Hausboot-Tour: Knödel und Kanonenkugeln entlang des Großpolen-Rings

Da stockt der Atem. Ein ausgewachsener Weißkopf-Seeadler kreist über dem Boot, stößt schrille Schreie aus und macht sich bereit zum Angriff. So scheint es zumindest. Die Drohgebärde ist mit Sicherheit dem Horst mit den frisch geschlüpften Jungen geschuldet, den der Greifvogel um jeden Preis verteidigen will. Fünf, sechs Runden dreht das mächtige Tier mit seinen über zwei Metern Spannweite über den „Eindringlingen“. Dann dreht es ab und lässt sich mit breiten Flügelschlägen wieder auf der Krone einer halb abgestorbenen Weide nieder.

In Polen gar nicht so selten zu sehen: ein Seeadler.

Unten am Stamm haben die Bieber wieder ganze Arbeit geleistet. Kilometerlang liegen Bäume regelmäßig im Fluss oder balancieren kahl auf den letzten Resten ihres Stammes. Eine Landschaft wie aus dem Bilderbuch. Urwüchsig und kaum von Menschenhand beeinflusst. Wer sie erleben will, muss nur rund zwei Stunden von Berlin aus nach Osten fahren. Hierher an die Warthe, die den Bezirk Großpolen (Wielkopolska), den historischen Kern Polens, im Bogen durchquert. Durch Kanäle und Schleusen verbunden mit Oder und Netze ergibt sich insgesamt ein „Ring“ von Flüssen, der als „Großpolenring“ für Freizeitkapitäne ein sehr ursprüngliches Bootsvergnügen verspricht. Denn hier ist der Wasser-Tourismus noch sehr neu: Wenige Anbieter vermieten Hausboote (in diesem Revier auch ohne Führerschein und nach Einweisung leicht fahrbar), erste kleine Marinas entstehen gerade und beim einzigartigen Naturerlebnis begegnen den Wassersport-Pionieren nur wenige Angler-Schlauchboote und Paddler.

Dabei ist der Großpolen-Ring eine nah erreichbare Möglichkeit, neben der Natur das polnische Landleben, die gastfreundlichen Menschen und die regionale Küche sehr direkt kennen zu lernen. Viele historische Orte säumen die Wasserstraße, auf der so ein rund neun Meter langes Boot mit Platz für vier Personen (über das verlängerte Wochenende) oder ein Pärchen für eine oder zwei Wochen dahintuckern kann. Zehn bis 15 Kilometer pro Stunde beträgt die Entschleunigungs-Geschwindigkeit auf der Warthe. Wo natürlich auch ein Highlight wartet: Die Stadt Posen mit einem wunderbaren Marktplatz und vielen Sehenswürdigkeiten.

 

 

 

 

 

 

Doch dazu später mehr. Startpunkt unserer Tour, die eine Woche dauern soll, war die Marina in Ląd (sprich: Lutchsch) rund 80 Kilometer östlich von Posen. Das recht neue Hausboot des Verleihers Przemyslaw Szymanski (der sich die Seite www.wochenendeaufdemwasser.de sicherte) ist trailertauglich und wird von ihm je nach Kundenwunsch in einer der Marinas vom Anhänger aus ins Wasser gelassen. Ląd bietet sich an, um innerhalb einer Woche sowohl fantastische Landschaften als auch Posen zu erkunden und am Ende westlich von Posen Richtung Berlin wieder an Land gehen zu können. Denn dort in der Nähe können Szymanskis Hausboot-Mieter ihr Auto absolut gesichert stehen lassen, um dann inklusive Gepäck mit dem großen SUV des Vermieters nach Ląd gebracht zu werden. Alles sehr bequem und unkompliziert. Und ideal für den One-Way-Trip. Denn den ganzen Großpolen-Ring zu umfahren, würde mindestens zwei Wochen dauern. Was auch möglich ist und seine Reize hat. Ein Wochenende oder eine Woche zum „Schnuppern“ ist eher die Regel.

Ląd besteht aus wenigen Häusern, einem sehenswerten Barock-Kloster aus dem 16. Jahrhundert und dem kleinen Hafen, der bereits vorbildlich ausgestattet ist. Großzügige sanitäre Anlagen sind vorhanden. Auch wenn das von uns genutzte und auf der Warthe übliche 9-Meter-Boot über eine kleine Naßzelle mit Toilette und Waschbecken verfügt, so sind doch geräumige Bäder und Duschen eine Wohltat für Freizeitkapitäne.

