Im Café Central gibt es, wenn man dieses traditionsreiche Wiener Kaffeehaus durchschreitet, um sich einen freien, aber doch zentralen Platz zu suchen, an der Wand zwei überlebensgroße Gemälde, die zusammen gehören. Sie stellen ein Paar dar: Kaiserin Sisi und Franz Josef I in jungen Jahren. Nun geht bei den Gästen, die sich zu ihren Füßen ein Stelldichein geben, ein Gerücht um, dessen wir teilhaftig wurden, als wir unlängst Wien und natürlich auch seinen Kaffeehäusern einen Besuch abstatteten. Dieses Gerücht lautet, dass der junge Franz Josef I ganz plötzlich und überraschend für alle eine starke Ähnlichkeit zum aktuellen Bundeskanzler Sebastian Kurz entwickelt habe. Ja, in der Tat, mit dem schmalen Gesicht, der betont freien Stirn, den gegelten Haaren, dem selbstsicheren Lächeln – je länger wir uns den jugendlichen Kaiser, der sich seine markante Gesichtsbehaarung erst später zugelegt hat, betrachten, desto stärker fällt uns die Ähnlichkeit auf. Man stelle sich nur vor, Kurz würde sich einen Bart wachsen lassen!
Nun wird erbittert diskutiert, ob jemand das Gemälde retuschiert hat, oder ob Sebastian Kurz seinen Habitus dem großen Vorbild angepasst hat. Mit etwas Gel und aufrechter Pose kann man viel erreichen. Wir neigen der Gel-Partei zu, vor allem, da Peter Altenberg, der seit Jahren unverrückt an der Kuchen-Vitrine sitzt, uns bestätigt hat, keiner wäre mit einem Pinsel an ihm vorbeigekommen, um sich an dem Franz-Josef-Gemälde zu schaffen zu machen. Aber zum einen ist Altenberg bekanntermaßen drogen- und alkoholabhängig, daher nur begrenzt glaubwürdig, zum anderen schaut er immer in dieselbe Richtung. Wie will er da das Café Central im Blick halten?
Es wäre aber schon wichtig zu wissen, ob und wie sich die Regentschaft der Koalitionäre Kurz-Strache auf das Wiener Leben auswirkt. Ob, so wie es in Ungarn eine Pfeilkreuzler-Renaissance gibt, in Österreich eine Wiederkehr der Vaterländischen Front zu befürchten ist. Wir können Entwarnung geben, egal wie das Franz-Josef-Benjamin-Kurz-Mysterium sich nun erklären lässt. Oder, um es mit den Worten eines unserer Informanten zu sagen: „No, und wenn schon – wir sitzen im Kaffeehaus ‘rum und erwarten gähnend die Apokalypse.“ Diese Aussage stammt aus der Zeit unseres geliebten Kaisers, dem plötzlich der Bundeskanzler zu ähneln beginnt. Heute sitzt man immer noch im Kaffeehaus rum, aber man erwartet sich von Sebastian Kurz gar nichts, man gähnt nicht der Apokalypse entgegen, sondern der politischen Langeweile, weil man sich als Melange-Trinker und Zeitungsleser von der Front entfernt hat, in die Privatheit von Kultur und Kaffee.
