Bei jedem Schritt knirscht und knarzt es, der Wind verstärkt die knackenden Töne noch und trägt sie weiter die Küste entlang. Das Watt liegt friedlich da, als könne es keiner Muschel und keiner Wattschnecke etwas antun. Es ist Ebbe. Die Luft riecht nach Seetang und Salzwiesen, Möwen kreischen ihren Unmut über die Störenfriede hinaus auf die Nordsee und die Wattwürmer ziehen sich schleunigst zurück in ihr schlammiges Zuhause. Selbst die auf dem Deich grasenden Schafe kehren uns bei dem Schietwetter den Rücken zu. Wer am Küstensaum des niederländischen Wattenmeeres wandert, beginnt früher oder später seinen Schritt zu verlangsamen, vorsichtiger aufzutreten und seinen Fußabdruck zu minimieren. Denn das Zertreten der Schalentierpanzer und Gehäuse erzeugt Geräusche, die durch Mark und Bein gehen.
Und schließlich will man ja auch seinen Respekt vor der Natur im und am Wattenmeer zum Ausdruck bringen, also wechselt man in einen meditativen Gang, der einer Yoga-Übung nahe kommt: Langsam atmen, behutsam auftreten, sich im Gleichschritt mit der Natur bewegen und den Lärm der Welt hinter sich lassen. In Friesland geht das ausgezeichnet, daran können auch die invasiven Muschelarten aus den Philippinen und die eingeschleppten japanischen Austern nichts ändern. „Der Rhythmus der Gezeiten bestimmt das Leben im und am Wattenmeer“, sagt Andries Dykstra, der uns im kleinen Fischerort Moddergat nördlich von Dokkum in der niederländischen Provinz Friesland über den Deich und an der Wattenmeer-Küstenlinie entlang führt. Seinen wachen Augen entgeht kein Vogel und keine noch so kleine Wattschnecke, seine Erklärungen zum Welterbe Wattenmeer und zur bewegten Geschichte Moddergats sind so klar und rein wie die salzige Seeluft.
Friesland am Wasser
Man muss schon ein bisschen verrückt sein, um unterhalb des Meeresspiegels zu leben. Theoretisch könnte jeder Sturm eine lebensbedrohliche Überschwemmung auslösen. Doch wie sieht es in den Niederlanden aus? Dort leben, wohnen und arbeiten die Menschen bereits seit Jahrhunderten unterhalb des Meeresspiegels und haben sich beispielgebend arrangiert mit der wechselseitigen Beziehung zwischen Mensch und Wasser. Kein Wunder also, dass die Niederlande ein echtes Wasserland sind. Denn es gibt eine Sache, die sich durch die gesamte niederländische Geschichte zieht und die Einwohner verbindet: Wasser. Von den Stämmen im Mesolithikum, die mit ihren Kanus auf die Jagd gingen, bis zu den Entdeckern, die Segel setzten und sich über die Ränder der bekannten Welt hinauswagten, hat das Wasser die Niederlande und ihre Einwohner geprägt. Obwohl der römische Autor Plinius der Ältere es einst als „ein bemitleidenswertes Land, das zweimal am Tag überschwemmt wird“ beschrieb, gelang es den Niederländern dennoch, es in eine der wohlhabendsten Nationen der Welt zu verwandeln. Wasser schenkt uns Leben und ohne könnten wir nicht überleben. Ob beim Segeln über die Weltmeere, Schippern durch idyllische Kanäle oder Warten auf den perfekten Fang beim Angeln – die Beziehung der Niederländer zum Wasser ist international zu einem ihrer Markenzeichen geworden. Es ist keine gewöhnliche Beziehung, eine Verbindung, die im Lauf der Geschichte und über Generationen hinweg entstand, ihre Bande werden mit jedem Tag stärker. Das Wasser hat die Niederländer ganz maßgeblich beeinflusst: Sie entwickelten das früheste öffentliche Verkehrsnetz der Welt, indem sie im 17. Jahrhundert Passagierboote benutzten, um die ansonsten unwegsame Landschaft zu durchqueren. Das Leben mit Wasser bestimmt auch den direkten und pragmatischen Charakter der Niederländer: „Wir müssen zusammenarbeiten und entschlossen sein, um zu überleben.“ Für diese Herangehensweise gibt es in der niederländischen Sprache sogar ein eigenes Wort zum Thema Wasser: Poldermodel.
