Nach einer Reise von 2863 Kilometern mündet der Rio São Francisco im Nordosten Brasiliens in den Atlantik. Bei einer Tour zur Mündung gleitet unser Boot vorbei an Kokoshainen, Mangrovenwäldern und Dünen, die im Abendlicht golden schimmern.

Der Rio São Francisco liegt etwas abseits der klassischen Höhepunkte einer Brasilienreise mit Rio de Janeiro, der Barockstadt Ouro Preto und den Iguaçu-Wasserfällen. Auf einer Rundreise durch den Nordosten des Landes – ein Gebiet viereinhalbmal so groß wie Deutschland – entscheiden wir uns spontan für einen Abstecher zur Mündung, nachdem wir Fotos von der beeindruckenden Landschaft des Flussdeltas gesehen haben.



Rio São Francisco im Volksmund: Velho Chico, alter Franz
Velho Chico, alter Franz, nennen die Brasilianer den Rio São Francisco liebevoll. Auf seinen letzten Kilometern Richtung Meer kräuselt sich sein Wasser in sattem Grün. Schwimmende Teppiche von Wasserlilien gleiten dem Ozean entgegen. Die Ufer sind gesäumt von Kokospalmen und Mangroven, an der Mündung ist der Fluss kilometerbreit und von goldenen Dünen gesäumt. Weiter draußen im Meer umspülen die Wellen einen verlassenen Leuchtturm. Die Abendsonne taucht Dünen und Wiesen in rotgoldenes Licht. Und dann ist auch noch Vollmond – perfektes Reiseglück.


Rio São Francisco: Hochverehrter Fluss
Die Eindrücke machen unseren Ausflug zur Mündung des zweitlängsten Flusses Brasiliens zu einem außergewöhnlichen Erlebnis. Der Velho Chico wird – ungewöhnlich für einen Fluss – hoch verehrt. Man spricht von ihm wie von einem guten Freund. Mythische Geschichten von Wassergeistern ranken sich um ihn. Er wird in Liedern besungen, eine nach ihm benannte Telenovela spielt an seinen Ufern und am 3. Juni gibt es sogar einen nationalen Tag zum Schutz des Rio São Francisco.
Lebensader für den staubtrockenen Nordosten
Der Legende nach entdeckte der toskanische Seefahrer Amerigo Vespucci die Mündung am 4. Oktober 1501, dem Todestag des Heiligen Franziskus von Assisi, und benannte den Fluss nach ihm. Amerigo Vespucci selbst wurde wenig später zum Namenspatron des gesamten Doppelkontinents. In der Kolonialzeit war der Rio São Francisco der wichtigste Verkehrsweg zur Erschließung und Besiedlung des Landes. Seine Quelle liegt in der Bergbauregion Minas Gerais, von dort fließt er durch fünf Bundesstaaten und bildet am Ende seiner Reise die Grenze zwischen Alagoas und Sergipe. Über dreihundert Jahre lang war er die einzige Verbindung zwischen Küste und Hinterland und die wichtigste Süßwasserquelle für Goldsucher, Kakaobauern, Zuckerrohrpflanzer und Viehzüchter. Bis heute ist der Fluss die Lebensader des staubtrockenen Nordostens.

Ausgangspunkt Piaçabuçu
Der beste Ausgangspunkt für einen Ausflug zur Mündung ist das verschlafene Städtchen Piaçabuçu (https://g.co/kgs/fM7gsog), das etwa 13 Kilometer flussaufwärts liegt. Piaçabuçu erreicht man am besten mit dem Mietwagen von den beiden nördlich und südlich gelegenen Provinzhauptstädten Maceió und Aracaju. Sie sind jeweils etwa 150 Kilometer und zwei Stunden Fahrt entfernt. Von beiden Städten gibt es Busverbindungen in die sehenswerte Kolonialstadt Penedo, von wo aus man den Fluss mit Katermeran-Booten erkunden kann (z. B. Instagram: @partiupenedo). Wir entscheiden uns jedoch für einen Ausflug mit einem kleinen Fischerboot, das maximal sechs Personen Platz bietet.
Guide Ricardo Tuor
Im Hafen von Piaçabuçu ankern bunte Ausflugs- und Fischerboote; direkt am Quai springen Kinder in den Fluss. Hier treffen wir unseren Guide Ricardo Tuor, den wir über Instagram kennengelernt haben (https://ricardotuor.com.br/; https://www.instagram.com/fozdoriosaofrancisco_/; WhatsApp: +55 (82) 993474800; https://g.co/kgs/FPhHdG6; Agentur: https://maps.app.goo.gl/3j4eXo2fnADYSgZu6). Zum Glück, denn Ricardo ist es zu verdanken, dass unser Ausflug zu einem Highlight unserer Reise wird. Mit Engelsgeduld beantwortet er im Vorfeld per WhatsApp alle Fragen (und das waren viele), gibt uns wertvolle Tipps für unsere Route, die Fahrzeit und noch jede Menge Ratschläge für die Weiterreise.
An Bord Churrasco und Cerveja



