Zwischen Perlebucht und Meeresvögeln 

Diese Farben, das irisierende Licht und die Liebesbezeugungen der Basstölpel auf der Langen Anna bilden eine Szene, die aus einer anderen Welt zu entstammen scheint. Stattdessen befinde ich mich aber auf der einzigen Hochseeinsel Deutschlands, auf Helgoland. In den Farben Grün, Rot und Weiß erscheint das Land: roter Felsen, grüner Boden – und dann weißer Strand auf der vorgelagerten Düne, wo man in Ruhe Kegelrobben beobachten kann. 

Nach einer zweieinhalbstündigen Überfahrt mit der „Funny Girl“, einem Schiff der Reederei Adler & Eils, das zwischen Helgoland und Büsum verkehrt, betrete ich den Boden dieser etwas mehr als vier Quadratkilometer großen Inselgruppe in der Deutschen Bucht – und lasse mich von der Masse, die sich aus dem Einlaufbecken heraus in Richtung „Zentrum“ bewegt, treiben. Ohne Umwege und ohne nachzudenken spült es mich so direkt in eine Fischbude.

Auch hier zeigt sich der Menschenstrom in Wellenbewegungen und dass es etwas Gutes geben muss, scheint sich auch längst „da oben“ herumgesprochen zu haben. Ich wundere mich zwar noch kurz, warum ich zum Verzehr meines knusprigen Backfischs auch ungefragt einen guten Rat serviert bekomme, nämlich einen Schirm vom Ständer zu nehmen, weiß jedoch kurz darauf Bescheid:  „Etwas“ hat gerade mein Haupt als Landebahn auserkoren, denn von dort ließe sich möglicherweise gut den Backfisch aus meinem Brötchen klauen. Die Möwen lauern und erspähen ihre Beute schon lange, bevor ich den ersten Biss getan habe. So spanne ich bei herrlichstem April-Wetter ohne jeglichen Niederschlag in Sicht den Schirm auf, damit ich unbehelligt essen kann.

In der Gemeinde Helgoland gelten andere Gesetze: keine Autos, dafür tiefenentspannte Einwohner. Den in Schleswig-Holstein üblichen Gruß „Moin“ oder gar „Moin Moin“ (den Unterschied werde ich erst später erfahren) sollte man sich auf Helgoland tunlichst  verkneifen. Das mag man hier einfach nicht. 

Auf meinem Weg zur Langen Anna, dem roten Buntsandsteinfelsen, der 47 Meter hoch aus dem Meer ragt, muss ich zunächst 184 Treppenstufen erklimmen, welche die Ober- und Unterinsel miteinander verbinden. Ich hätte zwar auch den Fahrstuhl nehmen können, doch dieser ist kostenpflichtig. Also bleibe ich sportlich und wandere auch an einem tiefen Kraterloch vorbei, welches einst die Bomben hinterlassen haben, mit welchen die Engländer am 18. April 1947 den „unsinkbaren Flugzeugträger“ auf einen Schlag zu zerstören versuchten. Die „Operation Big Bang“ ging in die Geschichte ein. Die Helgoländer, mit großem Nationalstolz gesegnet, litten unsäglich, sie durften ihr Eiland erst wieder 1952 betreten. So manch einer der Einheimischen, wurde überliefert, soll sich nach dem Anblick der „Big Bang“-Rauchsäule, die vom Festland aus sichtbar war, das Leben genommen haben.

Doch Helgoland überlebte und ist heute immer noch eine Pilgerstätte für „Duty Free“-Schnäppchenjäger, wenngleich der Ansturm nach den wilden 1990-er Jahren nachgelassen hat. Auf meinem Weg zum Lummenfelsen hat mich schon von weitem ein Einwohner als potenzielle Kundin ausgemacht. Doch will er mir weder Whiskey noch Parfum, Zigaretten oder Toblerone verkaufen, sondern selbst gestrickte Eierwärmer in den Nationalfarben der Insel. Sonderpreis: acht Euro das Stück. Diesmal nicht, dafür erstehe ich ein kleines Bruchstück echten Buntsandsteins. 

