Plötzlich, fast übergangslos, tritt der Wald zurück, und man wähnt sich in Wien. Nicht in einem Wiener Vorort, wie man annehmen müsste. Nein, man betritt sofort ein großbürgerliches, geradezu mondänes Viertel. Nun gut, es gibt auch Häuser, da fehlt oft in unmittelbarer Nähe von Säulen, Statuen und anderem architektonischen Zierrat der Putz. Aber die Überraschung mindert das nicht. Es ist aber nicht Wien, auch nicht Innsbruck oder Linz, die Stadt im Wald oder hinter dem Wald, wie man will, heißt Karlsbad. Und merkwürdigerweise kann man diese Überraschung, dass sich inmitten der Natur urbanes Leben entfaltet, in knapp einer Stunden voneinander entfernt, dreimal erleben: In Marienbad, Franzensbad und eben Karlsbad.
Und plötzlich dämmert es. Da waren doch die Karlsbader Beschlüsse, die Marienbader Elegien. Ja, da ist Geschichte prall, bis Kaiser Karl IV und darüber hinaus, nicht immer schön, da sind die Weltkriege, da ist das Münchner Abkommen, da ist die Vertreibung der deutschsprachigen Bewohner, und das waren immer hin 90 Prozent der Bevölkerung, da ist die Befreiung durch die Amerikaner unter General Patton, da ist die Verstaatlichung all der Paläste, Kliniken und Kureinrichtungen, da ist aber auch die Befreiung vom kommunistischen Joch, der Beitritt zur Europäischen Union, zur NATO. Da ist ein ständig wachsender Strom an Kurgästen und Touristen. Bis zu Corona, und bis zum Krieg der Russen gegen die Ukraine. Noch letztes Jahr wurden fast alle Konzerte, Ausstellungen und Theateraufführungen abgesagt.
Wir kommen also genau richtig, um uns die Vorbereitungen für den Neustart 2023 anzusehen, ohne Covid und mit nur wenigen Russen, die früher 40 Prozent der ausländischen Gäste ausgemacht haben.
Jetzt im Mai beginnt offiziell die Saison in den tschechischen Kurorten. In Karlsbad findet die Eröffnung vom 5. bis 7. Mai statt, das dreitägige Programm umfasst die Segnung der Quellen und eine feierliche Messe, die Prozession des Gefolges von Karl IV. und einen Handwerksmarkt mit historischen Attraktionen. In Marienbad fällt die Saisoneröffnung traditionell auf das zweite Maiwochenende, vom 12. – 14.05. findet die traditionelle „Gala Eröffnung der Kursaison“ statt mit Prominenz und einer Parade in historischen Kostümen. Ein Konzert des Westböhmischen Sinfonieorchester bildet einen der Höhepunkte. Den Abschluss der Eröffnungsfeierlichkeiten macht am 20. Mai die Stadt Franzensbad. Sie feiert ihre 230. Kursaison.
Wer nun welches Bad bevorzugt, bleibt jedem selbst überlassen. Die meisten Besucher buchen eine Kur pauschal, und das Reisebüro trifft die Auswahl. Wir trafen im Hotel Pupp in Karlsbad eine Gruppe, die mit Reiselust-Touristik unterwegs war. Das Hotel rühmt sich seiner illustren Gästen vor allem aus der Adels- und Filmwelt. So hat John Malkovich einen goldenen Stein vor dem Eingang. „Das stört uns nicht, das mondäne Flair gefällt mir“, erklärte ein Reiselustiger, „und im Bett von Sigmund Freud geschlafen zu haben, wäre doch nett.“ Vor allem aber geht es um die Anwendungen, und die basieren auf dem Wasser. Die Karlsbader Kurtradition „fordert Sie direkt zu Behandlungen auf, die Heilkraft des Wassers, traditionelle Methoden und moderne Technologie wirkungsvoll kombinieren. Organischer Torf fördert den Blutkreislauf und entspannt die Muskeln. Das Salz aus der Quelle blutet die Haut durch und macht sie weich. Die Kräutermischung löst seelische und körperliche Spannung. Genießen Sie die Entspannung im Spa-Stil, die auch unsere berühmtesten Gäste liebten.“ Dem Hotel Pupp sind alle willkommen, und das gilt für die anderen Hotels auch, in Karlsbad ebenso wie in Marien- und Franzensbad. Die Mineralwasserquellen in Karlsbad haben alle die gleiche chemische Zusammensetzung haben, jedoch unterschiedliche Temperaturen (von 30 °C bis 75 °C). Das Wasser von Marienbad gehört zur Klasse der kalten, sauren Mineralwässer. Franzensbads therapeutische Mineralquellen haben eine mittlere Temperatur von 9 bis 11 ° C und unterschiedliche chemische Zusammensetzungen.
