Jedes Jahr im September wird das Südtiroler Schnalstal zur Bühne einer jahrtausendealten Tradition: der Transhumanz. Begleiten Sie die Hirten und ihre Schafe auf ihrer spektakulären Rückkehr vom Ötztal über 3.000 Meter Höhe – ein Stück lebendiges UNESCO-Weltkulturerbe.
Ein Morgen im Schnalstal – Aufbruch zur Similaunhütte
Am Morgen um Sieben ist meine Welt noch in Ordnung. Die Sonne klettert gerade über die Gipfel im Schnalstal bei Vernagt und verleiht dem dortigen Stausee eine wunderschöne tiefblaue Färbung. Von der Staumauer auf rund 1700 Metern aus bin ich über eine gewundene Asphaltstraße gestartet, zunächst bis zur Jausenstation Tisenhof. Gleich dahinter führt hinter einem Kuhgatter ein Pfad in einer nur zu Beginn noch leichten Steigung durch einen lichten Lärchenwald und das Tisental hinauf. Die Landschaft öffnet sich bald oberhalb der Baumgrenze und der Weg zieht sich durch Almwiesen in Richtung meines Ziels, der Similaunhütte, die auf 3.019 Metern am Niederjoch zu Füßen des Similaun-Gipfels (3.606 m) liegt.

Vom Tal zum Gipfel – Auf dem Weg ins Reich der Stille
Hin und wieder höre ich das Bimmeln von Kuhglocken. Ansonsten herrscht himmlische Ruhe, während allmählich vom Tal her Nebelwolken heraufziehen und den Blick auf den See verdecken. Heute ist ein besonderer Tag, an dem ich für ein paar Stunden Teil einer jahrtausendealten Tradition werden darf: der Transhumanz. So heißt die 44 Kilometer lange Wechselwanderung der Schafe zwischen ihren Winter- und Sommerquartieren, eine der bedeutendsten kulturellen Traditionen des Schnalstals, wenn nicht des gesamten Alpenraums. Dabei treiben die Schnalser Bauern und ihre Hirten zweimal im Jahr Tausende Schafe (und einige Ziegen) über die Alpen – im Juni auf die Hochweiden bei Vent im österreichischen Ötztal und im September zurück ins Schnalstal. Der Begriff „Transhumanz“ stammt ursprünglich aus dem Lateinischen „trans“ (jenseits, hinüber) und „humus“ (Erde, Boden). Er wurde zudem über das Französische „transhumer“ oder „transhumar“ überliefert, was so viel wie „wandern“ oder „mit Herden wandern“ bedeutet.

Jahrtausendealte Tradition: Die Transhumanz der Schafe
Dieser Herdentrieb wird, so erzählen die Einheimischen, seit rund 6.000 Jahren praktiziert und ist spätestens seit 1357 urkundlich belegt. Seit 2019 zählt die Transhumanz zum immateriellen UNESCO-Weltkulturerbe. Gesellschaftlich und ökologisch ist sie von großer Bedeutung: Sie fördert die Biodiversität auf den Almen, erhält alte Weiderechte und sorgt für eine naturnahe, nachhaltige Form der Viehwirtschaft. Die Schnalser Schafrassen – etwa Schnalser Schaf, Tiroler Steinschaf oder Villnösser Brillenschaf – sind typisch für die Region.

Der steile Weg in den Nebel – und zum Ursprung des Brauchs
Heute werden die Schafe auf ihrer letzten Etappe bei der Rückkehr von der Similaunhütte nach Vernagt getrieben. Doch bis ich das erleben darf, gilt es wacker weiter bergan zu steigen und die Kräfte einzuteilen. Denn der Weg ist inzwischen richtig steil, mit einer durchschnittlichen Steigung von 25 Prozent und einem Höhenunterschied von rund 1.300 Metern. Drei Stunden dauert der Aufstieg, der mir, obwohl gut trainiert, angesichts zunehmend dünnerer Luft, einiges abverlangt. Je höher ich steige, desto karger wird die Landschaft, die irgendwann nur noch aus dunklem Schotter besteht und in etwa so feindlich wirkt wie der Berg Mordor im Film „Herr der Ringe“.

