Sardiniens Nordwesten – Kultur & Geschichte im Überfluß
Manchmal ist auch das schönste Lob irreführend und verstellt ein bisschen den Blick. So wie im Falle Sardiniens, das ob manch’ idyllischer Badebucht mit türkis-blauem Wasser gerne als „die Karibik Europas“ bezeichnet wird. Aber, mal abgesehen davon, dass hier keine Cocospalmen vom Sandstrand bis ins Meer hängen: es würdigt die zweitgrößte Mittelmeerinsel irgendwie auch zum reinen Badedomizil herab. Und damit wird man dem zwischen Korsika im Norden und Sizilien im Süden gelegenen Eiland mit seiner Jahrtausende alten Kultur nicht annähernd gerecht.
Natürlich hat Sardinien herrliche Badeplätze, vor allem an der Ostküste, wo die Costa Smeralda den bekanntesten Teil ausmacht. Wer sich aber die Mühe macht, den Norden und Nordwesten zu erkunden, wird mit unfassbaren kulturellen und historischen Schätzen belohnt. Angenehm zudem: Diese Seite Sardiniens ist im Sommer ein paar Grad kühler, wenn bei Westwind eine frische Brise vom etwas kälteren Mittelmeer-Wasser kommt, ehe es sich über Land Richtung Osten weiter aufwärmt. Doch wehe wenn der Mistral weht…
Olbia an der Nordostküste bietet sich als Zielflughafen an, weil mit mehr Linien-Verbindungen ausgestattet als Alghero an der Nordwestküste. Mit dem Mietwagen geht es dann mit viel kurbeln durchs bergige, grüne Landesinnere Richtung Norden, z.b zur Costa Paradiso. Und man merkt schnell: auf dieser Insel muss man für die Reise-Planung andere zeitliche Maßstäbe anlegen: ein Schnitt von meist nur 40 km/h ist in Sachen Vorankommen das höchste der Gefühle.
Castelsardo an der Nordküste mit seiner mächtigen Burganlage aus dem 13. Jahrhundert und der pittoresken Altstadt mit vielen engen Gässchen ist ein lohnender erster Tagesausflug, um sich vom hektischen Großstadtleben in Deutschland langsam auf sardisches Tempo herunter zu regeln. Und man merkt schnell: Sarden sind ein eigenes Volk, stolz auf Ihre kulturelle Identität, die sie vom Festland-Italien unterscheidet.
Für einen zweiten Städtetrip biete sich auch Alghero an der Westküste an. Das Besondere daran: Hier fühlt man sich vom Baustil her mitten in Spanien oder, besser noch: Katalonien, denn die Straßen tragen teilweise sogar spanische Namen. Kein Wunder: Alghero wurde 1354 nach langer Belagerung von den Spaniern eingenommen und jahrhundertelang in vielerlei Hinsicht so geprägt. Die historische Altstadt ist voller Zeugnisse iberischer Vergangenheit.
Von hier aus fahren Ausflugsboote in 45 Minuten zum Aussichtspunkt Capo Caccia, wo die Steilküste rund 300 Meter senkrecht ins Meer fällt. Das wirkt von unten nochmal deutlich majestätischer als von oben. Und wer in die berühmte „Grotta di Nettuno“ möchte, eine phantastische Tropfsteinhöhle mit unterirdischen Seen und spektakulären Hallen, spart sich so auch die 652 Treppenstufen (!) vom Parkplatz nach unten – und später wieder hoch. Im heissen Sommer eine echte Herausforderung, wenn man nicht wirklich fit ist.
Auf dem Rückweg dann ein erstes prähistorisches Highlight: die Nekropole Anghelu Ruju auf dem Gelände eines berühmten Weinguts. Die Beschilderung zum Abbiegen von der Durchgangsstraße ist etwas ausbaufähig, so dass man beim ersten Mal leicht daran vorbei fährt – wie im weiteren Verlauf der Reise übrigens öfter noch feststellbar.
Dabei stammen die 37 in den steinigen Boden gehauenen Felsengräber aus der Zeit der Ozieri-Kultur – und die dauerte von 3400 bis 2700 v.Chr.! Das macht also mal schlappe 5000 Jahre! Ganz so altertümlich sind die Hinweistafeln mit den Erklärungen zwar nicht, lassen didaktisch aber deutlichen Erneuerungs- und Optimierungsbedarf erkennen. Auch eine Toilette suchten wir hier vergeblich – eigentlich ein „No-Go“ für eine solche Touristenattraktion.
Nach einem Strandtag zum Entspannen an einem der vielen flachen Sandstrände im Norden (hier seien vor allem „Spiaggia Cala Sarraina“ und „Spiaggia Reina Majore“ genannt) geht es wieder ins Landesinnere. Dutzendfaches Lenkradkurbeln und Schalten bringt uns von Meereshöhe auf ein pittoreskes Hochtal, das „Valle della Luna“, das „Tal des Mondes“. An einem bewirtschafteten Rastplatz mit einem äußert geschäftstüchtigen Wirt machen wir Halt und genießen trotz ambitionierter Preise für Cappuccino und ein Radler die malerische Aussicht.
