Es erklangen nichts als Meisterstücke am 12.Juni 2016, einem Sonntag, dessen regennasses Antlitz nur wenig näher legte, als in die Kirche zu gehen. Und nichts lag dann während des Bachfestivals näher, als in die Leipziger Nikolai-Kirche zu gehen, diese schönste der protestantischen Kirchen, diese Heimat der mutigen Leipziger, die nichts weiter sein wollten als das Volk und die sich in Gottes Hand fühlten. Hier Bach zu hören ist ein „lache der Himmel, jubiliere die Erde. Herr, wie du willt, so schicks mit mir“, natürlich erkennt man unschwer die Namen einiger seiner Kantaten. Und die letzte, die Joanne Lunn, Margot Oitzinger, Benjamin Bruns, Peter Kooij und der Knabenchor Hannover vortrugen, lautete: „Singet dem Herrn ein neues Lied.“ Ergriffen verließen alle die Kirche und bekamen vor dem Tor das Programm 2017 in die Hand gedrückt. Es dauert vom 9. bis 18. Juni.
Am Tage zuvor war das Händel-Festival in der Galgenbergschlucht mit Werke von C. Monteverdi, W. Hayes, L. van Beethoven, C. Saint-Saens, M. Ravel und G. F. Händel und einem unvergleichlichen und regenfreien Schlussakkord, mit Händels „Feuerwerksmusik“ und einem Feuerwerk zuende gegangen. 4 500 Menschen folgten hingerissen den „Bridges to Classics“, den Brücken zur Klassik, auf welchen Gary Brooker und der Gitarrist Geoff Whitehorn von der Band „Procol Harum“ ihre Hits präsentieren.
Und als der letzte Klang und die letzte Sternschnuppe verklungen waren, wussten alle, es gibt eine Fortsetzung: vom 26. Mai bis 11.Juni 2017.
Dieses Wissen der Kontinuität ist wichtig, es stiftet ein für das menschliche Selbstbewusstsein unerhört wichtiges Gefühl dazuzugehören und Teil etwas Andauerndem, etwas Ewigem zu sein. Das gilt ebenso in der Kultur wie im Leben allgemein.
Wer mit seiner Familie zwei-, dreimal an die C ôte d´Azur gefahren ist, wird gerne sagen, er „fahre dort immer hin“. Wer zu seinem Lieblingsitaliener geht, der geht dort nicht weniger als „immer“ hin. Und wer weiß, dass er nächstes Jahr wieder nach Halle und Leipzig fahren kann, um Händel und Bach zu hören, der wird zur Erklärung, vielleicht sogar zur Entschuldigung sagen, er fahre dort „immer“ hin.
Seitdem Händel bei der Bayerischen Staatsoper weitgehend vom Spielplan verschwunden ist, muss der bayerische Liebhaber seiner Opern und Oratorien einen Umweg um die bayerische Landeshauptstadt machen und wird regelmäßig in dessen Geburtsstadt fündig und reich belohnt, heuer unter anderem mit dem Schmuckstück Publio Cornelio Scipione, einer Oper, die in der Fassung der Erstaufführung 1726 im Goethetheater Bad Lauchstädt gezeigt wurde.
Wer natürlich sein Gefühl dazuzugehören an dem Ranking der Klassikfestivals Deutschlands ausrichten möchte, der wird mit Händel und Bach in Halle und Leipzig vielleicht nicht in seinem Golf- oder Tennisclub reüssieren, dort liegen andere vorne. Aber wer da nach reist und hört, was andere ranken, der sollte vielleicht wirklich wegbleiben und bei dem ehemaligen Intendanten des Beethovenfestes Bonn Franz Willnauer nachlesen. „Ein disparates Bild voll gegenläufiger Tendenzen“ biete sich da , viele Festivals seien infolge der Wirtschaftskrise schon wieder verschwunden sind, das Wachstum anderer erklärt er mit der Einsicht in die „Umwegrentabilität“. Viele Kommunen und Regionen haben begriffen, dass für jeden Euro „Subvention“ drei bis vier Euros wieder hereinrollen.
Das ist nicht der Fall in Leipzig und nicht in Halle, wo vor wenigen Jahren die überlaufende Saale das Festival in ihre Strudel zu drücken drohte. Dort findet man auch nicht die Besucher, die aufs Ranking aus sind. Es geht um Andacht, um Liebe zur Kultur. Natürlich, die Menschen in Bad Lauchstädt machen sich fein und chic, aber weniger, weil sie gesehen werden wollen, sondern weil sie es für sich wollen. Sandalen, Pluderhosen, T-Shirts, alles kann man sehen. Die Menschen trinken keinen Champagner, sondern Weißweine von der Unstrut, sie trinken vor allem Kaffee, keinen Cappuccino, und essen Kuchen. Und Abends treffen sich in der „Erdbeere“, einem Speiselokal, das einer Schrebergartenanlage benachbart ist, Künstler und ihre fachkundigen Bewunderer. Leipzig ist da schon deutlich gesetzter, die Stadt ist angesagt, man trägt nicht unbedingt Krawatte und Anzug, aber Sandalen haben wir keine gesehen.
Wer hier immer dabei ist, der kann sicher sein, dass es weniger ums wirtschaftliche und prestigefördernde Denken geht, sondern um die pure Freude daran, immer neue Themen und Programme für die Festivals auszudenken und Nachwuchskräfte zu gewinnen. In Leipzig ist während der ganzen Festivaltage am Markt eine Bühne aufgebaut, die „Bachmosphäre“ wird von jungen Künstlern geschaffen, die immer ihr Publikum finden.
Und der Erfolg dieser Strategie gibt Halle und Leipzig Recht, auch wenn beide nicht in Aus- und Zielrichtung identisch sind. Aus Halle liegt die statistische Auswertung bereits vor: Noch nie in der Geschichte der traditionsreichen Festspiele wurden so viele Tickets verkauft wurden wie in diesem Jahr. In seinen vergangenen 17 Tagen sorgten 46 Ensembles und Chöre, 24 Dirigenten und musikalische Leiter und über 95 Vokal- und Instrumentalsolisten an 20 Veranstaltungsorten für Programm auf höchstem Niveau.
Im nächsten Jahr finden die Händel-Festspiele mit dem thematischen Schwerpunkt „Original? – Fälschung“ statt. Aufgrund des Reformationsjubiläums werden mehrere Oratorien, die biblische Themen behandeln, aufgeführt, darunter der „Messiah“.
Auch Leipzig steht im Banne der Reformation. „Ein schön new Lied“ heißt das Thema. Die Zahl derer, die im Herzen Deutschlands die Chance auf den Besuch beider Festivals „immer“ nutzen, sollte weiter wachsen. Und auch neue Händel- und Bachjünger wird es nicht reuen, mal nicht nach dem Ranking anderer nur mitgekräht zu haben.