Die Basstölpel höre ich danach schon vom Weitem. Die Kolonien dieser Meeresvögel auf dem Felsen mitten in der Nordsee zu beobachten ist ein echtes Naturschauspiel. Ihre Rufe sind auffallend laut und beim Flirt picken sich die Paare liebevoll (oder liebestoll?) so manch störendes Insekt aus dem Gefieder. Die Vögel sind treu, sie bleiben ein Leben lang beim einmal auserkorenen Liebespartner und kehren immer wieder an den gleichen Platz zum Brüten zurück. Sie sind ein begehrtes Fotomotiv auf der nordwestlichen Seite der Insel. 

Auch kulinarisch hebt sich Helgoland ab vom Festland. Eine Spezialität sind hier die Scheren des Taschenkrebses: Knieper. Aber auch der Hummer wird inzwischen wieder mehr und mehr gefischt. Die Insulaner sind es zudem gewohnt, dass nicht alles zu jeder Zeit verfügbar ist. Während Festländer diese Erfahrung erst wieder mit der Corona-Pandemie verinnerlichen mussten, ist dies für die Helgoländer Alltag und kaum einen Aufreger wert. Bier ist jedoch meist in Hektoliter-Dimensionen vorrätig – auch während der Pandemie war das so. Die Helgoländer sind in der Regel recht trinkfest und auch ein guter Whiskey oder Rum aus Übersee gehört für das Inselvolk zum Genuss. Übrigens auch der Eiergrog: heiß, mit viel Arrak, Rum, Zucker und Eigelb. In den Helgoländer Bars und Kneipen wird übrigens meist auch geraucht. Andere Gesetze eben. 

Ja, es ist eine Insel der Ruhe und des Rückzugs – schon alleine deshalb, weil sie so überschaubar ist, weil die Animation fehlt, weil die Wege so kurz und die Einwohner so unaufgeregt sind. Diese reisen übrigens oft nicht allzu weit, um selbst Abstand zu gewinnen – sie setzen sich ins Boot, fahren die acht Minuten rüber auf die Düne und bleiben dort für einige Tage – oder den ganzen Sommer über. Manche aber fahren auch mit dem Katamaran drei Stunden nach Hamburg, um sich von dort aus wieder die große weite Welt zu erschließen – und um dann ein ums andere Mal zu erkennen, dass es auf dem Roten Felsen doch am schönsten ist. 

Für mich geht’s jedoch erstmal wieder zurück nach Büsum, wieder zweieinhalb Stunden auf dem offenen Meer. Die See ist ruhig, es wird eine kontemplative Fahrt, während der ich zwischen zwei Welten schippere und das Festland wieder ganz gemächlich auf mich zukommen lassen kann. Der Offshore-Windpark gleitet an mir vorbei. Nach einem Snack unter Deck erblicke ich schon bald das Hochhaus von Büsum, welches für den aufstrebendem Küstenort zwar kein besonders schön anzuschauendes Gebäude, aber doch ein Fixpunkt ist, der es ermöglicht, das schöne, quirlige und moderne Büsum schon von weitem zu erspähen – ob bei der Autofahrt von Sankt Peter Ordnung oder während der Schiffstour auf der Nordsee. Und irgendwie freue ich mich, diese rund 63 Kilometer weite Strecke nun schon zum vierten Mal auf solch entschleunigende Weise erlebt zu haben. Denn der Kontrast ist jedes Mal spürbar: Das Nordsee-Heilbad ist hip, macht zahlreiche kulturelle Angebote und zieht mit seiner Familienlagune Perlebucht Wassersportler aller Art an. 

Der Hunger treibt mich in das wohl traditionsreichste Restaurant in Büsum, direkt in der Hafenstraße. 100 Jahre alt ist „Kolles alter Muschelsaal“ schon, die Wände sind mit Muscheln aus allen Weltmeeren geschmückt. Einmal im Jahr müssen sie aufwändig gewaschen werden. Heute aber nicht. Karl-Heinz Kolle kocht. Heute ist er glücklicherweise zudem nicht unterwegs im Watt, Heuler retten. Er ist nämlich Seehundjäger und sprintet oft zwischen Herd und Heulern, wenn hilflose Jungtiere nach ihrer Mutter rufen. Er muss die Lage einschätzen, um dann zu entscheiden, ob das Tier zu retten ist oder nicht. Vor Ort ist er als „Seehundflüsterer“ weit bekannt. 

