Schon unterwegs hatte sich der Ohrwurm festgesetzt: „Theo, wir fahr´n nach Lódz“! Warum Vicky Leandros einst mit ihrem Theo unbedingt nach Lódz (Lodsch) und nicht nach Warschau oder Krakau wollte, ist für Boguslaw Szubert keine Frage: „Wir haben den längsten Boulevard Europas mit der größten Dichte an Bars und Klubs, viele Museen, schöne Parks und das größte Einkaufs- und Erlebniszentrum in ganz Polen“, erklärt der Stadtführer stolz und lenkt zielstrebig in Richtung Ulica Piotrkowska. Knapp fünf Kilometer misst die belebte Flaniermeile, die an der Statue des Nationalhelden Tadeusz Kosciuszko beginnt. Historische Häuser, einige im alten Stil neu hergerichtet, sind aus der Zeit, als sich Lodz als Textilmetropole weithin einen Namen gemacht hatte, erhalten geblieben.
Von Renate Wolf-Götz
Auf einem kleinen Platz mitten auf dem verkehrsberuhigten Boulevard haben sich drei in Bronze gegossene Textilbarone um einen wuchtigen Tisch versammelt. „Diese drei Herren haben mit ihren Zukunftsvisionen aus der unbedeutenden Kleinstadt ein wichtiges Wirtschaftszentrum gemacht“, betont Herr Szubert. Die Spuren der Patrioten sind allgegenwärtig. Gemeinsam haben sie das einst verschlafene 200 Einwohner Nest, das unter russischer Herrschaft stand, im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu einer Textilmetropole mit rasantem Aufschwung verwandelt. Die prachtvollen Paläste des jüdischen Unternehmers Izrael Poznánski und der beiden deutschstämmigen Industriellen Henryk Grohmann und Karol Scheibler haben die DNA der Stadt geprägt, davon ist Stadtführer Szubert überzeugt. Mit diesem Charakter ist die Stadt nach der Wende gleichsam wieder auferstanden. Aus der einstigen Textilfabrik des damaligen Tycoons Poznánski wurde die „Manufaktura“, ein Kultur- und Freizeit-Ensemble in der bewährten Backsteinarchitektur, die auch den Rahmen für das integrierte stylische Hotel Andels by Vienna House gibt. Die großzügige Gestaltung der Räumlichkeiten wurde beibehalten und mit zeitgemäßem Design ausgestattet.
Das brachte sowohl intime Gestaltungsmöglichkeiten in den Zimmern und Suiten mit sich, als auch genügend Raum für Festlichkeiten, Kongresse und Präsentationen. Automobilhersteller etwa können ihre Karossen mühelos und mit Knalleffekt in den Showroom der oberen Etage einrollen: Der geräumige Fahrstuhl aus vergangenen Fabriktagen bieten selbst für einen SUV der oberen (Preis)Klasse genügend Platz.
Mit der politischen Wende in Polen erlebte die Textilindustrie ihren Niedergang. Für die erst einmal brach liegenden Fabriken hat dann aber doch eine neue Blütezeit als Einkaufs-, Kunst- und Kulturzentrum begonnen. In der Villa des damaligen Fabrikanten Karol Scheibler im Viertel Ksiezy Mlyn (Pfaffenmühle) heißt es jetzt „Film ab“. 1986 ist das umfangreiche Kinomuseum der Stadt in die herrschaftlichen Räume des Neorenaissance-Palastes eingezogen. Selbst technische Laien sind von der vielfältigen Sammlung an Filmkunst und -technik beeindruckt. Unzählige Reminiszenzen an die Größen der Filmgeschichte rufen Erinnerungen an so manchen berühmten Kinostreifen wach. Vollends in Bann zieht das raumgreifende Fotoplastikon jeden Hobbycineasten. „Vor über hundert Jahren haben sich Kinogänger mit dem Panorama in 3D schon die Zeit vertrieben, bis der eigentliche Film anfing“, sagt Agnieszka Wranicz. Die Szenenbilder seien immer wieder ausgewechselt worden. „Werfen Sie einen Blick hinein!“, fordert die Museumsführerin auf. Unverkennbar sind die Szenen aus „The Flying Machine“ zur Hintergrundmusik von Frédéric Chopin. Begeistert von den entdeckten Szenen auch aus anderen Kultfilmen können wir uns kaum mehr losreisen von dem riesigen Guckkasten.