Wenn die Schafe kommen: Das Spektakel der Rückkehr
Der inzwischen dichte Nebel verleiht dem Pfad zusätzlich eine mystische Aura. Die Sicht ist eingeschränkt, die Temperatur nahe null Grad. Nur das Knirschen meiner Schritte auf dem steinigen Boden schnarrt durch die Stille. Und irgendwann höre ich sie dann, die Glocken der Herde, die die Hirten der Nähe der Similaunhütte für ihren letzten Weg ins Tal zusammengetrieben haben.
Kurz bevor ich die Hütte erreiche, kommen mir schon die ersten Hirten entgegen und fordern mich auf, mich seitlich vom Weg in Sicherheit zu bringen. „Weiter geht’s ned und do koanscht ned bleiben, wenn die Schoaf glei kemman und schieben.“ In jeder der Kehren des felsigen Pfades haben sich weitere Hirten und Helfer postiert, die – mit langen Stöcken bewehrt – mithelfen, dass die Schafe in der Kurve nicht gerade auslaufen und möglicherweise in die Tiefe stürzen.




Hirtenrufe und Glockenklang im Nebelmeer
Von meiner sicheren Position oberhalb des Wegs verfolge ich das einzigartige Spektakel, dass nur wenige Minuten später seinen Lauf nimmt: Den steilen Weg hinunter kommt als Vorhut einer der Hirten mit seinem Hund. „Hoi, hoi, zrück, zrück, zrück“ ruft er den in den Kehren postierten Kollegen zu und gibt Meldungen über sein Funksprechgerät an die Kameraden, die ihm mit den ersten Schafen auf dem Fuß folgen.
Und dann bricht sie los, die Naturgewalt: Vorsichtig, wie tastend, schieben sich die ersten Schafe durch den Nebel den felsigen Pfad hinab. Es ist ein Rufen und ein Schreien, ein Mähen und Meckern, ein Bellen und Scheppern, ein Bimmeln und Wimmeln, ein Schieben und Springen. Dazwischen die Rufe der Hirten. Wie ein nicht abreißender Strom ergießen sich 1350 Schafe bergab, unmittelbar an mir vorbei, weiße und graue, braune, schwarze und gescheckte, Muttertiere, Lämmer und behörnte Widder.

Ein Kulturerbe in Bewegung – Zwischen Himmel und Fels
So unvermittelt das Spektakel begann, so plötzlich ist es auch – nach etwa 20 Minuten – schon vorbei. Wie vom Wind verweht, zieht das Mähen, Rufen und Bimmeln gen Tal. Mit der Nachhut der Hirten und den Helfern aus den Kurven steige ich den Schafen hinterher. Der Weg nach Vernagt ist lang und steinig, der Boden weiterhin schroff und anspruchsvoll.

Doch die Herde zieht unbeirrt ihre Bahn, begleitet von den Hirtenhunden, die mit Bedacht und Geschick das Gehege zusammenhalten. Als wäre es eine Filmkulisse, lichtet sich dann sogar der Nebel und unten im Tal wird wieder der Vernagt-See sichtbar, das endgültige Ziel der Schafkarawane. Doch nach dem anstrengenden Weg durch Schotter und Geröll rasten Schafe und Hirten noch ein letztes Mal auf einer Hochalm, um Kraft zu sammeln für die finale Etappe.




Hirten mit Leidenschaft – Gespräche am Rande des Weges
Hier treffe ich auf Manuel Götsch, den obersten der sieben Hirten, die den Sommer über bei den Schafen im Ötztal geblieben sind. Er begrüßt mich mit einem freundlichen Nicken und einem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht, das von einem rothaarigen Vollbart umrahmt ist. Auf dem Kopf sitzt kess der typische Schäferhut.
„Es ist schon erstaunlich, wie man es immer wieder schafft, mit so wenig Personal so viele Schafe gesund ins Ötztal zu bringen und wieder zurück. “
“Diesmal haben wir kein einziges Schaf verloren“, strahlt der 28-Jährige sichtlich erleichtert, der seit seinem fünften Lebensjahr durchgehend bei der Transhumanz dabei ist, seit fünf Jahren als Oberhirte.