Seine Mutter, Erika Kolle, serviert heute zum Abschluss ihren selbst gebrannten Kohlschnaps. Dieser lagert sie in Weiß oder Rot im Keller. Apropos Kohl: Dass Dithmarschen das größte Kohlanbaugebiet Europas ist, merkt man auch in Büsum an jeder Ecke. Kohlgerichte in allen Variationen – und vor den Ortsschildern stapeln sich bei den Gemüsehändlern die Kohlköpfe. Wofür Büsum jedoch auch steht: die Krabbenfischerei. Wohl nirgends sonst bekommt man die Meeresfrüchte frischer als im Fischereihafen direkt vom Kutter. Doch ein noch 2023 geplantes EU-Verbot von Grundschleppnetzen brachte die Fischer auf die Barrikaden. Sie fürchteten um ihre Existenz. Zu Recht. Jetzt liegen die Kutter wieder friedlich im Hafen  – bis in die frühen Morgenstunden, wenn die Fischer wieder rausfahren. Ein harter Job, fürwahr, doch die Fischer lieben ihren Job – auch wenn der Fang nicht immer garantiert ist. Bei Kolle wird heute für die Krabbengerichte ein Aufschlag von zwei Euro berechnet, denn die zeitweise geringe Ausbeute treibt die Preise in die Höhe. Das kann übermorgen schon wieder anders sein. 

Die 85-Jährige Erika Kolle macht wie jeden Abend die Runde bei ihren Gästen, begrüßt auch mich, als würde ich zur Familie gehören. Und irgendwie fühle ich mich auch so. Ich habe sie ganz frohgemut mit „Moin, Moin“ begrüßt. Beim „Klönen“ verrät sie mir dann, dass ich damit durchaus richtig gelegen habe. „Moin“ sagt man, wenn man schlicht grüßt. „Moin, Moin“ dagegen enthält eine Metabotschaft und lässt wissen, dass man auf ein Schwätzchen hofft. Mit diesem ist man bei Erika Kolle immer willkommen und schnell wird das „Klönen“ bei Kluntjes, die in meinen Tee langsam dahin schmelzen, zu einer kleinen Reise in die Vergangenheit, als der Muschelsaal noch ein Tanzsaal war, wo sich die feinen Leute trafen. Eine Zeit, als in Büsum noch niemand an den florierenden Tourismus dachte, der den Küstenort heute bis weit in den Süden bekannt gemacht hat.

Beim Open Air Event am Südstrand singen in 2024 Suzi Quatro, Johnny Logan, die Manfred Mann’s Earth Band und die „Die Fantastischen Vier“. So lange werde ich zwar nicht bleiben, aber ich hätte guten Grund dazu. Der alte Tanzsaal bei Kolle ist Geschichte, heute heißt das „Legende at the sea“. Doch die Muscheln haben eine Patina angesetzt und all die alten Geschichten von damals gespeichert, die Erika Kolle ihren Gästen beim Abendessen erzählt, das ihr Sohn gekocht hat. Er ist nicht nur Seehundflüsterer, sondern auch ein Kochtopfflüsterer. Seine Gerichte sind Gedichte, die mit Geschichten garniert werden. Er weiß auch, dass man den Seehunden nicht zu nahe kommen sollte, denn immerhin sind sie Raubtiere. Ein Rat, den die Touristen oft nicht beherzigen. Erika Kolle geht mal eben nach oben. Als sie zurück kommt, überreicht sie mir eine Austerschale als Andenken. Ich bin gerührt. Schöner kann man die Stimmung im Muschelsaal, in Büsum nicht einfangen, als in dieser Auster. Ein Ort wie eine Perle an der Waterkant, der Schutz bietet und doch offen ist für die große weite Welt. 

Doch nun kehre ich zurück ins Hotel, in die „Bretterbude“ direkt an der Familienlagune. Dort habe ich eine Butze gemietet, wo ich ebenfalls abtauchen kann. Und nu mal Budder auf die Stulle: Büsum ist zwar nicht so mondän wie das 40 Kilometer entfernte Sankt Peter Ording, hat weniger Strand und es herrscht weniger Rummel, ist dafür aber viel gemütlicher und irgendwie ein Zuhause dort droben, im echten Norden. 

Als ich Büsum frühmorgens mit dem Auto wieder verlasse, hoppeln zwei Hasen über die Straße des Wohngebiets. Und die Möwen sind auch schon wach. 

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Christiane Barth

Autor Kurzvorstellung:

Ich sammle Geschichten, die sich mir auf Reisen zeigen, füge die Einzelteile wie Puzzlestücke zusammen und erzähle sie weiter. Bin seit vielen Jahren als Reisejournalistin unterwegs.

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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