Die schönste Einrichtung der Marina ist jedoch das Hafenlokal Lawendowa Weranda. Der neue Holzbau hat innen ein heimeliges Flair inklusive Holzofen bei frischem Wetter und außen eine große Terrasse. Hier gibt es die Spezialität der Gegend mit Liebe bereitet: Ente mit Knödel und Kraut. Wobei der Knödel dem in alpinen Regionen bekannten Germknödel entspricht, der leicht süßlich und luftig ist. Mit der üppigen würzigen Soße zusammen jedoch eine genussvolle Kombination.

So gestärkt geht es die träge dahin fließende Warte flussabwärts. Vorbei an oft überfluteten Sumpfwiesen, auf denen ganze Großfamilien von Störchen nach Fröschen und Schnecken stochern. Nach einer knappen Stunde sollte man unbedingt an der rechten Flussseite am neu eingerichteten Steg in Pyzdry festmachen. Ein historischer Ort, an dem einst wichtige Handelswege verliefen und wo die Grenze zwischen Preußen und Russland lag. Pyzdry war der erste Ort in Polen, an dem eine Kanone abgefeuert wurde, die unglücklicherweise den örtlichen Pfarrer ins Jenseits beförderte. Davon kündet ein überdimensionales Wandbild inklusive durchlöchertem Geistlichen, das vom Fluss aus bereits zu sehen ist. Im ehemaligen Franziskanerkloster mit renovierter Kirche gibt es ein kleines Museum, das urzeitliche Funde wie Mammut-Stoßzähne und daneben Ritterrüstungen und Gebrauchsgegenstände des Mittelalters sowie – natürlich – eine Nachbildung der Ur-Kanone zeigt.

 

 

 

 

 

 

 

Quasi auf ehemaligem preußischem Gebiet geht es dann gesäumt von Wiesenlandschaften weiter nach Nowe Miasto, vormals Neumarkt. Hier befindet sich eine der modernsten Marinas der Warthe mit 16 Liegeplätzen und sanitären Anlagen. Kein Wunder: Der Betreiber, die Sudnik Group, ist ein Bootsbau-Unternehmen, das luxuriöse Alu-Hausboote inklusive bordeigenen Saunen fertigt, die keinen Wunsch offen lassen und ab 2018 auch vermietet werden. Zudem besitzt die Marina mit dem Restaurant „Schwarzer Storch“ eine Einkehr, die sich auf traditionelle Fischgerichte – insbesondere Zander – spezialisiert hat.

 

 

 

 

 

 

 

Bei Fleischgerichten dominieren auch in dieser Gegend die luftigen Klöße. Vor dem Lokal gibt es im Sommer Open-Air-Konzerte und im nächsten Jahr soll hier ein schwimmendes Hotel auf dem Wasser entstehen. Eine mögliche „Auszeit“ für Hausboot-Fahrer, die nach einer gewissen Enge an Bord und der kleinen Nasszelle eine kurzzeitige Rückkehr in die Zivilisation begrüßen. Hinter Sudnik und der Marina nebst Restaurant steht Zbigniew Sudnik, ein „Daniel Düsentrieb“, der an immer neuen technischen Lösungen tüftelt und schon viele Innovations-Preise des Landes bekommen hat. Ihm zur Seite steht zur Vermarktung der Marina seine Tochter Goscha, (Małgorzata) die sich auch mit großem Engagement um alle Anliegen der Marina Gäste kümmert.

 

 

 

 

 

 

 

Höhepunkt der Tour ist zweifellos Posen, eine Halbtagesfahrt mit dem Boot von Nowe Miasto entfernt. Die Halb-Millionen-Stadt ist das Zentrum des historischen Polen.

