Nach uralten Techniken aus dem Himalaya: neue Versuchsstation zur Schneeerzeugung an der Diavolezza in Graubünden eröffnet

Es ist sehr kalt an der Diavolezza Talstation. Sehr wetterfest in einen roten Ganzkörperanzug gekleidet steht Felix Keller neben der Eisstupa. Sie ist gewissermaßen sein Baby. Eiskristalle geistern durch eine Luft von – 20 Grad. Die Vormittagssonne wirft unwirklich klares Licht vom dunkelblauen Winterhimmel auf die Szene. Im Hintergrund fährt gerade die Kabinenbahn nach oben bis auf knapp 300 Meter Höhe. Skifahrer schwingen zu Tal. Wissenschaftler diskutieren in kleiner Gruppe, Kameraleute bringen sich in Stellung. Ein bedeutendes Ereignis steht wohl an.

Dr. Felix Keller, Glaziologe aus Samedan vor der Eis Stupa an der Diavolezza Talstation, Bild Mayk Wendt

«Sei ein Teil der Lösung und nicht des Problems» sagt man in Ladakh. Der kleine Himalayastaat an der Grenze zu Kaschmir gehört seit 2019 als Unionsterritorium zu Indien. Seine Täler liegen auf einer Höhe von 3000 Metern, während die höchsten Gipfel knapp über 7000 Meter erreichen. Der für Indien typische Monsun wird von der Hauptkette des Himalaya weitgehend abgeschirmt, und dadurch herrscht in dieser Region ein fast wüstenhaftes Trockenklima. In dieser schwer zugänglichen Landschaft zwischen Pakistan, Kaschmir und Tibet hat man seit jeher mit Wasserknappheit zu kämpfen und arbeitet an Systemen, die wenigen Felder zu bewässern. Schon vor langer Zeit wurde eine Lösung gefunden, Schnee und Eis aus nicht gefrierenden Flüssen während der sehr kalten Winter mittels einer Konstruktion von Eisstupas zu konservieren. Mit einsetzender Erwärmung während der Wachstumsperiode wird dann das Schmelzwasser genutzt. Eisstupas sind bis 40 Meter hohe Eiskegel, die durch vertikales Einfrieren des Schmelzwassers auf einer Holzstruktur entstehen. Durch natürlichen Druck aus einer Fallleitung steigt es innerhalb der Stupa in einem Rohr senkrecht nach oben und versprüht über das Holzgeflecht.

 

Der Eisstupa wird aufgebaut; Bild Mayk Wendt

So bildet sich darüber ein Eiskegel. Das Innengerüst der Konstruktion ist aus Ästen und Zweigen ähnlich wie bei der mongolischen Jurte verflochten. Mittels wohl durchdachter Verteilung kann eine solche Stupa während sie langsam abschmilzt bis zu zehn Hektar Felder bewässern. Von Dürren bedrohte Regionen werden so zur landwirtschaftlich genutzten Zone.

Felix Keller mit Angchok Norboo und Yasin Ahmad, Mitarbeiter der Universität Ladakh/Indien vor der Eisstupa bei der Diavolezza Talstation, Mortalive Projekt; Foto Mayk Wendt

Wissenschaftler aus der Schweiz nahmen mit Kollegen aus Ladakh Kontakt auf, um sich mit ihnen auszutauschen. Der führende Schweizer Glaziologe Dr. Felix Keller hat nun an der Talstation der Diavolezzabahn bei Pontresina im Oberengadin eine solche Eisstupa entstehen lassen. Dabei geht es da ja nicht um Bewässerung von Feldern, sondern in einem Modellversuch wird aufgezeigt, wie es möglich ist, ohne Elektrizität Schnee- bzw. Eiskristalle zu erzeugen. Hier werden nicht wie sonst üblich strombetriebene Turbinen genutzt, um mit Druck das nachschießende Wasser zu verwirbeln.

