die Erinnerung an vergangene Touren zu pflegen. Es lehrt auch die Demut, dankbar in einem Land mit einer Gesellschaft zu leben, in denen das Überqueren von Grenzen aller Art selbstverständlich ist, wenn nicht ein gefährliches Virus die Barrieren senkt. Eva berichtet von einem 84jährigen, der nach dem Tod seiner Frau während der vergangenen Jahre mit ausgedehnten Reisen versuchte, seinem Leben einen Sinn zu geben, und jetzt auf Spaziergänge an der Isar zurückgeworfen ist. Auch dort könne man wertvolle Menschen treffen, sagte sie ihm, als sie ihn dort ansprach. Und konnte ihn so trösten. Auch wenn sich die Isar nicht mit den Navigli von Mailand vergleichen lässt.
Und wenn am 22. Februar 2020 wirklich die Welt von gestern beginnt, dann haben wir sie mit den vielen Reisen in den Erinnerungen so schön zurückgelassen, dass wir davon noch lange zehren können. Länger als dies Stefan Zweig vergönnt war. „Es ist wirklich schade um dieses Paradies.“ Mit diesen Worten begrub er angesichts des Triumphes des Faschismus seinen „Italien-Mythos“. Der Schriftsteller Xavier de Maistre blieb zweiundvierzig Tage lang in nur einem Raum und schrieb danach den Abenteuerbericht „Die Reise um mein Zimmer“. Er stand nach einem unerlaubten Duell unter Arrest und machte das Beste draus. Was uns fehlt, wenn wir nicht mehr reisen können? Peregrinor, ergo sum? Ich reise, also bin ich? Nein. Die TUI wirbt mit dem Spruch „discover your smile“. Erneut nein. Das Reisen hat uns bereichert, aber nicht beseelt, nicht definiert, das Lächeln musste auf diese Weise nicht entdeckt werden. Horst Opaschowski, der Tourismusforscher, meint, Reisen sei die Folge der Angst vor den eigenen vier Wänden. Nein, das Reisen ist nicht existenziell für den Menschen. Der Horror vacui, die Angst vor der Leere, das ist die Angst davor, mit sich selbst nichts anfangen zu können, nicht dagegen davor, nicht wegfahren zu können. Und wer reist, um im Ausland jemand anderes zu sein, der wird jedes Mal enttäuscht heimkehren.
Denn das Reisen schafft keinen neuen Menschen, es liefert aber Perspektiven, die helfen, der Sicht vom Balkon mehr als das übliche, begrenzte Panorama zum Nachbarhaus abzugewinnen, oder einen Spaziergang an der Isar intensiver zu genießen. Und so die Angst vor dem 23. Februar 2020 und allen Tagen danach abzuschütteln. Und doch würde es mich betrüben, wenn ich die Bilder von vor einem Jahr, dem 22. Februar in Mailand, am 22. Februar 2021 ansehen müsste, und ich wäre immer noch in Quarantäne.