Wenn Sachsen-Anhalts amtierender Ministerpräsident Reiner Haseloff seine Ankündigung wahrmacht, bei der Machtübernahme durch eine bereits im Parlament vertretenen, rechtsradikalen Partei das Land zu verlassen, dann sei ihm als neue Heimat das Land der Arbresh in der Sibaritide empfohlen. Denn die leben dort im nördlichen Kalabrien inmitten ihrer italienischen Nachbarn seit Jahrhunderten unbeschwert. Selbst Mussolini, einer der Ziehväter der Rechten im Magdeburger Parlament, hat die Minderheiten in Italien nicht angerührt, waren das nun Griechen, Waldenser, Brettii, Normannen, Araber oder Albaner. Die Rassengesetze, die Rom beschloss und die die Juden trafen, geschahen nur auf massiven Druck eines anderen Ziehvaters der Rechten, Adolf Hitler.
Und so lebt im Herzen der Sibaritide, jener fruchtbaren Ebene zwischen dem Ionischen Meer und dem kalabrischen Apennin, und in den Bergen des Pollino-Naturparks ein Volk, das seine Wurzeln fernab von Italien hat – die Arbresch, die Italo-Albaner. Ihre Geschichte ist eine Geschichte von Flucht, Bewahrung und kultureller Verschmelzung. Seit dem 15. Jahrhundert sind sie Teil des vielschichtigen Mosaiks Kalabriens – und bis heute bewahren sie ihre Sprache, ihre Bräuche und ihre Identität mit beeindruckender Beharrlichkeit.
Der Bürgermeister von Vaccarisso Albanese, Antonio Pomillo, bestätigt gleichlautend wie sein Kollege aus San Giorgio Albanese namens Gianni Gabriele, die wir beide aufsuchten und mit ihnen ein rauschendes Fest, eine Sagra, feierten, dass “Toleranz auch für Fremde sich in unseren Genen verankert” hat.
Die Arbresch kamen in mehreren Wellen über die Adria, daher das Wort “verankert”, nach Süditalien, insbesondere nach dem Tod von Georg Kastrioti, genannt Skanderbeg, dem albanischen Nationalhelden, der die Schlacht auf dem Amselfeld 1389 verlor, und nach der darauf folgenden osmanischen Eroberung Albaniens. Viele suchten Schutz in den dünnbesiedelten Gebieten des Königreichs Neapel. Entweder gründeten sie neue Dörfer oder ließen sich in verlassenen Orten nieder – unter ihnen Spezzano Albanese, San Demetrio Corone, San Giorgio Albanese oder Santa Sofia d’Epiro. Hier wurden sie heimisch, aber sie gaben ihre Herkunft nicht auf. Die Arbresh sprechen bis heute Arbërisht, eine archaische Form des Albanischen, durchdrungen von italienischen und griechischen Einflüssen, aber dennoch erstaunlich ursprünglich, während das Albanische in der ehemaligen Heimat viele türkische Worte aufgenommen hat. Es ist die Sprache, in der sie ihre alten Lieder und moderne Chansons singen, ihre liturgischen Texte rezitieren und ihre Geschichten erzählen. Der Sänger Caro Rocco trug am Abend unserer Sagra einige Lieder in Arbresh vor, und alle tanzten voller Freude.

In der Chiesa di San Giorgio Megalomartire
Die Religion spielt natürlich eine zentrale Rolle: Viele Gemeinden gehören zur griechisch-byzantinischen Kirche, deren Gottesdienste auf Altgriechisch und Arbërisht gefeiert werden – mit Ikonen, Weihrauch und Gesängen, welche die orthodoxe Tradition lebendig halten. Zentrum ist die Chiesa di San Giorgio Megalomartire aus dem 18. Jahrhundert mit zwei angrenzenden Kapellen.
Doch die Kultur der Arbresch ist mehr als nur Sprache und Religion. Sie zeigt sich in der Kleidung – den kunstvoll bestickten Trachten der Frauen. Es gibt dafür ein eigenes Museum in Vaccarizzo Albanese, das Muzeu i Veshjes dhe i Arëvet Arbëreshë, wie es in der Sprache der “Balcani” heißt, wie die Arbresh auch genannt werden. Sie zeigt sich auch in der Musik, im Tanz, in den rituellen Festen, etwa dem Vallja, einem traditionellen Rundtanz, der an den Widerstand gegen die Osmanen erinnert. Auch die Küche trägt albanische Züge, oft vermischt mit kalabrischen Aromen – eine würzige Symbiose zweier Welten. Die Rrashkatjelet sind Nudeln, die mit Stricknadeln hergestellt werden, das kulaci ist ein großes Brot mit einem Loch in der Mitte – und andere Gerichte mehr zeugen von der Kunst, mit einfachen Zutaten und mit handwerklichen Mitteln feinste Speisen herzustellen.

Bürgermeister Gianni Gabriele mit Frauen in Tracht
In der Sibaritide sind die Arbresh nicht nur Bewahrer der Vergangenheit, sondern Akteure der Gegenwart. Ihre Kultur wird an Schulen vermittelt, in Kulturzentren, vor allem dem Centro studi per le minoranze etniche, gepflegt und von jungen Menschen neugierig wiederentdeckt. Die Europäische Union schützt sie als Minderheit. Ihre Zukunft ist gesichert, meinen die Bürgermeister Antonio Pomillo und Gianni Gabriele . Trotzdem brauchen sie die Anerkennung und Unterstützung ihres kulturellen Erbes – durch Bildung, Literatur, Tourismus, Politik.
Die Arbresh der Sibaritide sind lebendige Zeugen eines Europas der Vielfalt – eines Kontinents, in dem Erinnerung, Identität und Austausch kein Widerspruch, sondern eine Bereicherung sind. Und sollten sich die europäischen Werte in dem einen oder anderen Teil nicht mehr durchsetzen können, sollte Friedrich Händel gebannt werden, weil er in Italien lernte und in London Karriere machte und sollte das Bauhaus in Dessau geschlossen werden, dann dürfen Reiner Haseloff und andere sicher sein: Hier, bei den Arbresh, sind sie willkommen, Dann könnte man in Cariati, dem Museum der Migration, in dem ein Saal der Auswanderung nach Deutschland gewidmet ist, einen Saal hinzufügen in Erinnerung an diejenigen, die den umgekehrten Weg gegangen sind.