„Lódz hat sich einen Namen als „Hollywood des Ostens“ gemacht“, sagt der Stadtführer. Zuerst hatten die polnischen Filmkünstler Warschau im Visier. Aber das lag nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern und die Kreativen waren in Aufbruchstimmung. Sie wollten ihre Ideen umsetzen und machten sich auf in die nächstgrößere Stadt nach Lódz. Schon bald öffnete die Filmhochschule hier im geographischen Zentrum Polens ihre Pforten. Die Filmschaffenden fanden in der Textilstadt das, was sie suchten: Raum zum Arbeiten und Wohnen und, was noch wichtiger war, das liberale Klima, in dem sich die Avantgarde des Films entfalten konnte. Roman Polanski, Andrzej Wajda oder der Dokumentarfilmer Krzysztof Kieslowski haben Meilensteine mit ihren Filmen gesetzt. Versteht sich, dass die Genregenies auf dem „Walk of Fame“ mitten auf dem Prachtboulevard Pietrkowska vertreten sind.
Unter den zahlreichen Messingsternen glänzt auch Artur Rubinstein, der elegante Pianist. Schon schwirrt wieder Vicky Leandros´ Lódz-Hymne durch den Kopf. „Musik und Tanz und etwas Eleganz“, wollte die griechische Schlagersängerin mit ihrem Theo erleben. Schon beim Flanieren über die Ulica Piotrkowska dringen von mehreren Seiten musikalische Klänge ans Ohr, vom virtuosen Spiel eines Geigen-Trios über folkloristisches Gitarrenspiel bis hin zu rockigem Sound. Artur Rubinstein, der vor 130 Jahren in einem der noblen Häuser der Piotrkowska zur Welt kam, sitzt ungerührt von jeder Beschallung an seinem Messingflügel und lächelt charmant wie zu Lebzeiten.
Die neuen Modemacher setzen die Tradition fort
In einem kleinen Café der „Off Piotrkowska“, einer Kreativ-Schmiede in einer der ehemaligen Baumwollfabriken, gibt es frisch gebrühten Kaffee zu selbst Gebackenem. Die bunte Einrichtung, über der sich Kaffee- und Kuchenduft ausbreitet, wirkt so behaglich, dass der Regenschauer, vor dem wir uns ins Trockene gerettet haben, noch anhalten könnte. Andererseits gibt es viel zu entdecken und zu stöbern in dem Zentrum für Kreative. Junge Künstler und Designer haben ihre Concept Stores hier eingerichtet. Damit setzt die neue Generation der Modemacher die Tradition der einstigen Textilbarone gleichsam fort. In der zwanglosen Startup-Szene meldet sich die Leandros mit ihrem Lódz-Lied zurück. „Da kann ich leben, bin ich frei …“, trällerte sie damals beschwörend.
Nach über hundert Aufbaujahren in der aufstrebenden Viernationen-Stadt, in der Polen, Deutsche, Russen und Juden friedlich zusammengelebt hatten, kam mit dem Zweiten Weltkrieg das jähe Ende der Freiheit. 230 000 Juden und damit ein Drittel der Einwohner der polnischen Wirtschaftsmetropole (die heute um 700 000 Einwohner zählt) wurden in ein Ghetto gepfercht. Im Dokumentationszentrum im still gelegten, etwas außerhalb gelegenen Bahnhof, von dem aus einst Menschen in Viehwaggons in verschiedene Konzentrationslager abtransportiert wurden, versuchen wir die unfassbar leidvollen Zustände der Zeit zu begreifen, in der zu Ehren des deutschen hier stationierten Generals Litzmann aus Lódz vorübergehend (1940-44) in Litzmannstadt wurde.
