Ramsee, ein gestorbenes Dorf erzählt

Ein Baum speichert seine Geschichte in den sogenannten Jahresringen ab. So dass später der Kundige in ihnen lesen kann, ob es dem Baum gut ging oder welchen schädlichen Einflüssen er ausgesetzt war. Eine Landschaft hat keine Ringe, aber Geschichte. Sie verändert sich ständig, auch heute. Sie und ihre Ortschaften werden oft nicht mehr gepflegt, der öffentliche Nahverkehr eingestellt, Gesundheits-, Bildungs- Verwaltungsangebote gestrichen, oft weil sie den Effizienz-, will sagen den Profitgeboten der Privatisierung nicht mehr genügen. Und wenn der letzte Laden, in dem man noch Bargeld bekommen und Post aufgeben konnte, dichtmacht, machen sich dann auch die Menschen auf und gehen.

Dann, wenn die Landschaft Glück hat, bedeckt ein gnädiger Wald, was der Mensch zunächst verwahrlost und dann aufgegeben hat. So tragen Landschaften zwar keine Ringe, aber wer sucht findet  oft Lehrhaftes.

Manchmal kommen findige Touristiker auch auf die Idee, sie als „lost places“ zu bezeichnen, um diese angeblich verlorenen Plätze für den Reisenden, der das Besondere sucht, interessant zu machen. Dabei überziehen sie allerdings oft, so ist der Donaudurchbruch beim Kloster Weltenburg gewiss weder ein lost noch ein hidden place.

Das Dorf Ramsee – ein verlorener Platz

Dagegen ist das Dorf Ramsee ein verlorener und verborgener Platz, es gibt ihn nicht mehr und kein Verkehrsschild weist den Weg. Dabei liegt er in der Nähe von Herrsching am Ammersee. Und das ist ein Hotspot bayrischen Tourismus´. Gibt man im Navi „Ramsee“ ein, gibt er südlich von Herrsching, also am Ostufer des Ammersees, alsbald das Kommando, „von hier aus musst Du zu Fuß gehen“. Aber wohin? Rechts liegt der See hinter privatem Grund, also links hinauf  in den Wald. Es geht steil hinauf und nach etwa 3 Kilometer stößt man, wenn man alles richtig gemacht hat, auf einen Gedenkstein, der an das ehemalige Dorf Ramsee erinnert. Vor etwa 150 Jahren wurde es mitsamt seiner Kirche abgebrochen, das Gebiet wurde aufgeforstet, von dem Weiler ist nichts mehr zu erkennen. Vielleicht kann der erfahrene Lost-places-Sucher an verwilderten Obstbäumen erkennen, dass hier einmal Menschen gelebt und den Boden kultiviert haben.

Fest steht, dass die Gegend schon von Kelten und Römern besiedelt war. 1223 wurde Ramsee dann erstmals urkundlich erwähnt, als ein Sifridus de Ramesoue, ein Ministeriale der Grafen von Andechs als Zeuge bei einer Beurkundung genannt wird. Es wird als ein bescheidenes Anwesen erwähnt, das im Herrschaftsurbar als Gütl bezeichnet wird. Vom Dorf, das sich auf dem grünen Hügel entwickelte, sah man weit über den Ammersee ins Land hinein.

1445 erscheint Ramsee dann im Herdstättenverzeichnis  der Wittelsbacher Grafen. Die nächsten Jahrhunderte ist es ruhig. Im Rodungsgebiet rund um den Weiler liegen die Wiesen und Äcker der Bauern, die aber wegen der schlechten Bodenqualität nur wenig Ertrag abwerfen. Dennoch können die Ramseer eine kleine Kirche errichten. Ihr Namenspatron St. Nikolaus verweist auf ein hohes Alter der Kirche und – wie bei der Herrschinger Nikolaus-Kirche – auf die Beziehung der Bewohner zum Ammersee, gilt St. Nikolaus doch als der Patron der Fischer und Seeleute.

Nach einer Beschreibung des Kapitels Oberalting zählte Ramsee 1737 sechs Häuser und 42 Seelen. Noble Herren verkehrten hier im 19. Jahrhundert und nahmen sogar Wohnung. Allerdings wüteten mehrere Feuersbrünste, neue Besitzer kauften sich ein, die auch kein Glück hatten. Nach einer Diözesanbeschreibung von 1809 lebten um das Kirchlein Sankt Nikolaus herum noch 40 Menschen in sechs Familien. Wohlhabende Höfe gab es, wo man Pflanztöpfe aus Ton mit Engelsköpfchen zierte.

1849 brennen drei Gebäude und im September 1852 ein Söldnerhaus, der Besitz eines Kleinbauern, ab. Das gesamte Dorf wird in diesem Jahr von dem Klostergutbesitzer Felix Christian Wieninger aufgekauft. Sieben Jahre später verkauft er das Anwesen an das nunmehr königliche Staatsärar für 85 000 Gulden und verpflichtet sich zum Abbruch der Gebäude. Laut Verfügung des Königlichen Forstamts in Weilheim vom 28. August 1860 wird die Umwandlung der Ortsflur in einen Wald beschlossen. 1864 wird auch die Nikolauskirche abgerissen. Der Weiler Ramsee verschwindet von der Landkarte. Die königliche Forstverwaltung beginnt daraufhin mit der Aufforstung des ehemaligen landwirtschaftlichen Geländes. Vermögen und Inventar der Kirche werden der Herrschinger Kirchenstiftung übergeben. Bis heute besitzt die Herrschinger Pfarrei zwei Reliquienpyramiden und einen silbernen Messkelch aus der Ramseer Kirche. Die Kirchenglocken werden 1871 in der Friedenskapelle in Erling weiterverwendet, wahrscheinlich dann im 1. Weltkrieg eingeschmolzen. 1937 wird das Ramseer Gebiet Herrsching zugeteilt.

