Für Fans der frühen Menschheitsgeschichte ist der Nationalpark Serra da Capivara im Nordosten Brasiliens ein echtes Highlight. In der spektakulären Landschaft finden sich die wohl ältesten Spuren von Menschen auf dem amerikanischen Kontinent.


Zwei kleine Menschen mit dünnen Beinchen stehen da, die Oberkörper nach vorne gebeugt, die Lippen berühren sich: Gut möglich, dass wir gerade den ersten dokumentierten Kuss der Menschheitsgeschichte sehen. Ein Künstler, der vor rund 12.000 Jahren lebte, hat die romantische Szene als Felszeichnung festgehalten. Es ist brütend heiß, seit drei Tagen wandern wir durch den Nationalpark Serra da Capivara. Und plötzlich ist da diese berührende Szene, die universelle menschliche Erfahrungen einfängt – Nähe, Intimität und Zuneigung, dargestellt in einfachsten Formen und Farben. Die Zeichnung erinnert uns daran, dass Gefühle wie Liebe und Verbundenheit keine modernen Erfindungen sind, sondern tief im Menschen verwurzelt.
Wimmelbild aus der Urzeit

Vor Jahrtausenden haben die ersten Südamerikaner in der Serra da Capivara künstlerische Spuren hinterlassen. Einer der wichtigsten Fundorte ist die Felswand Boqueirão da Pedra Furada, wo uns neben dem Kuss rund 1200 weitere Felszeichnungen begeistern. Rote Männchen tanzen und hüpfen über den Felsen, werfen die Arme in die Luft und zücken Speere. Hirsche, Schlangen, Wasserschweine und Riesenfaultiere: Die Jagdszenen wirken wie ein Wimmelbild, das den Alltag der Urzeit in die Gegenwart holt. Menschen tanzen um einen Baum, versammeln sich um eine Feuerstelle, helfen bei der Geburt eines Kindes oder Tieres. Es gibt Symbole, Muster und Ornamente, lange Reihen von Strichen. Sie zeigen, bereits vor 12.000 Jahren wurde gezählt. Auch das Logo des Parks, das ein rennendes Tier mit seinem Jungen zeigt, ist von den Zeichnungen inspiriert.

Welterbe mit 30.000 Felszeichnungen
Mehr als 30.000 Felszeichnungen sind in der Serra da Capivara dokumentiert – so viele wie an keiner anderen prähistorischen Fundstätte der Welt. Das Gebiet liegt im Nordosten Brasiliens im Bundesstaat Piauí. Seit 1979 ist es Nationalpark, seit 1991 Weltkulturerbe der Unesco. Durchgesetzt hat dies die brasilianische Archäologin Niède Guidon. Die heute 92-Jährige hat die Erforschung der prähistorischen Artefakte „zu ihrer Lebensaufgabe gemacht“, wie unser Guide Antoniel (Kontakt: antoniessantana@gmail.com; WhatsApp: +55 89 98108-8706) erzählt. Er begleitet uns vier Tage zu den wichtigsten Fundstätten des Parks sowie in das Museum zur Geschichte des amerikanischen Menschen (Museu do Homen Americano der Stiftung Fumdham) und das regionale Naturkundemuseum (Museu da Natureza), das die Geschichte der Erde von den Anfängen bis in die Gegenwart präsentiert.

Wanderwege und archäologische Lehrpfade
Guidon leitete Ausgrabungen, ließ in den 1970er Jahren Fundstellen sichern, Wanderwege und archäologische Lehrpfade anlegen und Informationstafeln aufstellen. Außerdem veranlasste sie den Bau von Wasserstellen für die Trockenzeit und schützte so die reiche Tierwelt. Auf unserer Tour begegnen wir Kapuzineraffen, Gürteltieren und Eidechsen und sind umgeben von einem Chor verschiedenster Vogelstimmen. Weil auch nachhaltiger Tourismus eine gute Infrastruktur braucht, hat Guidon der Regierung zudem den Bau eines kleinen, bisher wenig frequentierten Flughafens in Sao Raimundo Nonato abgerungen. Antoniel ist sich sicher: „Wir verdanken Niède hier so viel, eigentlich fast alles.“



Die Caatinga, der weiße Wald
Die Serra ist ein karges, dünn besiedeltes Gebiet, in das sich immer noch nur wenige Reisende verirren. Die Archäologin hatte auf drei Millionen pro Jahr gehofft, 2024 waren es aber nur rund 38.000 Besucherinnen und Besucher. Auf 123.000 Hektar wechseln sich Tafelberge, bizarre Felsformationen und Schluchten mit karger Vegetation, der Caatinga, ab. Das bedeutet „weißer Wald“, denn in der Trockenzeit sind die Büsche und Bäume blattlos und leuchten weiß als wären sie abgestorben. Wenn ab Dezember der erste Regen fällt, erstrahlt der weiße Wald in sattem Grün. Wie wir selbst erleben durften, lässt die Feuchtigkeit schon nach wenigen Stunden die Blätter sprießen – ein faszinierendes Naturschauspiel, wenn in der vermeintlich toten Caatinga plötzlich das Leben pulsiert.