Neben dem Wasser werden Unterschiede in der „Mondänität“ ausgemacht. Aber das Niveau wird durch normale Menschen bestimmt, die nicht stolzieren, sondern eher Probleme mit dem Bewegungsapparat haben. So mag Karlsbad das mondänste Spa sein, aber erlebenswert ist das gesamte böhmische Bäderdreieck, das seit Juli 2021 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Es gehört ebenso zu Westböhmen, zum Sudetenland, ein Radiosender (mit Sitz in Hof) nennt sich Euroherz, und sowohl nach Sachsen, nach Bad Brambach, als auch nach Bayern, etwa nach Waldsassen, kann man mit dem Radl fahren.
Die Bindung zum Westen ist eng. Das Westböhmische Symphonieorchester hat neben den Abonnement-Konzerten, den Kolonnaden-Konzerten während der Kursaison im Sommer noch Konzerte außerhalb Marienbads sowie im benachbarten Deutschland. Es pflegt die Zusammenarbeit mit Musikhochschulen in Prag, Weimar, Nürnberg und Zürich in Form von Dirigentenkursen. Eng verbunden ist es mit dem Fryderyk-Chopin-Festival.
Jetzt in den letzten Tagen vor Saison-Eröffnung wird besonders General Pattons gedacht. Der US-Soldat befehligte die Panzer-Armada, die die Tschechei befreite. Seine Standbilder zieren frische Blumen, und natürlich reden viele, die sie heute besuchen, über die russische Invasion in der Ukraine, und wie leicht es für Putins Freunde wäre, eine Begründung für die „Befreiung“ der Tschechei zu er-finden.
An Deutschland erinnern, neben den erlauchten Gästelisten der Hotels, nur Goethe und Ulrike von Levetzow. Ansonsten befänden sich auch „dreißig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die beiden Nachbarländer Deutschland und Tschechien immer noch in der Annäherung“, meint Zuzana Lizcová, Mitarbeiterin der Karls Universität in Prag.
Zwischen Deutschen und Tschechen seien „gewisse Reste des Eisernen Vorhangs bestehen“ geblieben. Diesen Eindruck hatten wir überhaupt nicht. Dass wir mal auf Russisch angesprochen wurden, hatte wohl damit zu tun, dass es keine russischen Touristen mehr gibt. Man spricht deutsch, und so freundlich wir die Tschechen sind gemeinhin Deutsche nicht.
Es „öffnet sich für uns aber ein neues Kapitel. Es liegt an uns, was in diesem geschrieben stehen wird“, sagt Zuzana Lizcová . Da hat sie Recht.
Man könnte im „Euroherz“ viel mehr tun. Goethe verengt das Bild, er war viermal in Marienbad. Man meint, er – und nur er – wäre überall jahrelang gewesen. Hier lernt er seine letzte Liebe, Ulrike von Levetzow, kennen. Er bittet um ihre Hand, sie lehnt ab. Zu alt.
Die Gäste sind auch alt, die Städte sind alt, die Geschichte des Landes und seine Wälder sind alt, man besuche Petschau mit dem Maurus-Schrein, das Schloss Metternichs (Königswart) und das unter Denkmalschutz stehende Loket. Alles alt. Nur das Wasser fließt ständig neu und jung und heilt.
BU: Straßenszene in Marienbad; Copyright: hhh