Das Wasser durchzieht nicht nur das Leben der Niederländer, sondern auch das Land selbst: Ein Fünftel der Gesamtfläche des Landes besteht aus Wasser. Die Beziehung der Bewohner zum Wasser ist eine Frage des Gleichgewichts, aber auch eine Frage von Leben und Tod. Man weiß es zu schätzen, aber man musste auch fast jedes Stückchen Land, das heute bewohnt wird, dem Wasser abgewinnen. Schon im 14. Jahrhundert begann man dem Meer Land abzuringen, um darauf zu leben. Heute setzt man diese Arbeit mit dem Ziel fort, nicht nur der Natur Raum zu geben, sondern auch moderne Städte und Ortschaften zu errichten. Fast ein Drittel des Landes liegt unter dem Meeresspiegel. Ohne die faszinierende Landschaft aus Gräben, Kanälen, Flüssen, Windmühlen, Poldern und Deichen wäre die Hälfte überflutet.
Bei einem Besuch der Niederlande stößt man sofort und überall auf Hinweise dieser besonderen Beziehung. Neben den Kanälen, die sich entlang den Straßen anschmiegen, und den Hausbooten, die sich an den Ufern der Wasserwege aneinanderreihen, gibt es monumentale Windmühlen, wasserreiche Naturschutzgebiete, historische Pumpstationen, herrliche Strände, großartige Museen und UNESCO-Welterbestätten zu entdecken.
Welterbe Wattenmeer
Aufgrund der einzigartigen Schönheit und der ökologischen Vielfalt wurde das Wattenmeer im Jahr 2009 zum UNESCO-Welterbe erklärt. Die faszinierende Landschaft ist geprägt durch das ständige Spiel von Ebbe und Flut. Es gibt kaum einen Ort in den Niederlanden, der so ruhig und gleichzeitig dynamisch ist wie die Wattenmeer-Region. Die Kombination aus Wind, Wetter und Wasser sorgt dafür, dass sich die Landschaft ständig verändert. Jeder Besuch birgt neue Entdeckungen und Überraschungen, man erkundet die malerischen Salzwiesen und Dünen, spaziert über den Meeresgrund oder erlebt den malerischen Sternenhimmel bei Nacht. Diese dynamische Landschaft entlang des Wattenmeeres lädt zu erholsamen Spaziergängen und Radtouren ein. Wind und Wetter sorgen dafür, dass sich der Anblick fast stündlich verändert. Im Grunde lässt sich nie sicher sagen, wie die Landschaft heute aussehen wird, das UNESCO-Weltnaturerbe ist immer für eine Überraschung gut und die Schönheit der Wattenmeer-Region ist überwältigend. Und sie flößt Respekt ein, trotz des ausgeklügelten Wassermanagements in der sich ständig verändernden niederländischen Landschaft. Denn die Erinnerung lebt: Im Januar 1953 fegte ein gewaltiger Sturm über die Niederlande. Eine Kombination aus schweren Stürmen und einer Springflut ließ den Meeresspiegel auf einen außergewöhnlich hohen Stand steigen. Während die Menschen in trügerischer Sicherheit in ihren Betten schliefen, brachen die Deiche und das Land wurde überflutet. Da es keine Notfall-Radiosendungen gab und die Wetterstationen geschlossen waren, gab es keine Warnungen. Es war die schlimmste Flutkatastrophe in der Geschichte des Landes, bei der mehr als 1800 Menschen ums Leben kamen und weitere 70.000 Niederländer obdachlos wurden. Die Nordseeflut von 1953, immer noch im Bewusstsein verankert und bekannt als „Watersnoodramp“, ließ in den Niederländern die Entschlossenheit wachsen, eine solche Tragödie nie wieder geschehen zu lassen.
Friesland an Land
Aber auch an Land hält Friesland so einige Entdeckungen bereit. Delfzijl zum Beispiel ist eine lebhafte Hafenstadt in der nördlichen Provinz Groningen. Das Eemshotel ist auf Stelzen gebaut, die fest im Meeresboden verankert sind und bietet auf Grund seiner Lage einen ausgezeichneten Zugang zum Thema Wasser. Auf einer Fahrt zur „Graan Republiek“ erfährt man alles über den traditionellen Getreideanbau in dieser Gegend. Die Graan Republiek arbeitet ständig an der Verbesserung des Lebensmittelsystems, um den besten Geschmack ihrer alten Getreidesorten zu erreichen. Sie stellt eine Genossenschaft lokaler Landwirte dar, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Lehmböden in Groningen optimal zu nutzen und die Art und Weise, wie die Menschen über Lebensmittel denken, zu verändern. In der Kooperative Graan Republiek dreht sich alles um den Geschmack. Und guter Geschmack wurzelt im Boden, in dem er gewachsen ist. Je gesünder der Boden, desto satter der Geschmack. Hier arbeiten Bauern, Praktiker, Forscher und Geschmacksexperten zusammen, um den allerbesten Geschmack zu erreichen und damit das Ernährungssystem grundlegend zu verbessern.