In der erzbischöflichen St.-Peter-und-Paul-Kathedrale auf der Dom-Insel mitten in der Warthe sind die frühen christlichen Herrscher und Könige des Landes beigesetzt. Der Bau, der sich nach diversen Zerstörungen aus romanischen, gotischen und barocken Teilen zusammensetzt, liegt ruhig zwischen Grünanlagen, neben barocken Häusern steht hier noch die kleine spätgotische Kirche der Hl. Jungfrau Maria und der Renaissancebau der Lubrański-Akademie. Vor allem befindet sich die Dom-Insel sehr pittoresk direkt gegenüber dem Posener Altstadt-Sportboothafen (gute Stege; die Infrastruktur inklusive Sanitäranlagen wird gerade gebaut), der für Ausflüge ideal gelegen ist. Denn gegenüber der Dom-Insel sind es nur noch rund 500 Meter bis zur Altstadt.

 

 

 

 

 

 

 

Der weitflächige Alte Markt, der ähnlich wie in Krakau und Breslau mehr als zwei Hektar groß ist, ist das Highlight von Posen. Den Markt gibt es schon seit der Stadtgründung im Jahr 1253. Die verschiedenen Baustile der aufwändig restaurierten Kaufmannshäuser reichen von der Gotik über Klassizismus bis Barock. Das Alte Rathaus wiederum ist ein Baudenkmal der Renaissancekunst und könnte auch in Florenz stehen. Der Renaissancesaal im Rathaus ist einer der schönsten historischen Räume des Landes. Vom Frühjahr bis Herbst tobt auf dem Marktplatz das Leben, stellen Künstler ihre Werke aus, versuchen sich Musikanten an harmonischen Klängen und die vielen Straßencafés sind der Treffpunkt zum sehen und gesehen werden. Eine der wenigen in Polen noch aktiv tätigen Glasmalereien ist in Posen zu Hause.

Natürlich gibt es hier auch zahlreiche Restaurants mit Polnischer Küche. Ein innen modern-stilvolles Lokal am Markt mit Hausmannskost wie Piroggen und Borscht und zudem selbstgebrautem Bier ist das Brovaria. Dunkles, Pils und Weißbier können als gelungen bezeichnet werden. Für Liebhaber feiner Küche ist jedoch das Vine Bridge Restaurant gleich hinter der Dom-Insel ein Muss. Mit nur drei Tischen – einer davon im Schaufenster dieses ehemaligen Ladens – das kleinste Feinschmecker-Lokal in Polen, erwähnt im Gault Millau („Neue polnische Küche“), von Testern des englischen Guardian und des US-Senders CNN empfohlen und auch schon in Gour-med anläßlich unseres Berichts über das Gourmet-Festival Posen für absolut besuchenswert befunden. Hier überzeugen Pasta mit Rüben, Perlhuhn überbacken oder dreifach gebackener Käse.

 

 

 

 

 

 

 

Nur rund fünf Kilometer hinter Posen, die Warthe weiter flußabwärts, liegt die kleine Akwen Marina im Vorort Czerwonak, die mit allen nötigen Einrichtungen ausgerüstet ist. Eine Alternative abseits des Trubels von Posen und gleichzeitig so nahe zur Großstadt, dass man mit Bahn, Bus oder Taxi zu Ausflügen aufbrechen kann.

Eine Halbtagesfahrt weiter erreicht man die Anlegestelle Kowale in Oborniki. Besonders empfehlenswert für Bootstouristen mit Kindern, denn hier gibt es alle Annehmlichkeiten eines Campingplatzes inklusive Spielplatz, Wiesen zum Toben und Stellen für Lagerfeuer. Betreiberin Iwona Spychata stellt sogar eine Mini-Sauna zur Verfügung. Hier in Oborniki beginnt die „Puszcza Zielonka“, der Urwald von Zielonka. Ein 500 Kilometer langes Netz von Wander- und Radwegen durchzieht die Landschaft aus Wäldern, Wiesen und Seen. Und in Oborniki mündet die Welna, der „Gebirgsfluß“ in die Warthe, wo ein Naturschutzgebiet die Laichplätze von Forellen und Lachsen beherbergt. Außerhalb des Gebiets kann auf der Warthe übrigens mit einem vorher beim Bootsverleiher georderten Angelschein auch gerne vom Schiff aus die Rute ausgeworfen werden.

