Selten genug: Der Mann war mächtig und klug. Er führte in seinem Land die Schulpflicht ein, für Jungen und Mädchen, er gründete 1527 die erste protestantische Universität in Marburg, dazu ein Gymnasium, er regelte das Hospital- und das Armenwesen und er verhinderte mit großer Wahrscheinlichkeit einen Bürgerkrieg in Deutschland, der dann zwar doch als 30jähriger Krieg kam, aber erst 1618 und mit anderen Fronten. Er versöhnte die protestantische Hauptlinie mit den Täufern, die nicht ohne Berechtigung sagten, erst der wissende Mensch könne „ja“ zum Glauben sagen und daher getauft werden, die übrigen dagegen sorgten sich um das Seelenheil der ungetauften Kinder, die starben, und davon gab es damals weiß Gott viele. Aber eigentlich ging es nicht primär um den richtigen Zeitpunkt der Taufe, sondern um die grundsätzliche Haltung zur weltlichen Obrigkeit. Unter Verweis auf die Bergpredigt weigerten sich die Täufer, die damals üblichen Lehens- bzw. Gehorsamseide gegenüber dem Adel abzulegen.
Wahre Christen dürften wegen des Gewaltverzichts weder als Richter, Soldaten noch Scharfrichter tätig sein, ja sie dürften nicht einmal irgendein öffentliches Amt ausüben. Diese Radikalität machte sie verdächtig, den Umsturz der herrschenden Verhältnisse anzustreben und brachte sie in die Nähe der Rädelsführer der Bauernkriege. Der Reichstag zu Speyer 1529 erlaubte die Todesstrafe gegen die Täufer „reichsrechtlich“. Es gab schon Kämpfe, vor allem in der Schweiz, im Täuferreich von Münster wurden etliche massakriert, ihre Leichen in Käfigen außen an der Kirche zur Schau gestellt. Es war todernst. Hessens Landgraf Philipp der Erste (1504 bis 1567), später auch „der Großmütige“ genannt, fand einen Ausweg – mit der Konfirmation. Philipp war so stolz auf seine Leistungen, das er sich als neuen „Herkules“ sah, was aber wohl auch damit zu tun hatte, dass er mit (mindestens) zwei Frauen (mindestens) 19 Kinder zeugte, vertrauend auf die Kraft dreier Hoden, bis ihn die Syphilis dahin raffte.
Wir schreiben das Jahr 1539, 20 Jahre nach dem Thesenanschlag Martin Luthers, all dies zu erzählen schickt sich an Kunigunde, 480 Jahre später, genau genommen im nächsten Jahr 2019. Heute ist die Generalprobe. Sie ist die Frau des landgräflichen Beamten Heinz von Lüder, dem zu Ehren ein Stadttor benannt ist.

In Wirklichkeit werden nächstes Jahr viele Stadtführerinnen Ziegenhains in ihre Rolle und Garderobe schlüpfen. Wir treffen sie unter diesem Tor, das in eine Stadt führt, in der das Mittelalter noch zu Hause scheint. Jedenfalls führt keine Bahnlinie dorthin, der Bahnhof ist in Treysa, ein Städtchen, mit dem Ziegenhain verwaltungstechnisch zu Schwalmstadt zusammengeführt wurde. „Hätte man einen bestehenden Namen genommen, wäre die andere Stadt beleidigt gewesen“, erzählt Kunigunde, bevor sie mit uns den Rundgang beginnt. Hier ist fast jedes Haus aus Fachwerk, jedes eine Sehenswürdigkeit für sich, dazwischen Häuser aus schwerem Stein, wegen der Feuergefahr. Im „Steinernen Haus“, das den Festungskommandanten beherbergte, – „hier regierte mein Mann“ – führt Kunigunde uns ins Museum der Schwalm, so heißt das Land hier am Fuße des Knüll. Der Reichtum der Schwälmer Bäuerin war an der Zahl ihrer Röcke zu erkennen, 10 sollten es schon sein, die unverheiratete wies mit einem roten Käppchen darauf hin, die verheiratete trug ein grünes, und „wenn nichts mehr ging“ ein schwarzes. Das Rotkäppchen der Grimmschen Märchen war also ledig. Wer die ganze Pracht der heute noch gelebten Liebe zur Tracht sehen will, der komme ins Steinerne Haus oder zwei Wochen nach Pfingsten zur Ziegenhainer Salatkirmes und erlebe einen großen Trachtenfestzug, meint Kunigunde. Das ist der höchste Feiertag im Rotkäppchen-Land. Nach dem Museumsbesuch zurück auf den Paradeplatz, vorbei an der Küche für die Garnison und die Lagerhäuser. Viele Gebäude aus der damaligen Zeit und Verteidigunsanlagen stehen noch heute. Ziegenhain war eine Wasserfestung, die als uneinnehmbar galt, mit 1800 Besatzung. Daher waren hier auch wichtige Dokumente der hessischen Landgrafen verwahrt, das Archiv, die Kriegskasse des Schmalkaldischen Bundes, des Bündnisses protestantischer Fürsten, und die Ziegenhainer Zuchtordnung, „an der mein Mann Heinz ebenso mitgeschrieben hat wie an der von ihm entwickelten Hospitalordnung“, wie Kunigunde stolz erzählt. Aber es war der elsässische Reformator Martin Bucer, der auf die geniale, vermittelnde Lösung kam: Säuglingstaufe plus Katechismusunterricht für die Heranwachsenden, abgeschlossen mit der Konfirmation.
Und mit dem verbindlichen Unterricht in Glaubensfragen für alle Kinder wurde die Konfirmation, die die Taufe bestärken sollte, als rettender Kompromiss eingeführt. Für Besucher gibt es seit 2014 einen 21 Kilometer langen „Katechismuspfad“ rund um den Ort, der begeistert angenommen wurde. Es gibt auch den Lutherweg und den Pilgerpfad der Heiligen Elisabeth, der von Eisenach nach Marburg führt. Das Alte Schloss, wo die „Ziegenhainer Zuchtordnung“ geschrieben wurde, ist dagegen nicht zu besichtigen. Es dient mit Anbauten, die leider auch die Blickachse durch das Lüdertor beeinträchtigen, als Justizvollzugsanstalt.
Kunigunde beendet die Generalprobe einer „Konfirmations-Führung“ durch ihre Stadt nicht ohne den Hinweis, dass Hessen das Land Rotkäppchens, der Brüder Grimm, der Schwälmer Kultur und Gastronomie sei – „ich sage nur Haaße-Bier, Ahle Wurscht, Schmalzebrot und Ziegenhainer Festungstopf“. Und es sei das „Pionierland der Reformation“. Zusätzlich und zur Vertiefung unseres durch sie erworbenen Wissens schickt sie uns in das eine halbe Autostunde entfernte Homberg an der Efze, wo vom 21. bis 23. Oktober 1526 die Homberger Synode in der Stadtkirche St. Marien stattfand. Diese legte den Grundstein für die Einführung der evangelischen Religionsausübung in Hessen. Wir sind gehorsam nach Homberg gefahren, wo uns Stadtführer Eckhard Böth durch die Stadt führte, aber das ist eine andere Geschichte.