Dunkle Wolken bedecken den Himmel, als wir mit Boguslaw Szubert vor dem schmiedeeisernen Tor des nahegelegenen jüdischen Friedhofs stehen. „Wir sind froh, dass der Friedhof nicht auch zerstört wurde“, sagt der Stadtführer. Die Reichen unter den Juden in Lódz haben sich in friedlicher Zeit auf der europaweit größten jüdischen Begräbnisstätte mit monumentalen Mausoleen ein Denkmal gesetzt. Der erfolgreichste unter ihnen, Izrael Poznanski, setzte mit einem bombastischen Grabmal seinem prunkvollen Leben einen stilgerechten Schlusspunkt. Schon mit seinem Stadtschloss hatte der Textil-Tycoon alles bisher Dagewesene übertroffen. „Ich kann mir alle Stile leisten“, soll er verkündet haben. Noch in der sozialistischen Ära wurde das eklektische Bauwerk (heute Stadtmuseum) wie auch die weitläufigen Gebäude der Textilfabrik unter Denkmalschutz gestellt. Ein Segen, denn damit war für die neuen Besitzer, ein französisches Unternehmen, klar: Das Neue muss ins Alte. Aus der alten Fabrik wurde die neue „Manufaktura“, die sich mit ihrem umfangreichen Angebot zur größten touristischen Attraktion der Stadt entwickelt hat. Restaurants und Diskos, Sportzentren, Kinos, Theater, Museen und nicht zuletzt die Shoppingmeile sorgen für Unterhaltung. Wer Entspannung sucht, lässt sich am aufgeschütteten Strand zwischen Palmen nieder. Die Manufaktura sei wie eine Stadt in der Stadt, sagt Herr Szubert. „Das hätte sich ihr Gründer Poznanski wohl nicht träumen lassen, aber es hätte ihm bestimmt gefallen“, vermutet er. Dem Theo ganz sicher auch.
Informationen
Allgemeine Auskünfte erteilt das Polnische Fremdenverkehrsamt in Berlin
Tel.: 030 210092-0, www.polen.travel
Übernachten: Andel´s by Vienna House. Das preisgekrönte Designhotel in der ehemaligen Spinnerei des Poznanski-Textilunternehmens ist Teil des neuen Freizeitareals „Manufaktura“. Ulica Ogrodowa 17, 91065 Lódz, www.viennahouse.com
Essen und Trinken: Restaurant Galicja innerhalb der „Manufaktura“ ist ein rustikales Restaurant mit typisch polnischer Küche. Reservieren empfiehlt sich (geöffnet 11-22 Uhr) Tel.: 004842 6308855, www.galicjamanufaktur.pl
Das Restaurant Laznia im Textilmuseum bietet einfache und preiswerte Küche. Mittagessen (Suppe und Hauptgericht) ab knapp 4 Euro, ein Glas Bier 1,40 Euro. Geöffnet 12-22 Uhr, Piotrkowska 282, Tel.: 004860 5353919.
Im Restaurant Esplanade im Vintage Stil haben die jungen Köche mit ihren verfeinerten polnischen Gerichten der einheimischen Küche zu neuer Beliebtheit verholfen. Das Tagesgericht kostet zwischen 6,50 bis 7,50 Euro, eine Tasse Kräutertee gibt es für knapp einen Euro, Cappuccino und Latte Macciato für 1,80 bzw. 2 Euro.
Das stylische Restaurant Delight im historischen Ambiente des Hotel Andel´s by Vienna House bietet eine Kombination aus Fusions- und internationaler Küche. Dafür hat der junge polnische Küchenchef bereits 2 Gault&Millau-Hauben eingeheimst. Menüs (auch vegane) zwischen 10 und 32 Euro. Abends von 18 bis 23 Uhr geöffnet. Tel.: 004842 2791677, restaurant.andels-lodz.viennahouse.com
Museen:
Muzeum Kinematografii (Kinomuseum) – www.kinomuzeum.pl
Textilmuseum mit Freiluftmuseum der typisch Lodscher Archtitektur in und außerhalb der „Weißen Fabrik“, Piotrkowska 282, www.muzeumwlokienniclwa.pl
Stadtmuseum im ehemaligen Poznanski-Palast – www.muzeum-lodz.pl
Manufaktura:
Touristisches Informationszentrum Tel.: 0048695 131113, www.manufaktura.com