Rocca di Calascio. Die Mystik lebt

Natürlich liebt jeder Schlösser, Versailles oder auch nur das Marburger Schloss. Ich liebe Ruinen. Das Tantalon Castle etwa, aber meine Lieblingsruine ist die Rocca di Calascio in den italienischen Abruzzen. Der Reiz verlassener Burgen ist für mich einerseits zu forschen, was sie früher einmal waren, wer hier herrschte, und warum er im Nirgendwo verschwand und nur Trümmer hinterließ. Zum anderen nehme ich mit meiner Gegenwart und meinen Gedanken niemandem etwas weg. Ja, auch Ruinen haben Besitzer, aber dieser steht zumeist nur im Grundbuch und kann mit dem Eigentum nichts anfangen. Sonst würde er sich ja um den Erhalt bemühen. In den Nischen, die so entstehen, entfaltet sich meine Fantasie. Auch Calascio hat einen Eigentümer, das ist die Gemeinde. Aber diese verlangt keinen Eintritt, weil sie sich sonst um die Sicherheit des Zugangs kümmern müsste. Und der ist nicht befestigt. Wer den strapaziösen Weg auf sich nimmt, je nachdem, wo er bergan zu laufen beginnt, der lässt mit Sicherheit noch etwas Kleingeld in den Cafés und den Souvenirläden. Inzwischen gibt es auch wieder eine Unterkunft. Umweg-Rendite nennt man so etwas. Aber die Ruine gehört mir und den wenigen, die zu ihr emporsteigen.

Wenn ich, und es wird zugegebenermaßen jedes Mal mühsamer, den Weg über die Steine hinauf zur Ruine erklimme, mich mit dem Rücken an die Mauer eines Turmes lehne und dann von 1460 Metern Höhe in die Weite blicke, fühle ich mich alleine mit der Natur und in sicherer Ruhe. Im Norden ist der Gran Sasso ein Orientierungspunkt, daneben der Monte Prena, davor eine Kapelle in oktogonaler Form, die Chiesa di Santa Maria della Pietà, rechts davon das Bergdorf Santo Stefano di Sessanio. Darüber hinaus, gen Osten, gen Süden und gen Westen öffnet sich eine Welt, die aus großen, ruhigen Wellen besteht, Gebirgsketten des Apennin, die kein Ende zu haben scheinen, auf denen man keine Besiedlung, sondern nur dunkelgrünen Wald  erkennen kann. Darüber der Himmel in helleren Schattierungen. Nur Natur in ihren eigenen Dimensionen. Eine eigene Welt jenseits von administrativen Strukturen. Italien scheint das hier nicht zu sein. Oder eins, das übersehen wird. Und Rocca di Calascio ist das Zentrum, weil ich hier stehe. In 50 Kilometer Entfernung Luftlinie liegenPescara und die Adria im Osten, man sieht sie nicht. Im Westen sind es 180 Kilometer bis nach Ostia und zum Tyrrhenischen Meer.

Im Süden sehe ich die Ebene von Capestrano, dahinter die Riserva Naturale Regionale Monte Genzana e Alto Gizio und den Parco Nazionale della Maiella, in dem ich mich schon einmal grandios verfahren habe. Direkt unter uns im Westen sind das Tal des Tirino und die Ebene von Navelli.

Sympathischerweise musste die Burg nie dazu genutzt werden, wozu sie gebaut wurde, im Kampf ihre Mauern zu stehen. Keiner vergriffe sich an ihrer quadratischen, aus weißem Stein gefertigten Struktur mit massiven, zylindrischen Türmen an allen vier Ecken. Sie wurde nie angegriffen.  1461 und dann endgültig 1703 verwandelte ein Erdbeben die Festung in eine Ruine, der zu ihren Füßen liegende Ort Calascio wurde verlassen.