Vor der Tür, auf der anderen Straßenseite vor dem Rathaus, in Ständern zum freien Bedienen, kann man sich die Blätter derer nehmen, die man im Kaffeehaus nicht findet und die weiter erbittert den Kampf gegen alles Fremde führen und die Kurz und Strache als ihre Frontmänner feiern. In der Krone wird unter der Überschrift „Sie haben es getan“ dem Volk auf den bestellten Mund geschaut und in Leserbriefen über die böse EU gelästert, die ein Rechtsstaatsverletzungsverfahren gegen Viktor Orbán eingeleitet hat. Ein Leser bringt es auf den Kronen-Korken: „Vorbild Orbán, so einen Politiker bräuchten wir dringend.“ Und ein Kronen-Kollege jubelt in seiner Kolumne „Post von Jeanée“ über einen „guten Tag“, weil ein Gericht einen afghanischen Messerstecher zu lebenslanger Haft verurteilt hat. Am gleichen Tag wusste Oe 24, welche „Themen jetzt ganz Österreich erregen“: „SPÖ: Wer kein Asyl hat, geht.“ „Kickl bleibt bei Grenzkontrollen“ und „Jeder 2. Schüler spricht zu Hause nicht Deutsch.“ So wird immer die Stimmung auf dem Grade einer leichten Erregbarkeit gehalten. Franz Josef bildete sich noch etwas darauf ein, dass in seinem Vielvölker-Reich nicht jeder zu Hause Deutsch sprach. Aber in der Wahrnehmung – außerhalb der Kaffeehäuser – steht der Feind steht nicht mehr vor Wien wie weiland 1683, er ist längst in der Stadt! Dazu gehören natürlich nicht nur Fremde, die kein Deutsch können, sondern auch solche, die zwar Wiener Akzent aber die Regierungskoalition nicht abkönnen; wie die Veranstalter des Wienwoche Festivals, die in der Nordbahn-Halle eine „Activist Comedy Against Bullshit. A Night Of Political Comedy” inszenierten, die von „Kämpfen gegen unterdrückende Strukturen“, „Ausschlüsse durch Vergeschlechtlichung und Rassismus“ erzählte, was immer daran komödiantisch sein sollte. Das Burgtheater setzte all dem Kakophonischen von links und rechts unverdrossen auf seinen Plakaten ein „Willkommen im Karneval der Wirklichkeit“ entgegen. Und im Café Landtmann vis-à-vis des Grals deutscher Theaterkunst sind Vitrinen-Mauern aus Mozart- und sonstigen Torten gegen jede
Wirklichkeit außerhalb der Kaffeehauswelt aufgezogen. Das Zitat mit dem Karneval stammt aus dem Stück von Miroslava Svolikova „europa flieht nach europa“ und ist – „neben seiner politischen Komponente ein wunderbares Theatermotto: Das unterhaltsame Spiel mit Schein und Maske, dahinter aber der ungeschminkte Blick auf das Sein, auf unsere Wirklichkeit.“ So erklärt es das Burgtheater. Aber auch „der Besuch der alten Dame“, den wir in der Burg gesehen haben, passte perfekt in die Zeit: Wie weit gehen Menschen, wenn man sie lockt und wie leicht sind sie bereit, mörderische Entscheidungen, um sie mit gutem Gewissen treffen zu können, nach Bürokraten-Manie in kleine Stücke zu zerlegen, solange, bis man das Verwerfliche in ihnen nicht mehr erkennt. Dürrenmatt ist ein Kenner der Menschen, ihr Physiker, Richter und Henker. Er liebte Kaffeehäuser, vor allem das Zürcher Café Select, aber auch die in Wien. Ihm ging es gut, anders jedenfalls als seinem österreichischen Kollegen Peter Altenberg, den wir im Café Central trafen: „Du hast Sorgen, sei es diese, sei es jene – ins Kaffeehaus! Du hast zerrissene Stiefel – Kaffeehaus! Du hast 400 Kronen Gehalt und gibst 500 aus – Kaffeehaus! Du hasst und verachtest die Menschen und kannst sie doch nicht missen – Kaffeehaus!“
Das Zitat „wir sitzen im Kaffeehaus rum“, stammt aus dem Musical Elisabeth, es geht weiter mit dem Anarchisten Luigi Lucheni, der die Kaiserin Sisi ermordete: „Schwätzer! Wissen alles und nichts. Hocken da, per ingannare il tempo. Schlagen die Zeit tot. Tagaus, tagein.“ Wir fanden es beruhigend, dass sich in den Kaffeehäusern nichts geändert hat, mit ihren Schwätzern und der todgeschlagenen Zeit. Solange man da noch eine Melange bekommt und die Zeitungen lesen kann, die man will, muss einem um Wien und Österreich nicht bange sein. Und wenn Sebastian Kurz noch so sehr Franz Josef ähnelt und er den Südtirolern den österreichischen Pass aufdrängt, das Habsburgerreich ist passé. Und dass er sich Kurt Schuschnigg annähert wie sein Freund und Kollege Orbán dem Miklos Horthy, ist nicht zu befürchten, schon gar nicht, dass er zum Lucheni der Demokratie in Österreich wird. Eher, dass ihn Franz Josef, wie Peter Altenberg aus dem Jenseits ruft, als „Bürscherl“ abfertigt.