Tradition mit Herzblut – Die Philosophie der Transhumanz
„Körperlich ist das schon etwas anstrengend“, erzählt der gelernte Metzger und Waldarbeiter. „Mal gibt es Freudentage und mal ein weniger feines Tagl, wenn die Schafe was anderes wollen. Aber ich mache es für die Tradition und den Zusammenhalt im Tal. Und wenn man eine flotte Truppe ist wie wir, dann hat man auch trotz der Arbeit viel Spaß.“ Oder auch eher traurige Arbeit zu verrichten. Denn wenn ein Schaf abstürzt und sich verletzt, bleibt meist nichts anderes übrig als die Notschlachtung.
Zwischen Gletschern und Generationen – Das Leben der Hirten
Manuels Großvater war 25 Jahre lang Obmann der „Interessentgemeinschaft“, wie die Vereinigung der Schnalstaler Bauern heißt. „Das hier ist keine leichte Sache,“ sagt er, „aber tief in uns steckt die Liebe zur Tradition und zur Natur. Die Transhumanz ist mehr als ein Viehtrieb, sie ist eine Lebensweise. Uns geht es darum, diesen Zyklus zu bewahren – und dabei im Einklang zu bleiben mit dem Land.“
“Tief in uns steckt die Liebe zur Tradition und zur Natur. Die Transhumanz ist mehr als ein Viehtrieb, sie ist eine Lebensweise. Uns geht es darum, diesen Zyklus zu bewahren – und dabei im Einklang zu bleiben mit dem Land.” – Hirte Manuel Götsch
Manuel erzählt weiter von den Herausforderungen auf der 44 Kilometer langen Strecke über den Gletscher vom Ötztal ins Schnalstal: „Der Pfad ist steil, das Gelände schwierig, und das Wetter kann sich schnell ändern. Aber die Schafe kennen ihren Weg, sie spüren die Jahreszeiten im Blut. Für uns Hirten ist es eine Aufgabe, das alles gut zu koordinieren und sicherzustellen, dass keines verloren geht.”

Kulturerbe im Klimawandel – Wege durch Eis und Zeit
Durch den Rückgang der Gletscher führt der Zug inzwischen auf den Hauptwegen nur noch an Gletschern und Gletscherzonen vorbei, teils über Altschneefelder und Moränen. Sowohl beim Sommerübertrieb im Juni als auch im September kann es hier oben auf über 3000 Höhenmetern auch immer wieder Schnee geben. „Heute waren wir sehr schnell, das Wetter hat einigermaßen gepasst. Durch den Nebel haben wir sie schnell durchtreiben müssen und schauen, dass wir keines verlieren. Schafe sind bisweilen recht störrisch, die haben oft ihren eigenen Plan. Manche Schafe können sogar richtige Aschlöcher sein. Die sind viel schwieriger zu hüten als Kühe, denn sie sind sehr viel wendiger und flinker und springen an Stellen, wo man als Hirte kaum hinterherkommt.“

Almwiesen, Wölfe und Weiderechte – Herausforderungen heute
Etwa seit Ötzis Zeiten, so erzählt Manuel, treiben die Schnalstaler Bauern ihre Herden ins Ötztal, wo ihnen rund 6000 Hektar Weideland gehören. „Die Almwiesen sind dort saftiger als auf dieser Seite der Berge“, erzählt Hirte Michael, Manuels Bruder. „Und heutzutage gibt es noch einen weiteren Grund, die Schafe dort hinzubringen: Es gibt dort keine Wölfe, die den Schäfern hier in Südtirol durchaus zu schaffen machen“, sagt er und fügt noch hinzu: „Das musst Du unbedingt schreiben, das mit den Wölfen!“

Gemeinschaft und Unterstützung – Das soziale Netz der Hirten
Inzwischen sind es 22 Schafbauern, neben dem Schnalstal auch aus den Südtiroler Tälern wie dem Sarntal. dem Passeiertal oder dem Pustertal, die ihre Schafe ins Ötztal bringen lassen. Zwölf Euro pro Schaf zahlt jeder Bauer an die Interessentgemeinschaft für das Sommerquartier. Zusätzlich unterstützt die UNESCO die Transhumanz mit einem Zuschuss und übernimmt Kosten, etwa für Salz oder notwenige Helikoptereinsätze.