Ein eindrucksvolles Erlebnis ist auch der Besuch der Vogelbeobachtungsstätte Kiekkaste. Hier kann man Vögel und Seehunde vor dem Deich beobachten. Das Wasser gluckst über den Schlick und formt das Watt ständig neu, während die Vögel im nahrungsreichen Uferbereich nach Nahrung suchen. Einen großartigen Blick auf die Natur vor dem Deich bietet die Vogelbeobachtungshütte De Kiekkaaste bei Nieuwe Statenzijl, die einzige im Deichvorland gelegene Beobachtungshütte der Niederlande. Gummistiefel anziehen und Fernglas nicht vergessen: der großartige Ausblick vom Kiekkaaste setzt etwas Anstrengung voraus. Vom Deich ist es rund eine Viertelstunde Fußmarsch zur Vogelbeobachtungshütte und der der Weg kann ziemlich matschig sein. Bei starkem Wind nimmt man sich sowieso lieber etwas anderes vor. Bereit für die Wanderung? Die Aussicht auf den weiten Horizont voller Brut- und Zugvögel macht alle Mühen wieder wett.
Yoga in der Kirche
Dünen und Deiche, Wälder und Strände, Seen und Moore. An keinem anderen Ort findet man so viel verschiedene Landschaften auf so kleinem Raum wie in Friesland. Ob man die Landschaft der Provinz zu Fuß, auf dem Schiff oder auf dem Fahrrad erkundet, überall sieht man die ständig verändernde Natur. Jede Ecke Frieslands lädt zu einem neuen Erlebnis ein. Der eigenwillige Charakter der Friesen zeigt sich auf den Warften und Wiesen, in den königlichen Gärten, den natürlichen Wäldern und den Nationalparks. Mal gestalten die Friesen die Landschaft nach ihrem Geschmack, mal lassen sie der Natur freien Lauf. Das UNESCO-Weltnaturerbe wird im September zur Bühne für die Wattenoper „Peter Grimes“. Hinter dem Deich bei Paesens-Moddergat führen 150 Sänger und Sängerinnen, Schauspieler und Musiker/innen die Geschichte des Fischers Peters Grimes auf. Die mitreißende Oper vor einer atemberaubenden Kulisse zeigt das Leben in einer kleinen Fischerfamilien-Gemeinschaft.
Und im Norden Frieslands und auf der Insel Terschelling liegen die einzigen zwei niederländischen Dark Sky Parks: Dark Sky Park Terschelling und Dark Sky Park Lauwersmeer, direkt auf der Grenze der Provinzen Friesland und Groningen. Es handelt sich dabei um Gebiete, in denen die Luftverschmutzung auf ein Minimum reduziert ist. Das bietet einen einzigartig klaren Blick in den Himmel. Um in der totalen Finsternis den Nebel der Milchstraße oder sogar das Polarlicht zu bestaunen, organisiert die Provinz Friesland von März bis September besondere Aktivitäten in den Parks. Was fehlt also noch zum perfekten Urlaubsglück in Friesland? Richtig, die Yoga-Übungen in Dokkum. Geschmeidig wie die Wattschnecken wird man nach all den Friesland-Abenteuern dann wieder beim Yoga in der Kirche. Ein zu tiefst beeindruckendes Erlebnis ist die Yoga-Sitzung mit Petra Weel in der Bonifatiuskapelle in Dokkum, einem mystischen Ort und einem Märtyrerfeld, auf dem im Jahre 754 der Mönch und Missionar Bonifatius ermordet wurde: Da bekommen die klappernden Knochen wieder ihre Geschmeidigkeit zurück und die Gedanken in wohltuende Ordnung.
Weitere Informationen
Niederländisches Büro für Tourismus & Kongress, https://www.holland.com/de
Groningen, www.visitgroningen.nl
Eemsdelta, www.visiteemsdelta.nl
Van het Wad, Wattexpeditionen, Casper Meinders, www.vanhetwad.nl
Übernachten:
Eemshotel, Delfzijl, www.eemshotel.nl/de
De Schreiershoek, Dokkum, www.schreiershoek.nl
Suvelfabryk, Moasterwei 14, 9134 PD Ljussens, www.suvelfabryk.nl
Attraktionen:
Graan Republiek, Oudezijl 1, Bad Nieuweschans, Groningen, www.graanrepubliek.de
Bonifatiuskapelle, Bronlaan 12, Dokkum, www.bonifatiuskapel.nl
Eine neue Wanderroute zu den kleinen friesischen Kirchen aus dem Mittelalter entsteht gerade: Het Ziltepad, www.groningerkerken.nl
Meer Yoga, Petra Weel, www.yogaophetwad.nl
Essen und Trinken:
Appingedam Paviljoen Overdiep, https://paviljoenoverdiep.nl/
Proeflokaal Dokkum, Markt 30A, Dokkum, www.proeflokaaldokkum.nl