Gletscherschmelze mit Hilfe neuer Technik verlangsamen           

In aller Munde ist der Rückgang der Gletscher von Jahr zu Jahr. Das bekannteste Beispiel im Schweizer Kanton Graubünden ist der Morteratschgletscher, der längste im Kanton. Vom Bahnhof Morteratsch, einer Station der Berninabahn, verläuft ein bequemer Wanderweg zum Gletschertor. Die Wegstrecke verlängert sich aber von Jahr zu Jahr.

Blick auf den Morteratschgletscher in der Bildmitte, dessen Zunge sich ständig verkürzt, Foto Rainer Hamberger

Es gibt viele Bestrebungen, die Schmelze hier zu verlangsamen. Soll man Gletscher abdecken oder eher beschneien? Man entschied sich, das Eisstupa Prinzip aus Ladakh anzuwenden und weiter zu entwickeln. So entstand zunächst eine Versuchsstation. Am 11. Februar diesen Jahres wurde nun die neue Schneiseil- und Ice-Stupa-Testanlage an der Talstation der Diavolezza im Oberengadin erstmals in Betrieb genommen. Ein Schneiseil bringt oberirdisch als Schlauch herabströmendes Schmelzwasser von höher gelegenen Reservoirs zur gewünschten Stelle, wo es beim Austreten durch fünf Düsen versprüht wird. Wobei der dabei entstehende Kunstschnee den Gletscher überzieht.

Das Schneiseil ist eine Schweizer Innovation und wird nun an der Diavolezza Talstation getestet, Foto Mayk Wendt

Diese Schweizer Innovation könnte schon bald das Abschmelzen um etwa 50 Jahre verlangsamen und weltweit als Lösung gegen drohende Wasserknappheit in Regionen wie dem Himalayagebirge oder den Anden eingesetzt werden. «Für mich ist heute ein historischer Moment. Die Schnei- und Ice-Stupa-Testanlage an der Talstation Diavolezza ist in Betrieb und läuft», sagt Glaziologe und Kopf von MortAlive, Felix Keller, zufrieden. Von ihm stammt die Idee vom Schmelzwasserrecycling. Nach der erfolgreichen Inbetriebnahme der Testanlage, unterstützt von der Graubündner Kantonalbank, hatte der an der Academia Engadina tätige Forscher sogar Tränen in den Augen.

Grafik der Testanlage MortAlive, Foto Mayk Wendt

Nach der Testanlage folgen Pläne für die Anwendung auf dem Gletscher

Nun führt eine Forschungsgruppe der Hochschule Luzern während der laufenden Wintersaison regelmäßig verschiedene Tests durch. «Das Schneiseil ist so zum ersten Mal im Einsatz. Wir müssen beobachten, wie die Düsen sich verhalten, aus denen der Schnee gesprüht wird. Oder ob der Schnee brauchbar ist. Und die größte Herausforderung: wie sich die Mechanik unter diesen Temperaturen verhält», sagt Glaziologe Felix Keller. « Das Wasser darf in den aufgehängten Leitungen nicht gefrieren.» Läuft alles nach Plan, könnte schon nächsten Winter eine Anlage über Permafrostboden installiert werden. Felix Keller und das Team hinter MortAlive sind optimistisch: «Unsere Kinder und Enkelkinder werden uns nicht fragen, ob wir gesehen haben, was mit den Gletschern passiert, sondern was wir getan oder nicht getan haben.» Die Endversion soll schließlich ohne elektrische Energie laufen und wird mit einem höher liegenden See, der sich am Persgletscher bilden wird, verbunden. Die Hochschule Luzern hat in Zusammenarbeit mit den Firmen Barholet und Bächler Top Track das Schneiseil mit fünf Düsen entwickelt, da herkömmliche Beschneiungsanlagen mit Lanzen aufgrund des sich bewegenden Untergrund (Gletscher oder Permafrost) nicht eingesetzt werden können. «Solange Schnee auf dem Eis liegt, ist es geschützt. Denn Schnee reflektiert die einfallende Sonneneinstrahlung und isoliert vor warmen Sommertemperaturen», erklärt Felix Keller.

