Von Avoriaz ins größte Skigebiet der Welt
Der kleine Dominique weint und weint. Dicke Tränen kullern über seine Pausbacken. Krampfhaft umklammert er mit seinen Ärmchen den Hals seiner Skilehrerin. Ständig ruft er nach seiner Mama. „Das kommt vor,“ meint Philippe Parisot vom Kinderferiendorf in der französischen Skistation Avoriaz, „doch die meisten Kinder sind bei uns glücklich.“ Annie Famose, in den 60-er Jahren eine der erfolgreichsten französischen Skirennläuferinnen, hat die Skischule 1986 mitten im Ort aufgebaut; heute ist sie die größte der Welt. 86 Skilehrer, darunter auch deutsch sprechende, betreuen in der Hochsaison bis zu 900 Kinder.
Bereits Kleinkinder unter drei Jahren sind willkommen. Um sie kümmern sich im Kinderhort “Die kleinen Wölfe” pädagogisch geschulte Mitarbeiterinnen, gehen mit ihnen ins Spielzimmer oder zum Schlitten fahren und – wenn der Magen knurrt – zum Mittagessen. „Ab drei Jahren“, so Philippe P., “versuchen wir es mit dem Skifahren.“ Bereits um neun Uhr üben auf dem kleinen Parcours mit den bunten Mickey-Mouse-Figuren viele Kinder. Besonders beliebt ist ein Fließband im Schnee, das die Kleinen zum Ausgangspunkt des Übungshangs zurücktransportiert. Fällt ein Kind, bleibt das Band automatisch stehen. „So machen wir bereits die Dreijährigen spielerisch mit den Freuden des Wintersports vertraut“, erklärt Philippe P. Kinder, die des Skifahren überdrüssig sind, können im Haus an Mal- und Bastelkursen teilnehmen, Theater spielen und vieles mehr. Den Größeren werden Slalom-, Freeride- und Snowboard-Kurse angeboten. Jedes Kind trägt um den Hals eine Art Chipkarte mit Namen, Alter und Handynummer der Eltern. Vermerkt ist auch, ob es allein das Skidorf verlassen darf.
Ein Super-Service freut die Eltern: Vom Kinderdorf führt ein Schlepplift direkt ins gigantische Skigebiet Portes du Soleil. Die „Tore zur Sonne“ südlich des Genfer Sees zwischen dem schweizerischen Unterwallis und dem französischen Hochsavoyen umschließen eine Fläche größer als der Bodensee. 206 Lifte und Seilbahnen verbinden zwölf Orte mit 650 Pistenkilometern. Das größte Skigebiet der Erde! Empfehlenswert nicht nur für Pistenfahrer, sondern auch für Freerider. Es ist nicht wie am Arlberg, wo nach durchschneiter Nacht bereits morgens um neun Uhr sämtliche erreichbaren Neuschneehänge umgepflügt sind. Da die Franzosen, die mit rund 80 Prozent die meisten Besucher stellen, die optimal präparierten Pisten bevorzugen, finden Variantenfahrer auch noch lange nach dem letzten Schneefall unberührte Pulverhänge. Für das gesamte Gebiet gilt ein elektronischer Skipass, der automatisch die Liftschranken öffnet. Und das autofreie Avoriaz liegt mittendrin. Das Skifahren beginnt dort direkt vor der Haustür. Auf 1790 m Höhe. Schneesicher den gesamten Winter über.
Ortsunkundige tun sich bei diesen vielen Gipfeln und Pisten schwer, bei einer Tagestour über anspruchsvolle Abfahrten von Tête du Linga und durch kleine Orte wie Châtel, Morgins und Les Crosets stets die richtige Aufstieghilfe zu finden. „Wer nachmittags zu spät dran ist“, so Virginie Dupé von Avoriaz Tourismus, „muss zurück in sein Hotel unter Umständen eine teure Taxifahrt in Kauf nehmen.“ Sie rät daher Neulingen, sich unbedingt von einem Skiguide begleiten zu lassen. „Der weiß auch, wo der beste Schnee liegt und kennt gute Restaurants.“ Unser Guide führte uns ins „Chez Gaby“, eine urgemütliche Kneipe im Schweizerischen Champoussin. Eine der Spezialitäten heißt „Tartiflette au Reblochon“, ein Kartoffel/Speck/ Zwiebel-Gemisch mit Reblochonkäse überbacken. Auch die Südosthänge von Champoussin sind ein Leckerbissen. Variantenfahrer finden dort selbst viele Tage nach dem letzten Schneefall unberührte Pulverhänge, weil die meisten Franzosen, die das Gros der Gäste ausmachen, lieber auf der Piste bleiben.
Viele kosten einen Skitag bis zur Dämmerung aus. Auch die Eltern von Dominique. Als sie ihn abholen, blickt er kaum auf, so ist er ins Spielen vertieft. Als die Mama ihn an der Hand nimmt, bettelt er „Encore un peu.“ Auf den verschneiten, autofreien Wegen wird es jetzt lebendig. Viele Menschen sind unterwegs, um einen Apéritif in einer der vielen Bars zu genießen oder um einzukaufen. Da die Restaurants teuer sind, verpflegen sich die meisten Gäste, neben den Franzosen vor allem Schweizer, aber auch Holländer und Deutsche, selbst. Und sie wohnen in bis zu zwölf Stockwerke hohen, nach alter Tradition mit Schindeln aus Zedernholz verkleideten Häusern. Gewiss – an diese mächtige, aber äußerst eindrucksvolle Kulisse muss man sich gewöhnen. In jedem Fall ist es dem französischen Architekten Jaques Labro gelungen, die Wohntürme mit ihrer Holzverkleidung und den abgestuften Dächern der Felslandschaft eindrucksvoll anzupassen. Mimique nennt er das. Bestes Beispiel für diese gelungene Bauweise ist das legendäre Hotel Des Dromonts, das auch noch 50 Jahre nach der Gründung durch seine ungewöhnliche Architektur besticht. Wenn es dunkel wird und die Fenster leuchten, kommt man sich vor wie auf einem anderen Stern. Virginie Dupé von Avoriaz Tourismus: „Entweder man liebt unseren Ort, oder man hasst ihn.“ Skifahrer können ihn nur lieben.
Henno Heintz
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