Sizilien: Si vende.

Die intensivste Form des Reisens? Wenn man am Zielort bleibt? Drückt man dann mit dem eigenen Auswandern seine Liebe zu dem Ort am Intensivsten aus, den man bevorzugt als Tourist besucht hat? Vielleicht. Und welches sind die beliebtesten Ziele? Eindeutig ganz vorne in Europa ist Italien. Und dort findet man schließlich Sizilien, hatte doch schon Altmeister Goethe das Lob der Insel gesungen: „Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele: hier ist erst der Schlüssel zu allem.“ Doch welches Bild in der Seele macht Sizilien heute?

Stellen wir die Antwort einen Moment zurück: „Unsere Mission: Aufwertung & Wiederbelebung italienischer Orte.“ Und der Leser dieses Mottos wird direkt aufgefordert, „Seien Sie Teil dieser Herausforderung!“ So tönt ein „Portal für alle Italien-Liebhaber, egal ob Unternehmen, Verbraucher, Rentner, Auswanderer, Aussteiger oder digitaler Nomade.“ Italien sei das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. „Obwohl Mitglied der G7-Staaten, liegt unendlich viel Potential brach, was es zu heben gilt.“ Hinter diesem Portal und hinter der Firma, die Reisen nach Aragona, in die Stadt, wo des Inhabers Eltern wohnen, organisiert, steht ein Rechtsanwalt aus Bad Endorf, Salvatore Barba.

Da ist einmal das „brachliegende Potential“ und zum anderen die Suche nach einem Bild in der Seele. Kann man beides zusammenbringen? Ein Ortstermin in Aragona und an anderen Stellen in Italien soll dabei helfen. Aragona liegt eine halbe Stunde nördlich von Agrigent und in Richtung Landesinnere. Auf der Fahrt vom Flughafen Palermos muss natürlich ein Stopp am Tempel von Segesta sein. „Der Tempel von Segesta ist nie fertig geworden, und man hat den Platz um denselben nie verglichen, man ebnete nur den Umkreis, worauf die Säulen gegründet werden sollten; denn noch jetzt stehen die Stufen an manchen Orten neun bis zehn Fuß in der Erde, und es ist kein Hügel in der Nähe, von dem Steine und Erdreich hätten herunterkommen können. Auch liegen die Steine in ihrer meist natürlichen Lage, und man findet keine Trümmer darunter.“ Diese Beschreibung des Altmeisters aus Weimar klingt sehr sachlich, und die Worte spiegeln wohl nicht seine Seele. Andere Reisende sahen dies anders. Für sie und für mich ist Segesta der schönste griechische Tempel der Insel. Bei Agrigent gibt es im valle dei tempi gleich mehrere Ruinen der Hellenen, und studiert man ihre Geschichte kommen eher raue und nicht beseelte Geschichten zutage, von Griechen, die gegen Griechen kämpften und sich dafür auch mit dem Feind der Griechen, Karthago verbündeten. Der Wirt im „Organic Farm Resort Fontes Episcopi“, das außerhalb von Aragona liegt, wo die „Herausgeforderten“ zum respektablen Übernachtungs-Preis von 150 Euro pro Tag, die ich zahlte, untergebracht werden, meinte, dass viele Gäste wegen des Valle und der griechischen Tempel kämen, wo er selbst auf einem Feld ein uraltes Getreide zieht. Sie würden die halbe Stunde Fahrzeit in Kauf nehmen. Aragona selbst, in das Goethe ausweislich seiner Aufzeichnungen nie einen Fuß setzte, hat einige schöne Paläste, wie den Palazzo Principe Naselli, und verehrungswürdige Kirchen wie die Chiesa Madre aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts. Seine historischen Wurzeln gründen tief, bis in die Zeit der Nekropolen, es kamen Araber, Normannen, Bourbonen, Staufer, Griechen, Römer, die Anjous, die Spanier. Goethe nicht.  Jetzt hat es dem Verfall preisgegebene Stadtviertel, es hat den höchsten Prozentsatz an Ausgewanderten, 95 Prozent der einstigen Bevölkerung, und den höchsten Grad an urbanem Verfall. Zuzuschreiben ist dieser Niedergang der Schließung der Schwefelminen und der politischen und administrativen Vernachlässigung. Neben den Ruinen ist es der Müll an den Straßenrändern, der zum Himmel schreit. Salvatore Pantalena, ein aragonesischer Künstler, versucht diesen Schrei hörbar zu machen. Und Salvatore Barba, der Rechtsanwalt aus Bad Endorf, will mit der Firma Bavicon daraus ein Geschäftsmodell machen? Da verlangt es viel Idealismus. In kleinen Schritten will Barba vorangehen. Zunächst soll eine Internetplattform der Stadt bei der Selbstvermarktung helfen.

