Nun ist es wieder vorbei, das Bachfest in Leipzig. Mehr als 70 000 Gäste aus 56 Nationen haben in den vergangenen Tagen, bis zum 18. Juni, das Bachfest „BACH300 – 300 Jahre Bach in Leipzig“ besucht. Die Jahreszahl bezieht sich auf ein Jubiläum: Am 1. Sonntag nach Trinitatis 1723 trat Bach sein Amt als Leipziger Thomaskantor an. Es jährte sich am ersten Sonntag im Bachfest, dem 11. Juni 2023, zum 300. Mal. Johann Sebastian Bach blieb Kantor für 27 Jahre. Das Jubiläum war ein Fest mit mehr als 160 Aufführungen und weiteren Festivals unter dem Schirm des Namensgebers, es waren Konzerte in Leipzigs Kirchen, Kultureinrichtungen und profanen Bauten. Es ging hinaus aufs Land, etwa zur Scheibe-Orgel nach Zschortau und zur Hildebrandt-Orgel in Störmthal. Angesprochen fühlten sich nicht nur die Freunde barocker Musik, die Suche nach fachlicher Information führte viele Besucher, gerade auch aus dem Ausland, nach Sachsen. Wer kennt sich schon mit Manualen, Pedalen und Registern einer Orgel aus?
Der Altmeister hilft
„Bach for Future“ hieß das Motto. Ja, es stimmt. Der Altmeister (1685-1750) hilft noch heute, und das könnte so bleiben, „Trauer und Mitleid einzeln zu durchleben“, wie die Sächsische Zeitung über die vom Ensemble Solomon Knot in der Nikolaikirche in Szene gesetzte Matthäus- Passion schrieb. Ja, die Zukunft, und es gilt auch heute: „Die Zukunft beginnt mit einem großen Chaos. Die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft als Basis unseres Lebens sind außer Rand und Band. Es fehlt die Einigkeit unter den Menschen, mit den Elementen im Einklang zu leben. Jeder denkt nur an sich. Aber somit steht die Zukunft für alle auf dem Spiel. Wird es uns gelingen, die Zukunft zu retten? Welche Rolle spielen dabei Liebe und Vertrauen, Mut und Bescheidenheit?“ Die Fragen wurden schon vor dem Bach-Festival von den Kooperationspartnern des Projekts „Future: NOW“ gestellt. Für ein Open-Air-Spektakel auf dem Augustusplatz fanden sich die Oper Leipzig, das Theater Titanick und die Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy zusammen. Die „starken Bilder der Aufführung auf dem Augustusplatz“ sollten Basis sein für einen „Zukunftsdiskurs in der ganzen Stadt“, und man darf davon ausgehen, dass Michael Maul, der Intendant des Bachfestes Leipzig, das Motto gekannt, es bereitwillig aufgenommen und fortgeführt hat.
Und wie in diesen chaotischen Zeiten geradezu innig die Musik des Thomaskantors empfunden wird, damit keiner – jeder für sich persönlich – den Glauben an die Zukunft und den Sinn der Trauer nicht verliert, das zeigte bereits die Eröffnung. Die „BachStage“ auf dem Leipziger Markt am Eröffnungswochenende wurde von 15 000 begeisterten Zuhörern besucht. Sie sahen ein Programm, das von der Heavy-Metal-Band Son of a Bach, der WDR Big Band mit dem Programm „Goldberg with Big Band“ bis zu der Sängerin Achinoam Nini (Noa) reichte, die eigene Songtexte auf Englisch und Hebräisch mit Bachs Klassikern verband.
Mit individueller Glut
Insgesamt gab es während der Bachfestpiele 25 Fremdveranstaltungen des Gewandhauses, der Oper, des MDR-Sinfonieorchesters, der Leipziger Komponistenhäuser Mendelssohn und Schumann sowie der Leipziger Universitätsmusik. Hinzu kamen 25 Kooperationsveranstaltungen, Konzert- und Orgelfahrten nach Altenburg, Dresden, Köthen, Naumburg, Zeitz und eben nach Zschortau und Störmthal.
Die Eigenveranstaltungen des Bachfestes Leipzig 2023 wurden von mehr als 2 500 Mitwirkende gestaltet, darunter waren 36 Chöre mit 1 500 Sängerinnen und Sängern, 35 Orchester mit etwa 650 Mitwirkenden, 188 Mitglieder von Kammermusik-Ensembles, 129 Gesangssolisten, 37 Dirigenten, 32 Redner, Moderatoren, 16 Organisten in den Gottesdiensten und 78 Instrumentalsolisten. Das ist eine lange, eher statistisch kalte Liste, die nicht die individuelle Glut, das inbrünstige Engagement und den Glauben daran wiedergibt, dass Bach und seine Musik Zukunft haben – ewiglich.