Die Forschungszusammenarbeit zwischen der Universität Ladakh, Dr. Felix Keller und der Universität Fribourg wird ständig fortgesetzt. Wenn die Schneiseil-Technik nach allen Tests an der Diavolezza verlässlich funktioniert, soll sie mit Schweizer Unterstützung eben auch in Ladakh eingesetzt werden. Damit wird die Bewässerung der Felder in diesem Trockengebiet am Himalaya unterstützt. Insofern ist die Kooperation mit Ladakh eine “Win-“Win” Geschichte für beide Seiten. Basierend auf Erfahrungen von Ladakh kommt deren Methode mit Schweizer Technologie gefördert wieder ins Ursprungsland zurück. 

Schaubild MortAlive; Copyright Academia Engadina

Informationen:

Im Rahmen des Gletscherpflegeprojekt MortAlive wird eine neue, bodenunabhängige Schnei-Technologie entwickelt. Diese Technologie soll es erstmals ermöglichen, Gletscher zu beschneien, um sie als Süßwasserspeicher zu erhalten. Die Schneiseil- und Ice-Stupa-Testanlage an der Diavolezza dient zusammen mit dem neu eröffneten Besucherzentrum an der Talstation als Information und Sensibilisierung für die Folgen der Klimaerwärmung. Abgesehen von physikalischen und klimarelevanten Abläufen lenkt die neue Anlage an der Diavolezza das öffentliche Interesse auf dieses sensible Thema. Anreisende Besucher sind von dem exotisch anmutenden Eiskonstrukt fasziniert, und Schulklassen aus den umliegenden Orten können hier vor Ort am praktischen Beispiel Einsichten gewinnen und vertiefen.

Näheres zu diesen aktuellen Projekten gibt es unter:

www.mortalive.ch

www.glaciersalive.ch

www.glacierexperience.com

www.coverprojectfoundation.ch

Blick von der Diavolezza Bergstation entlang der Berninagruppe: links Piz Palü, weiter rechts Piz Bernina (4048 m) rechts unten Morteratschgletscher; Foto Rainer Hamberger

Das Skigebiet rund um die Diavolezza und die angrenzenden Regionen gehört zu den besten der Schweiz.

Allgemeine Auskünfte unter www.engadin.ch; über den ganzen Kanton unter www.graubuenden.ch; bzw.www.switzerland.com 

Die Diavolezza Talstation liegt an einer Haltestelle der Rhätischen Bahn. Fahrpläne dazu, und zum auch auf dieser Strecke fahrenden Berninaexpress, dem Bahnanschluss von Chur über St. Moritz und Diavolezza Talstation bis Tirana in Italien unter www.rhb.ch;

Übernachtungen:

Zur Diavolezza mit Übernachtungen im Berghaus auf der Gipfelstation bei knapp 3000 Meter Höhe mit Restaurant. Hier gibt es sowohl Schlafsäle für Alpinisten, als auch Doppelzimmer mit Gletscherblick, Dusche, WC und W-Lan.

Hier gibt es Sonderpreise z. B. Parkplatz, Seilbahnauf- und -abfahrt, Übernachtung für 2 Personen inklusive Halbpension im DZ mit Dusche/WC ab ca. Euro 250 je nach Saison. Der Skipass kann für 45 Franken pro Person und Tag stark ermäßigt dazu erworben werden.

www.diavolezza.ch

 

 

 

 

 

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Rainer Hamberger

Autor Kurzvorstellung:

Monika und Rainer Hamberger haben alle Erdteile mehrfach besucht zwischen dem 80. Breitengrad im Polargebiet, bis hinab zur Antarktis. Rainer hat über 12 Bildbände aus 5 Erdteilen herausgegeben. Es liegen ihnen Reiseziele besonders, wo authentische Erlebnisse möglich sind. Er ist meist der Fotograf, während Monika für die Texte verantwortlich zeichnet. Ihre Reportagen erschienen in den großen deutschen Zeitungen, sowie bei DuMont, Baedeker, Merian, Geo-Spezial und anderen Magazinen. Bei Reise-stories sind sie seit 6 Jahren Autoren.

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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