Die „Herausforderung“ für die „Italien-Liebhaber“ dürfte woanders liegen. Wer liebt schon ein Land, das in seinem eigenen Müll erstickt? Und warum gibt es diesen Müll auf Straßen und Plätzen, auf Feldern und Stränden? Na klar, weil eine ordentliche Müllentsorgung nicht funktioniert, trotz verkündeter Mülltrennung. Oder deswegen. Und da die Italiener wie beim Fußball eine Klassifizierung lieben, nennt „Ecosistema Urbano 2022“ als umwelt-versauteste Städte Palermo und Catania, die sizilianischen Großstädte, die kleineren befinden sich ebenfalls am Boden der Tabelle. Und was die Lebensqualität – entsprechend einer Untersuchung der Tageszeitung „Italia Oggi“ und der römischen Universität La Sapienza – angeht, rangiert Ragusa weit unten auf Platz 84 und ist doch die bestplatzierte  aller sizilianischen Provinzen. Warum? Weil Sizilien immer von fremden Mächten regiert wurde, denen es nicht um das Wohl des Landes ging. Die Trinacria war Beute mit gespreizten Beinen. Auf gesellschaftliche, politische oder soziologische Umbrüche wurde nicht durch Vorsorge und Neugestaltung reagiert, sondern man überließ die Menschen und das Land sich selbst. Das Land verkümmerte und die Menschen emigrierten.

Was passiert heute? Ich fahre nach Agrigent, dann die Küste entlang Richtung Osten, Richtung Gela. Und allmählich verschwindet die Landschaft, verschwinden die Wiesen, die markanten Kalkfelsen, die Olivenhaine unter Plastikfolien. Wie einst der Schwefel ist es nun eine Gemüse- und Obst-Industrie, die eine landwirtschaftliche Monokultur erzwingt, in einer Gegend, die eigentlich ein wichtiges Asset des Tourismus ist. Eine ganze Region wird unter Plastik begraben. Zwischen den Plastik-Zelten der Müll in Plastiktüten. Wachsen in dieser Umgebung die Zutaten der geliebten Caponata? Sind sizilianische Tomaten auch nicht besser als die holländischen? Aus diesen Brutstätten sollen „sonnengereifte Geschenke der Natur“ kommen?  Und wer arbeitet hier zwischen gesundheitsschädlichen Chemiezutaten in beklemmender Schwüle? Überwiegend Illegale. Geflüchtete aus Afrika. Landwirtschaftliche Produkte sind ein wichtiger Zweig des Inseleinkommens, so wie der Tourismus. Aber wie schon bei dem Schwefelabbau: Es sind fremde Konzerne, die das Geschäft machen.

Ich fahre weiter gen Osten bis zu einem Fleckchen Erde, direkt am Meer. Hier würde sich jeder „digitale Nomade“ wohlfühlen, wenn er im Rauschen von Wind und Wogen seinen Laptop aufklappen könnte. Hier an der „Mannara Beach“ könnte eine Urbanisation für „digitale Nomaden“ entstehen. Es muss ja nicht Aragona sein. Hier, unweit von Marina di Modica steht La Fornace Penna, ein Monument aus einer ebenfalls untergegangenen industriellen Epoche, das als „la Mannara“ von Andrea Camilleri in dem Buch „la forma del aqua“ und in der folgenden Montalbano-Film-Produktion weltweit bekannt gemacht wurde. Ziegel und Fliesen wurden hier ab 1912 hergestellt und in den Mittelmeerraum exportiert, bis irgendjemand im Auftrag eines Konkurrenten Feuer legte. „Es ging um Geld“, erklärt mir ein alter Mann, der mir begegnet. Die Ruine sieht aus wie eine Kathedrale. Hier könnte man investieren, den Traum einer Harmonie zwischen Urlaub und Arbeit, zwischen Natur und Urbanität realisieren. Warum geschieht das nicht? „Es geht um Geld“, erklärt der Mann. Die Mannara ist umzäunt, in den umliegenden Bauten, ebenfalls Ruinen, liegt der Müll hüfthoch. Der Blick aufs Meer ist eine Flucht der Augen.

Wenn man also wirklich „Potential heben“ will, dann muss man erklären können, warum von allen wirtschaftlichen Unternehmungen bestenfalls Ruinen bleiben, warum nichts nachhaltig ist, warum man sogar bereit ist, den Tourismus zu opfern, wenn irgendwo das schnelle Geld lockt. Und wer sich hinter diesem „man“ verbirgt. Warum sind denn alle Modelle wie die des 1-Euro-, des 5-Euro-Hauses trotz der erheblichen Fördermittel, trotz der Steuervergünstigungen in Ansätzen stecken geblieben? Weil man die Kultur und die Soziologie der Insel nicht verstanden hat und diese so in die unterschiedlichen Entwicklungs-Pläne nicht einbauen konnte. Kein Schild sieht man auf Sizilien häufiger, kein Vorfahrts- und kein Stop-Schild, als dieses, auf dem steht: „Si vende.“ Man verkauft. Viel Glück, Salvatore Barba. Es gibt viele Städte in Italien zu revitalisieren, aber Sizilien „ist der Schlüssel zu allem“.

Foto: Die Mannara bei Marina di Modica; Copyright: Hans-Herbert Holzamer

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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