Wir setzen die Fahrt fort und gelangen zu einer skuril anmutenden romanischen Kirche – San Pietro di Simbranos, quasi ein Zebra aus Steinen. Warum hat man vor hunderten von Jahren mitten im Nichts so ein majestätisches Gotteshaus hingestellt? Von wie weit her kamen die Gläubigen? Übrigens: montags hat es zu…
Nichts ist nur schlecht: so machen wir uns früher zu einer weiteren Sehenswürdigkeit in der Nähe von Tempio Pausania auf: dem „Tomba del Giganti“ in der Nähe des Dörfchen Nuchis. Natürlich übersehen wir auch hier das kleine Hinweisschild das erste Mal und fahren glatt vorbei. Dann, beim Zurückfahren, finden wir den kleinen Weg, der zu einem kleinen, unbefestigten Parkplatz führt. Von dort geht es zu Fuß noch einmal ein paar hundert Meter auf einem halb zugewucherten Feldweg.
Doch dann, auf einer Lichtung, umgeben von alten Korkeichen, offenbart sich eine majestätische Grabanlage, 15 Meter lang, mit einem rund 5 Meter breiten Erdwall. Steinplatten begrenzen einen etwa 1 Meter breiten Grabtunnel, noch größere decken ihn nach oben hin ab. Am vorderen Ende bildet eine riesige Steinplatte das Tor, in sie ist am Boden eine kleine ovale Öffnung eingehauen. Davor befindet sich ein steinerner Halbkreis, der ganz offensichtlich rituellen Zwecken diente. Was sich hier vor rund 4000 bis 5000 Jahren abgespielt haben mag? Ein majestätischer Ort, ein spirituelles Fleckchen Erde. Wir sitzen einfach da und lassen die einzigartige Atmosphäre der Stille auf uns wirken.
Wieder zurück nach Tempio Pausana. Auf dem Heimweg an die Costa Paradiso machen wir an der Straße nach Palau an der 3500 Jahre alten Nuraghe Majori halt, einer der best erhaltendsten der gesamten Insel. Die nuraghische Kultur hatte ihre Anfänge in der mittleren Bronzezeit (1600 v. Chr.) und dauerte etwa 1000 Jahre lang. Charakteristisch für diese Kultur sind die steinernen Wohntürme, die mit anderen Gebäuden zu kleinen Dörfern zusammen gefasst wurden. Insgesamt rund 7000 dieser steinernen Zeugnisse gibt es auf der ganzen Insel!
Dann, nach einem Pooltag, steht das kulturelle Highlight an: die prähistorischen Anlagen bei Arzachena. Drei „Tombe Giganti“, also große Grabanlagen, und die Überreste von vier Nuraghen-Siedlungen sind hier in einem Umkreis von 10 Kilometern konzentriert. Die sieben Sehenswürdigkeiten sind in einem Besucherpass zusammen gefasst. Wer nicht ganz so geschichtsversessen ist und sich die besten zwei, drei heraussucht, hat aber auch ausreichend gesehen.
Wir entscheiden uns für die beiden nah zusammen liegenden Grabanlage Coddu Vecchiu und die Nuraghe La Prisgiona. Coddu Vecchiu ist baulich ebenfalls sehr gut erhalten, allerdings deutlich touristischer und dadurch atmosphärisch nicht ganz so eindrucksvoll, wie die zwei Tage zuvor besuchte abgelegene (und dadurch weniger überlaufene) Anlage in der Nähe vom Tempio Pausania.
Die Nuraghe La Prisgiona glänzt vor allem durch die Vielzahl der einzelnen Gebäudefundamente und den guten Erhaltungszustand der gesamten Dorfanlage: Getreidekammer, Bäckerei, Wohn- und Schlafräume. Und ein mächtiger Wohn- und Wehrturm in der Mitte.
Soviel Kultur ruft förmlich nach Erholung. Unsere nächste Tour führt tags darauf daher zum Lago di Liscia, einem aufgestauten Fluss-See in einem höher gelegenen Tal im Inselinnern. Wer hier Hotelanlagen und Freizeiteinrichtungen erwartet, der irrt – die Gegend ist weitgehend menschenleer. Dafür grasen hier unzählige Ziegen und Schafe, liefern besten Ausgangsstoff für den beliebten sardischen Ziegenkäse, den Caprino, und den Schafskäse, den Pecorino.
Unser Ziel hier: drei alte und mächtige Olivenbäume – der jüngste rund 1000 Jahre, der mittlere etwa 2500. Und der älteste, mit einem Stammumfang von 12 Metern, zwischen 4000 und 4500 Jahre! Viereinhalbtausendjahre!!! So alt wie die Pyramiden von Gizeh! Einfach unfassbar! Wieviel Menschheitsgeschichte diese monumentalen Baum-Methusaleme miterlebt haben…
Wir sitzen im Schatten der mächtigen Baumkrone, lassen unsere Gedanken kreisen, vergessen ein bisschen die Zeit und bleiben viel länger als geplant. Doch was sind angesichts des Alters dieser Giganten der Flora schon lächerliche 30 Minuten…
Ja, man kommt nicht umhin zu sagen: eine Rundfahrt durch den sardischen Nordwesten entschleunigt immens!
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Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.
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