Mit dem feierlichen „Dona nobis pacem“ der Messe in h-Moll, schenke uns Frieden, interpretiert vom Bach Collegium Japan endete am 18. Juni das Bachfest 2023 in der Leipziger Thomaskirche. „Ich bin überglücklich, dass das vielfältige und mutige Konzept des diesjährigen Bachfestes so wunderbar aufgegangen ist. Es hat Menschen buchstäblich aus der ganzen Welt in die Bach-Stadt gelockt“, freute sich Michael Maul.
„Bach for Future“ bedeutete nicht nur, an originalen Spielstätten ehrfurchtsvoll dem Meister zu lauschen, Bachs Musik wurde auch in neuen Adaptionen und Interpretationen gespielt.
„Zukunft“ meint auch, dass das Festival einen Beitrag geliefert hat, seinen CO2-Ausstoß zu kompensieren: Im Bach-Wald am Störmthaler See sind bislang schon fast 40 000 Bäume gepflanzt worden. Insgesamt sind 129 000 Bäume vorgesehen. Die Blumen, die üblicherweise den Künstlern nach dem Schlussapplaus überreicht werden, würden verwelken, die Bäume am Rande des ehemaligen Braunkohle-Tagebaus stehen für ein Nachhaltigkeitskonzept. Dieses unterstreiche, so Michael Maul, dass „das Bachfest bereit für die Zukunft“ sei.
Bach berauschte nicht nur seine Zuhörer, sondern auch die Tourismusverantwortlichen der Stadt. Sie versprechen auch außerhalb der Festspiele „Atmosphäre und viel Raum für Kreativität und neue Ideen. Kommen Sie nach Leipzig, denn hier liegt alles Gute so nah: Kulturhighlights für Musik- und Theaterfreunde, Shopping in modernen Kaufhäusern oder in historischen Passagen und Höfen, entdeckenswerte Museen und Galerien und natürlich legendäre Kneipenmeilen.“ Und tatsächlich, keine Stadt in Deutschland erfreut sich derzeit eines solchen Zuspruchs und Zuzugs. Und in Europa ist Leipzig auf Platz 3 in einem Ranking der 10 wichtigsten europäischen Städte (Financial Times) gelandet.
Die Leipziger Wasserwerke fügen sich ein in den positiven Reigen. Kraft einer „Zukunftsvision und Strategie 2030“ soll Leipzig bis zum Jahr 2050 klimaneutral werden.
Die Wunden der Vergangenheit, etwa des Tagebaus, zu heilen und die Zukunft zu beschwören ist das Eine. Das andere ist: In der Stadt wird bezahlbarer Wohnraum knapp. Leipzig ist in, wächst an Bevölkerung von 625 000 im Jahre 2022 auf die 700 000 Marke zu. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung geht davon aus, dass die Einwohnerzahl Leipzigs bis zum Jahr 2035 um 16 Prozent steigen und mit dieser Wachstumsrate jede andere Stadt in Deutschland übertreffen werde. Auch wirtschaftlich boomt es. In den letzten zehn Jahren haben sich mehr als 500 Technologieunternehmen in Leipzig angesiedelt, und die Stadt beherbergt heute 250 Start-Ups. Künftige Investitionen in Höhe von 10 Milliarden Euro und die Schaffung von 20 000 neuen Arbeitsplätzen stehen im Raum. Leipzig plant einen neuen Technologiepark und den Ausbau des BioCity Campus zu einem Life Science Hub. Gemeinsam mit dem Flughafen Leipzig/Halle soll das größte zusammenhängende Industriegebiet in Sachsen entstehen.
Viertel zum Wohnen blühen nicht
Das ist alles bemerkenswert. Mit Hilfe des Bach-Waldes blühen die Landschaften, es blühen die Industriegebiete, aber die Viertel zum Wohnen blühen nicht. Steigerungen bei Zinsen und Baukosten sorgen dafür, dass sich Neubauprojekte nicht rentieren. Bei einem der größten Wohnungsbauprojekte in Leipzig ist jetzt der Investor abgesprungen. Ein eigenes Stadtviertel sollte auf dem „Eutritzscher Freiladebahnhof“ entstehen. Der Wert des Areals stieg durch Verkäufe innerhalb von 16 Jahren von 2,1 auf 210 Millionen Euro, ohne dass ein einziges Haus gebaut wurde. Es war für die Unternehmen lukrativer, das Areal wieder zu verkaufen, anstatt selber zu bauen.
Nur was haben Bach und die Stadt Leipzig damit zu tun? Eine Menge, wenn es um die Zukunft geht. Der Freiladebahnhof war einst öffentliches Gelände, der Wert, den es hatte, ging der öffentlichen Hand verloren. Und es ist genau diese öffentliche Hand – in welcher institutionellen Form auch immer – die dafür zu sorgen hat, dass Bach mit future assoziiert werden kann und Leipzig mit Wohnungs- und Mietpreisen, die eine Zukunft möglich machen, von der alle Leipziger etwas haben.
Heute hat Leipzig mit der LWB, der Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft mbH, das größte kommunale Wohnungsunternehmen in Sachsen mit mehr als 36 700 Wohnungen, das entspricht 10,6 Prozent der Gesamtzahl der Wohnungen. Hinzu kommen sechs Wohnungsgenossenschaften mit mehr als 50 000 Mietern.