 

 

 

 

 

 

 

Hinter Oborniki wird die Landschaft entlang der Warthe dann richtig wild und ursprünglich. Enten, Schwäne, Reiher und Kormorane schrecken immer wieder auf und fliegen vor dem Boot her. Umgestürzte Bäume liegen im Wasser, Sumpfgebiete wechseln mit dunklen Nadelwäldern. Kilometerlang zieht eine Landschaft vorbei, an der man sich kaum sattsehen kann. Dann tauchen Wachtürme und Stacheldraht am Horizont auf: Das „Sing-Sing“ von Polen in Wronki. Das größte Gefängnis des Landes stammt noch aus Preußischer Zeit und wurde damals den amerikanischen Haftanstalten nachempfunden. Gegenüber den hohen Mauern hat die Kleinstadt eine Anlegestelle neben Sportanlagen und Picknick-Plätzen eingerichtet. Wronki ist ein geschäftiger Ort, in dem man sich gut mit Vorräten in Supermärkten und Metzgereien versorgen kann. Sehenswert ist das Regionalmuseum mit archäologischen Funden in einem alten Kornspeicher. Und natürlich auch hier die Umgebung mit viel Natur, die zu Wanderungen und Radtouren einlädt.

Letzte Station nach Wronki ist Miedzychod (vormals hieß der Ort Birnbaum), ein Städtchen mit lauschigen Gassen und einer Besonderheit: Die Laufpumpe mitten im Ort fördert aus einem artesischen Tiefbrunnen aus dem Jahre 1912 schwefelhaltiges Wasser, dem Heilwirkung nachgesagt wird. Miedzychod liegt an einem recht großen See, an dessen Ufer sich eine vormals sozialistische Erholungsstätte erhebt. Nach der Wende hat es ein deutsch-polnisch-stämmiger Unternehmer aus der Pfalz erworben und liebevoll zu einem (Hotel) Schmuckstück ausgebaut.

 

 

 

 

 

 

 

Auf einer großen Terrasse lässt sich nun bei Fischgerichten, Piroggen oder Steaks der Sonnenuntergang über dem See genießen. Ein idealer Abschluss für eine eher ungewöhnliche Bootstour, die allen Erholungssuchenden, die ohne lange Anfahrtswege in eine ganz andere Welt eintauchen möchten, nur sehr empfohlen werden kann!

Fotos: Felix Krawczyk, Klaus Lenser
Tourismusinformation Region „Großpolen“ und Warthe:

Büro WOT
PL – 61-823 Poznan
Piekary 17
Tel 0048 – 61 66 45 234/233.
Fax 0048 – 61 66 45 235
biuro@wot.org.pl
www.wot.org.pl

Bootsverleih:
„ES MOTORS”
Promienista 19
64-300 Paproć
Tel./Mob:  0048 – 600 187 073  (auch Deutsch sprechend)
www.wochenendeaufdemwasser.de
kontakt@wochenendeaufdemwasser.de

Restaurants:
Lawendowa Weranda
Marina Lad
kapitanat@marinalad.pl
www.marinalad.pl

Brovaria
Posen
Tel. 0048 – 61 858 68 68
brovaria@brovaria.pl
www.brovaria.pl

Vine Bridge
Ostrówek 6
PL – 61-122 Poznan
Tel. 0048 – 61 8750 934
vinebridge@wp.pl
www.vinebridge.pl

Hotel und Restaurant NEPTUN
ul. Słoneczna 8
PL – 64-400 Międzychód
restauracja@hotel-neptun.com.pl
www.hotel-neptun.com.pl/de

Kunsthandwerk:
Atelier für Glasfenster-Kunst in Posen
Roman Piechocki
Łukaszewicza 42/1
PL – 60-729 Posen
Tel. 0048 – 618640807
firma@vit-rom.pl
www.vit-rom.pl

 

 

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Heiner Sieger

Autor Kurzvorstellung:

Seit 40 Jahren Journalist schreibe ich über aktuelle und brisante Themen in den Bereichen Digitalisierung, Wirtschaft, Gesundheit und Reise. Nach Stationen bei renommierten Tageszeitungen und Magazinen bin ich heute hauptberuflich beim WIN-Verlag in der Vogel Communications Group Chefredakteur der Magazine Digital Business Cloud, E-Commerce-Magazin und Digital Health Industry. Meine private Leidenschaft gehört dem Thema Reisen. Und irgendwann wurde ich dann auch Chefredakteur von Reise-Stories. So oft es der Beruf erlaubt, bewege ich mich Richtung Berge und Meer, stelle Restaurants und Hotels auf die Probe und entdecke Entertainment ebenso wie ruhige und unendeckte Fleckerl.

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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