Heute deutet abgesehen von dem Gedenkstein am Standort der früheren Kirche, einer Zisterne und Resten früherer Kelleranlagen nichts mehr darauf hin, dass hier mal ein Ort namens Ramsee war. Da es keine Anhaltspunkte für den Grund des Verschwindens gibt, wird spekuliert. Eine Theorie sagt, dass, der Ort einem Feuer zum Opfer gefallen sei. Andere gehen ins Märchenhafte.

Der Landwirt Heribert Nehyba entzifferte viele Originalurkunden, stöberte in Kirchenbüchern aus Oberalting und Erling. „Ramsee – Auf den Spuren eines untergegangenen Dorfes“ lautet der Titel seines Buches. „Es fasziniert mich, dass ich etwas Verschwundenes geistig wiederbeleben konnte“, sagte er bei der Vorstellung.

Finstere Geschichten aus Ramsee

Der Heimatforscher Gustl Empfenzeder vermutet den Grund für den Niedergang des Bauerndorfes Ramsee in seiner 1978 erschienen „Geschichte der Ammersee-Heimat“ in der Verschuldung der Ramseer Bauern wegen des „süffigen Andechser Biers“. So sollen sie ihr gesamtes Geld im Bräustüberl des Klosters gelassen und verarmt sein. Zuvor schon hatte Pater Emmeram Heindl in seiner Chronik „Das Pfarrdorf Erling“ den Weiler als Opfer einer „gewinnsüchtigen Spekulation“ und des „Nützlichkeitsprinzips“ gesehen. Der Pater hatte vielleicht eine Ahnung, was Privatisierung und Effizienzprinzip den Einwohnern antun können. Doch den Untergang kann das damals nicht verursacht haben. Denn die Ramseer Bauern waren damals Grunduntertanen des Klosters, und bei Krankheit, Unfällen oder Naturkatastrophen wie einem Scheunenbrand oder Unwetter wurden die Abgaben gestundet oder gemindert.

Dann war es doch Napoleon und die von ihm erzwungene Säkularisation des Jahres 1803, in deren Folge die Ramseer Flur an die kurfürstliche Güterverwaltung übergeht. Nun führten wirtschaftliche Probleme zu finanziellen Schwierigkeiten. Die Bauern konnten ihrer Abgabenpflicht nicht mehr nachkommen und mussten nach und nach ihre Höfe verkaufen. Schließlich soll ein Spekulant den gesamten Grund aufgekauft haben. Dabei handelt es sich um besagten Felix Wieninger, aus dessen Zeit eine der wenigen Abbildungen stammt, auf denen Ramsee und das Kirchlein St. Nikolaus zu sehen sind.

Am Finstersten ist die Geschichte vom Schäuferlmann, einem Gespenst, das wegen seiner Spielsucht verurteilt worden war, unter der Schwellbachbrücke auf dem Weg nach Andechs zu schaufeln. An ihm vorbei kam nur, wer sich mit Weihwasser besprengt hatte. Der erste, den  der Schäuferlmann erwischte, war ein Landwirt, der sich nach einem fröhlichen Abend im klösterlichen Bräustüberl auf den Heimweg machte, ohne sich entsprechend genässt zu haben. Es war Vollmond, das Gespenst erschien, jagte den Zecher bis zu seinem Hof mitten in Ramsee, zog ihm dann die Schaufel über den Kopf. „Der Bauer musste sofort ins Bett und war acht Tage später eine Leiche“, schreibt Pater Emmeram Heindl in seinen Aufzeichnungen.

Als dann der Verstorbene aus dem Haus getragen wurde, um nach Herrsching überführt zu werden, hätten die Rösser des Leichenwagens ein schreckliches, nicht enden wollendes Gewieher von sich gegeben, über das sich laut Überlieferung „alles gruselte und verwunderte“, was dazu führte, dass keiner mehr im Wald leben wollte. „Hat‘s dr Deifi gholt, d‘ Ramseer?“ So fragen Einheimische noch heute, und ein Wanderer kann schon gefragt werden, ob er sich „des traut“. Ich schon, ging furchtlos weiter durch den tiefen Tann bis zur Schwellbachbrücke, der Heimat des Schäuferlmanns. Der sich nicht blicken ließ, dann fröhlich zum Kloster Andechs und zum süffigen Bier. Vermutlich fängt das Gespenst nur Zecher in der Gegenrichtung ab. Oder aber es lässt die ungeschoren passieren, die sich Gedanken machen, warum Ortschaften und Gegenden sterben können.

BU: Ramsee, nur eine Säule erinnert an das verschwundene Dorf. Copyright: hhh

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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