Das ist nicht schlecht, aber das Problem wird erkennbar, wenn man sich jene Haushalte anschaut, die mit wenig Geld zurande kommen müssen. Im Jahr 2022 wurden 3 Millionen Euro an städtischen Mittel in Anspruch genommen, leer stehende Wohnungen im Plattenbau zu reaktivieren und dem Wohnungsmarkt wieder zuzuführen. Das Programm soll fortgesetzt werden, denn Leipzig braucht mehr Wohnraum, vor allem mehr bezahlbaren. Aber seit 2021 geht die Zahl der fertiggestellten Wohnungen in Leipzig erstmals wieder zurück. Und die Leerstandsquote beträgt nur noch rund 2,5 Prozent. Das lässt keinen Spielraum.
Das Tafelsilber der Stadt sind etwa 4 000 Grundstücke. Mit ihnen soll Leipzig „infrastrukturell, sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltige weiterentwickelt werden“, so das Liegenschaftsamt, das auch einen Zukunftsplan hat, das „Integrierte Stadtentwicklungskonzept (INSEK) Leipzig 2030“.
Trotz alledem gehört der Leipziger Wohnungsmarkt noch zu den vergleichsweise günstigeren unter den deutschen Großstädten. 2022 lag die mittlere Bestandsmiete bei 8 Euro pro Quadratmeter, die Wohnungspreise haben sich von 2017 bis 2022 zwar nahezu verdoppelt, liegen aber immer noch deutlich unter den Werten von Berlin, Frankfurt oder München. Da die Zahl der Haushalte in den letzten 12 Monaten um rund 3 500 gestiegen ist, wird der Druck auf den Wohnungsmarkt hoch bleiben.
Industrie-Ruinen überall
Der Bach-Liebhaber, der sich für Zukunft interessiert und die Pausen nutzt, um die Stadt auch außerhalb des Rings zu erkunden, weil er vielleicht dort ein preiswertes Hotel gefunden hat, wird sich über einen Widerspruch wundern: Wie kann es sein, dass man ständig über Industrie-Ruinen stolpert und trotzdem Wohnungsnot herrscht? Selbst wenn man berücksichtigt, dass der Bestand ungeeignet ist oder der Denkmalschutz seine Stimme erhebt. Liegen lassen dürfte man ihn nicht.
Gustav Klimt im Kunstkraftwerk, Copyright:hhh
Da ist etwa das ehemalige Gelände der Großen Leipziger Straßenbahn in der Saalfelder Straße, das heutige Kunstkraftwerk. Es zeigt noch bis in den Oktober eine Inszenierung „Gustav Klimt – The Gold Experience“, die sich vor den Bach-Festspielen nicht verstecken musste. Markus Löffler, Inhaber des Kunstkraftwerks sagte, es sei ein „partizipatorischer Raum, in dem die Besucher eine fesselnde, sensuelle, emotionale Erfahrung machen können“, entstanden. Die Bach´sche Musik findet einen jeden, der sie hört, dem Bild muss man sich nähern, immersiv, wie man heute sagt. „Und so bewegt sich das Publikum zwischen großen erfahrbaren Räumen, Multimedia-Installationen, Spiegelräumen, Lichtskulpturen, Dekorationen und prächtigen Ornamenten der Kaiserzeit“, sagt Löffler.
Lost place in Leipzig. Copyright: hhh
Das ist eine sinnvolle Nutzung. Aber die meisten Industrie-Ruinen wirken aufgegeben, sind lost places, verlorene Plätze, der gnädigen Natur und dem Verfall überlassen. Die Liste ist lang, von der einstigen Schokoladenfabrik zu einer der einst größten Brauereien, zu einer ehemaligen Maschinenfabrik, zur Jutespinnerei Tränkner und Würker, zum Lokschuppen am Bayerischen Bahnhof, zum alten Postbahnhof. Es gibt noch viele mehr dieser lost places, die heute oft nur als Fotomotive oder Kulissen genutzt werden. Sie gehören zum Stadtbild Leipzigs, man kann sie ja nicht alle für Inszenierungen nutzen. Sind sie Schandflecken, oder gehören sie zur Stadt?
Vielleicht sind sie auch ein Reservoir der Stadt, ihre Zukunft zu finden und zu gestalten. Klingt nach „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“. Mehr future geht nicht. Oder doch?
Das Bachfest Leipzig 2024 findet vom 7. bis 16. Juni statt und feiert drei Jubiläen zugleich: 500 Jahre Luther-Choräle, 300 Jahre Choralkantatenzyklus Johann Sebastian Bachs und 25 Jahre Bachfest Leipzig. Das Motto lautet dann „CHORal TOTAL“. Dass möglichst viele in diesem Chor mitsingen, wäre zu wünschen.
BU: Johann Sebastian Bach vor der Thomaskirche. Copyright:hhh