Lebten hier die Ureinwohner Amerikas?
In der Urzeit war die Caatinga ein üppiger tropischer Regenwald, in dem nicht nur Säbelzahntiger, Riesenwasserschweine (die namensgebenden Capivaras), Mastodons, Krokodile und Riesenfaultiere umherstreiften. Haben die Ureinwohner Amerikas in dieser üppigen Landschaft gelebt? Diese Frage begleitet uns während unserer Ausflüge auf Schritt und Tritt. Die meisten Felszeichnungen sind zwischen 6.000 und 12.000 Jahre alt. Ausgrabungen von Guidon am Boqueirão da Pedra Furada brachten spektakuläre Ergebnisse: Reste von Feuerstellen konnten mit der Radiokarbonmethode (C14) auf ein Alter von bis zu 30.000 Jahren datiert werden. Steinwerkzeuge, die in der Nähe gefunden wurden, stammen ebenfalls aus dieser Zeit. Guidon folgerte daraus, dass die ersten Siedler in Südamerika bereits tausende Jahre früher gelebt haben könnten als bisher angenommen.

Archäologischer Krimi
Die Serra da Capivara wird damit zum Schauplatz eines archäologischen Krimis. Denn Guidons spektakuläre Funde stellen die sogenannte Clovis-Theorie (benannt nach einem Fundort in Neumexiko) zur Besiedlung des Kontinents in Frage. Diese geht davon aus, dass die ersten Menschen vor rund 15.000 Jahren über die Beringstraße, damals eine Landbrücke, von Asien nach Nordamerika einwanderten – also Tausende von Jahren später. Man kann sich vorstellen, wie die internationale Fachwelt damals auf die Entdeckungen der jungen brasilianischen Archäologin reagierte: ziemlich heftig. Seither haben Ausgrabungen in Nord- und Mittelamerika die Clovis-Theorie aber durch weitere Funde relativiert.

Geschichte und Natur Hand in Hand
Bestätigt sind Guidons Überlegungen damit nicht. Noch gibt es zu viele Leerstellen, um die Geschichte der ersten Südamerikaner neu zu schreiben. Über welche Route kamen die Siedler in Brasiliens Nordosten? Über den Atlantik mit Booten aus Afrika, wie die Forscherin vermutet? Doch über Nordamerika oder über eine noch unbekannte Route? Bis heute gibt es viele Theorien, aber keine wirklich überzeugende Erklärung. In der Serra da Capivara gehen Natur und Geschichte Hand in Hand. Es ist ein Ort, an dem die Vergangenheit lebendig wird und die Geheimnisse der frühen Menschheit darauf warten, entdeckt zu werden – ein großartiges Erlebnis.
Anreise nach Serra da Capivara
Der Regionalflughafen in Sao Raimundo Nonato liegt rund 40 Kilometer vom Parkeingang entfernt. Von Recife aus gibt es derzeit zwei Flugverbindungen pro Woche (Dienstag und Sonntag) sowie täglich mehrere nach Petrolina, das rund 360 Kilometer (5,5 Stunden Fahrzeit) entfernt ist. Von dort geht es dann mit dem Omnibus oder einem gemieteten Pkw zur Serra da Capivara.
Unterkunft in Serra da Capivara

Ein absoluter Glücksgriff war auch unsere Unterkunft. Die Pousada Casa Barreirinho befindet sich am Rand des Dorfes Coronel José Dias. Von dort sind es nur wenige Kilometer zum Parkeingang. Die kleine Pension verfügt über einfache Zimmer sowie zwei Bungalows und einen Aussichtsturm, von dem man den Sonnenauf- und -untergang genießen kann und einen wunderbaren Blick auf die Tafelberge hat. Es gibt in der Pousada gutes Frühstück und auf Wunsch Abendessen mit feiner regionaler Küche. Und zu guter Letzt stammt der Besitzer der Casa, Uwe Weiprecht, aus Eisenach, und versorgt uns mit vielen Tipps und Infos rund um die Region. Neben seiner Pousada ist Uwe für das deutsch-brasilianische Sozialwerk Pro Brasil e. V. tätig – aber das ist eine andere Geschichte.
Fotos: Hans Nagel