Aber wer hat sie gebaut, wer die Steine setzen lassen, an die ich mich jetzt anlehne? Die Hinweise sind spärlich. Die Burg geht auf das 15. Jahrhundert zurück, es soll aber bereits im 10. Jahrhundert hier ein Wachturm errichtet worden sein.  Soll? Geht es nicht genauer? Nun gut, ein Reisejournalist gräbt auch immer in der Geschichte. Seit den Zeiten des Neandertalers siedelten hier Menschen, im Tal betrieben sie Ackerbau, auf den Hügeln Viehzucht. Es kamen die Römer, nach den Römern setzten Barbaren und Sarazenen die Bevölkerung in Angst und Schrecken, diese versuchte sich in Dörfern zu schützen,  in Castelvecchio, Santo Stefano, Rocca Calascio und Castel del Monte. In Zeiten der Lombarden kontrollierte der Herzog von Spoleto die Gegend, dann hatten die Herren der Abtei von Montecassino das Sagen. Es beginnt das feudale Mittelalter mit dem Baron von Carapelle, einem Oderisio di Collepietro, dann einem Fürsten von Celano. Die Anjous geben die Herrschaft  1271 einem Matteo di Plessiaco, 1284 wird ein Riccardo Acquaviva verzeichnet. 1382 überträgt Karl III den Platz einem Peter di Celano. Und in einem Dokument aus dem Jahre 1380 taucht die Rocca di Calascio, als isolierter Wachturm auf.

Im Jahre 1478 erscheint Antonio Piccolomini, Bischof von Siena, Günstling und Verwandter des Papstes Pius II auf der Bildfläche.   Er war seit 1463 Schwiegersohn von Ferdinand I von Aragon. Mit päpstlichen Truppen bringt er sich in Besitz des Turmes. Als Besitzer des  Castel del Monte muss ihm wohl der Bau der Festung Calascio mit den 4 Türmen zugerechnet werden, etwa im Jahre 1480, der zugleich die Schäden eines Erdbebens aus dem Jahre 1461beseitigte. Der Grund für diese Zurechnung sind eine ähnliche Bauweise in Capestrano, Ortucchio, Balsorano und Celano. Sie alle folgen einem konstruktiven Modell der Aragoneser.

Die Aragoneser führten auch eine neue Form des Geldverdienens ein: Sie besteuerten das saisonale Treiben der Schafe in das südlich gelegene Apulien. Es ging immerhin um 90 000 Tiere und ihre Wolle. Und schließlich landete der Besitz in den Händen von Francisco di Medici, dem Herren der Toskana. 1743 starb mit Anna Maria Luisa die  Familie der Medici aus.

Die Besitztümer gelangten in den Besitz von Karl III aus dem Hause der Bourbonen, König  von Neapel. 1806 beendete Joseph Bonaparte, Napoleons ältester Bruder, das Feudalsystem. Da war aber schon der Vorhang, den das Erdbeben verursacht hatte, über die Rocca di Calascio und seine Bewohner gefallen. Bis 1957 wohnte dort niemand mehr.

Nach diesem Ritt durch die Geschichte weiß ich wenigstens, wer aus dem Wachturm eine Burg baute, Antonio Piccolomini, und wie es finanziert wurde: mit Schafen. Und nur ein Schaf glaubt, hier oben über den Bergketten und ihren Wäldern, wäre die Zeit stehen geblieben. Man hat die Veränderungen auf der Welt hier nur nicht gemerkt.

Dann zog die Filmindustrie den Vorhang wieder auf. „Lady Hawke“ , „Il Viaggio della Sposa“, „Padre Pio“, „Der Name der Rose“. „Der Tag des Falken“ und andere Filme nutzten die Schönheit dieses Ortes.  Die Filmindustrie nannte das ganze Gebiet zwischen der Rocca Calascio und Santo Stefano di Sessanio ein “set per eccellenza”.

Es gibt nur einen Zugang zur Rocca, im Südosten, über eine Brücke in 5 Meter Höhe, ansonsten ist alles felsiges, unbefestigtes Gelände, bis man auf gehbare Wege kommt, hinab ins Dorf oder auf die Nordseite Richtung Gran Sasso und Kapelle.

So verlasse ich die Rocca di Calascio wieder. Im Ort, heute Teil der Berggemeinde Campo Imperatore und des Nationalparks Gran Sasso e Monti della Laga in der Provinz L’Aquila, suche ich den Wirt eines früheren Aufenthalts, finde ihn aber nicht, und einen Espresso, den ja. Jetzt werden auch wieder lokale Spezialitäten angeboten, wie Linsen aus Santo Stefano, Safran aus Navelli, oder die Arrosticini der Abbruzzen. Das sind Stücke von Hammelfleisch am Spieß.

Aber in mystischer Umgebung ist mir nicht nach profanen lukullischen Genüssen.

BU: Rocca di Calascio, die mystische Ruine

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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