Blumen im Fell – Ein Fest für das Schnalstal
Bevor es dann von der Zwischenstation auf der Alm endgültig nach Vernagt ins Tal geht, werden noch einige Schafe „aufgeziert“ wie man sagt. „Die hübschesten Schafe bekommen jetzt vom Sepp noch einige Blümchen ins Fell gebunden zur Feier des Tages“, erklärt Manuel. Und dann ruft er seine Kollegen per Walki-Talki zum Aufbruch auf die finale Etappe. Steil bergab über ein tief in die Felsen geschnittenes Bachbett und auf der anderen Seite wieder hinauf geht es für Schafe und Hirten weiter.

Das große Wiedersehen – Wenn das Schnalstal feiert
Ich begleite die Herde noch durch einen Lärchen- und Kiefernwald bis ins Tal, wo die Schafe von ihren Eigentümern in Empfang genommen werden. Durch ihre farbigen Markierungen auf dem zotteligen Fell findet jeder seine Tiere und leitet sie in die entsprechenden Koppeln, die von hunderten Schaulustigen umlagert sind.

Denn das bunte Treiben wird in Vernagt noch mit einem traditionellen Fest gebührend gefeiert. Zünftige Blasmusik erklingt, selbstgebackene Kuchen und Südtiroler Speisen werden zu Bier, Wein und Wasser gereicht, und die Gesichter der Hirten und Schafbauern strahlen vor Zufriedenheit und Stolz. Für die Hirten ist dieser Moment ein großer Erfolg – die lange Reise ist geschafft, alle Tiere und sie selber sind sicher zurück.


Transhumanz erleben – Geschichte, Gegenwart und Zukunft
Hier treffe ich auch Heiko wieder, der oben am Berg gleich neben mir als Helfer die Hirten unterstützt hat. Der Hesse ist zum zweiten Mal dabei und derart begeistert, dass er sich die Transhumanz auf den Unterarm hat tätowieren lassen.

Am Ende dieses besonderen Tages bleibt die Erkenntnis: Auch wenn die Strecke zeitweise die eine oder andere Herausforderung bot, war es den Einsatz wert. Einen Teil der Transhumanz im Schnalstal selber mitzuerleben, war nicht nur ein Ereignis, sondern ein einzigartiges Erlebnis, eine Geschichte, eine Begegnung von Tradition und Gegenwart, die weit über den bloßen Schaftrieb hinausgeht.
Campus Transhumanz – Wo Wissen auf Erlebnis trifft
Einblicke in die Geschichte und Bedeutung der Transhumanz bietet seit Juni 2025 der „Campus Transhumanz“ im Ort Unser Frau, in direkter Nachbarschaft zum archeoParc Schnalstal – mit Ausstellungen, Erlebnisstationen und Veranstaltungen zu diesem einmaligen Kulturphänomen.

Der Campus Transhumanz besteht aus drei rekonstruierten Gebäuden, die
teilweise bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen: der Bruggerhof-Stadel, die Schmied
Hütt und die Gorfer Mühle. Ergänzt wird das Ensemble durch eine Nachbildung einer
venezianischen Säge.
„Der Campus Transhumanz soll künftig mehr sein als ein musealer Ort – er wird ein
lebendiges Zentrum für Austausch, Begegnung und Wissensvermittlung rund um das
immaterielle Kulturerbe der Transhumanz“, so Johanna Niederkofler vom
archeoParc Schnalstal, die auch die Leitung des Campus innehat. Der
Campus ist jeweils am Freitagnachmittag sowie ganztags
am Samstag und Sonntag mit dem Ticket des archeoParcs zugänglich.
Weitere Informationen zum Schnalstal und zur Transhumanz:
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Reise-Stories bedankt sich bei der Tourismusgenossenschaft Schnalstal für die Unterstützung der Recherchen.