Das erste Mal ist immer spannend. Auch in der Küche. Kulinarische Jungfernfahrten sorgen durchaus für Premierenfieber. Das Besteck – beispielsweise – liegt vor Erregung längst nicht so locker in den Händen wie etwa beim Verzehr eines schlafwandlerisch vertrauten Wiener Schnitzels. Und nervös werfen wir gehetzte Blicke zur Schwingtür, aus der unser Kellner demnächst mit der “Neuheit” hervortreten wird.
Text: Jupp Suttner
Foto: Das Objekt der Begierde – die Gulaschsuppe
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In Budapest – beim ersten Ma(h)l – war mein Blick ganz besonders gehetzt. “Gulyas leves” hatten meine ungarischen Freunde im Restaurant für mich angeordnet, Gulaschsuppe. Sicher, sicher – eine Gulaschsuppe kennt man. Aber eine “ungarische” Gulaschsuppe – joi mama! Dieser Ruf, der ihr vorauseilt! Diese Schärfe! Heiliger Schutzpatron des Paprika – steh’ mir bei. Mein Plädoyer, für den Anlass des “ersten Mals” lieber “szüzemek” (Jungfrauen-Medaillons) auszuwählen, verhallte ungehört.
Dann stand der Kessel auch schon auf dem Tisch. Wir beugten uns darüber – ein fabelhafter Duft entstieg der rötlich-braunen Brühe. Meine Brillengläser beschlugen. Langsam lehnte ich mich zurück, wartete den Zeitpunkt wiedergewonnener freier Sicht ab, ließ den Teller füllen – und begann. Ganz vorsichtig mit dem Löffel kreisend, die Sinne hellwach um die Suppe schleichen lassend, war der große Augenblick gekommen: ich tauchte ein. Entschlossen zwar, doch keine Hundertstelsekunde die Sensibilität des Augenblicks außer Acht lassend, strafften sich die Muskeln von Ober- und Unterarm, packten Daumen und Zeigefinger zu. Behutsames Rühren, wie in Zeitlupe schwebten Kümmel und Knoblauch, Fleisch- und Kartoffelstückchen, Zwiebeln und Paprika durch den duftenden Sud. Die Eiernudelzipfelchen drehten sich um die eigene Achse, wie im Spiel – ein ums andere Mal mit den Tomatenteilchen kollidierend.
Genug des Vorspiels – zur Sache, Süppchen! Ich hob den gefüllten Löffel. Atemlose Stille am Tisch. Hinein in den Schlund! Nicht gleich hinunterschlucken. Wie in einer unterirdischen Tropfsteinhöhle schwappte die Brühe in der Mundhöhle von einer Wand zur anderen. Genüsslich schloss ich die Augen. Alles halb so schlimm – was sie immer nur erzählen, diese Reisenden! Dann ein Schluck – und weg war sie, die erste Kostprobe.
Ich strahlte – vielleicht einen Wimpernschlag lang. Dann erst brach sich das Paprika Bahn. Und wie! Tränen stiegen in meine Augen, kullerten über die Backen. Gespannt, voll listiger Erwartung, blickten die Gastgeber mich an. Etwa so, wie alpenländische Gastgeber blicken, wenn sie dem Fremdling Schnupftabak die Nase empor geschossen haben und dann lauernd auf die Wirkung warten. “Nicht scharf!?!”, fragten meine Ungarn. ‘Nein’, wollte ich noch antworten, doch dann stürzte er sich voll Urgewalt auf mich: der Hustenanfall, den die Anwesenden so sehnlich erwartet hatten. Ich hustete und prustete, sprang auf und hüpfte um den Tisch, stampfte abwechselnd mit beiden Beinen auf das Parkett, hustete gnadenheischend weiter – doch der Kitzelreiz blieb stur im Rachen haften; störrisch, unbarmherzig – höhnisch, wie mir schien. Mit einem Zug leerte ich das Glas Mineralwasser, in zwei riesigen Bissen mampfte ich ein Stück Weißbrot hinab – alles vergebens.
Sie klopften mir auf den Rücken und ich bin mir heute, im Nachhinein, nicht ganz sicher, ob diese Bearbeitung eine ausschließlich körperliche Hilfe darstellen sollte, oder nicht vielmehr eine Kundgebung des Respekts bedeutete – vor meinem Mut zur Suppe.
Schließlich beruhigte sich die Lage. Alle nahmen Platz und auch die Zigeunerkapelle – von meinem Veitstanz leicht irritiert – sah sich wieder in der Lage, weiterzufiedeln. Und ich? War ich in der Lage, weiterzuessen? Nun, der “Genuss” des zweiten Löffels fiel weitaus weniger dramatisch aus, doch benötigte ich für ihn gleichfalls noch ein ganzes Glas Wasser und ein ganzes Stück Brot. Bis zur Hälfte des Tellers etwa vermochte ich die 1:1:1-Mixtur Löffel/Wasser/Brot auf ein Verhältnis von etwa 4:2:1 herabzuschrauben. Doch der Hustenreiz schwebte unaufhörlich wie ein Damoklesschwert über mir.
Der Primas versuchte mich zu trösten, spielte ein Brahms’sches Ungarisches Tänzchen nach dem anderen, direkt an meiner Schulter. Und fragte nach dem nächsten Musikwunsch. Und wieder den nächsten. Mir fielen keine Titel mehr ein, doch krampfhaft bemühte sich das Musikwesen in mir, neue Geigenwünsche zu entdecken und zu äußern, denn die Denkphasen entpuppten sich als Glücksphasen: gemächlich konnte ich da – wie unabsichtlich – den Löffel sinken lassen und scheinheilig lauschen.
Ich war bereits – wie ordinär! – bei der “Julischka” aus Buda-Buda-pest angelangt, als dem Geiger an seinem Instrument einer jener Wirbel brach, die zum Saitenspannen dienen. Ein leiser Knall, das Teilchen flog durch die Luft – und direkt in meine Suppe! Schleunigst, peinlich berührt, entfernte der Kellner den Teller. Ich war gerettet! Doch sie brachten mir sofort einen neuen Teller. Denn bei allen Mörderspeisen, die sie servieren – gastfreundlich sind sie immer und ewig, die Magyaren. Aber sollten sie jemals zu mir nach Hause, in meine alpenländische Region, kommen – weiß ich jetzt schon, was ich ihnen zum Dessert servieren werde: Schnupftabak. Samt Blaskapelle.
Jupp Suttner