Am frühen Nachmittag starten wir unsere Flusskreuzfahrt. Ricardo tut alles, damit wir uns an Bord wie zu Hause fühlen. Dazu gehören in Brasilien natürlich eine eisgekühlte Cerveja und ein Churrasco. Dazu zündet Ricardo einen kleinen Grill an, während er das Boot steuert und uns vom Leben am Fluss erzählt. Später serviert er uns gegrillten Käse, Fleisch- und Krabbenspieße mit Salat und in Butter geröstetem Maniokmehl – uma delícia, wie es in Brasilien heißt. Schon als Kind verkaufte Ricardo erst Getränke, dann Kodak-Filme an Touristen. Als mit Filmen wegen der Digitalisierung nichts mehr zu verdienen war, sattelte er als junger Mann auf Reiseführer um und legte jeden entbehrlichen Centavo beiseite – mit dem Plan, sich das Boot zu kaufen, mit dem er heute Touristen wie uns über den Fluss schippert.
Ein Fluss wie ein Meer
Während wir an Mangrovenwäldern vorbei gleiten und die Arme des weit verzweigten Mündungsdeltas erkunden, erfahren wir, dass das indigene Volk der Tupí den Fluss „Opará“ nannte. Das bedeutet „Flussmeer“, weil der Fluss an vielen Stellen so breit ist, dass er dem Meer gleicht. An einem der Seitenarme gehen wir vor Anker. Ricardo führt uns zu einer ärmlichen Ansammlung von Hütten inmitten der Dünen – dem abgelegenen Dorf Pixaim.
Rückzugsgebiet von Nachfahren ehemaliger Sklaven



Die Siedlung ist ein sogenannter Quilombo, ein Rückzugsgebiet, in dem sich Nachfahren von Sklaven niedergelassen haben. Das Dorf ist so abgelegen, dass es seit seiner Gründung in den 1980er-Jahren nie einen Stromanschluss hatte. Das änderte sich erst 2023, als der regionale Stromversorger Solarzellen installierte und dazu allen 43 Familien einen Kühlschrank schenkte. Auch Ricardos Familie lebte früher hier. Zwei seiner Brüder wurden in Pixaim geboren. Seine Eltern seien fortgezogen, erzählt er, „damit wir Kinder ein besseres und leichteres Leben haben.“
Staudämme und Flussumleitung
Dank mehrerer Staudämme an seinem Oberlauf versorgt der Rio São Francisco Millionen Menschen im staubtrockenen Sertão, der riesigen Halbwüste im Landesinneren, mit Wasser und Strom. Zusätzlich wurden in einem umstrittenen Megaprojekt der brasilianischen Regierung zwei bis zu 400 Kilometer lange Kanäle betoniert, durch die Wasser in den ausgetrockneten Nordosten Brasiliens gepumpt wird. Mehr als zehn Millionen Menschen sollen nach offiziellen Angaben von der Umleitung des Flusses profitieren, da es jetzt ausreichend Trinkwasser gibt und zudem mehr als 300.000 Hektar Land bewässert werden können.
Veränderung des Flusslaufs
„Was für die einen gut ist, ist für die anderen schlecht“, sagt Ricardo. „Die Eingriffe in den natürlichen Flusslauf haben hier an der Mündung wirklich alles verändert, was man verändern kann.“ Vor allem das Wasserkraftwerk Xingó habe dem Fluss so viel von seiner natürlichen Kraft genommen, „dass er kaum noch Geschiebe mit sich führt und nicht mehr gegen den Atlantik ankommt. Jetzt hat das Meer das Sagen.“


Die Uferlinie weicht zurück
Die Folgen sind unübersehbar: Die Fließgeschwindigkeit des Velho Chico hat sich halbiert, das Meer drängt den Fluss kilometerweit zurück, es nagt an der Küstenlinie, versalzt die Süßwasserquellen von Dörfern wie Pixaim, verändert Flora und Fauna und das Leben der Menschen. Der verlassene Leuchtturm, den wir draußen im Meer sehen, stand bis Ende der 1990er-Jahre am Rande des Dorfes Cabeço, das längst im Meer versunken ist. Es dauerte mehr als 20 Jahre, bis die Staudammbetreiber die Dorfbewohner mit umgerechnet rund 27.000 Euro pro Person für den Verlust ihrer Heimat entschädigten. Insgesamt hat sich der Atlantik – auch wegen des steigenden Meeresspiegels – bis heute fast zehn Quadratkilometer Land einverleibt, niemand kann sagen, wo das enden wird.


Fotos: Canoa de Tolda, Sergipeemfotos
Fragiles Ökosystem
Uns wird bewusst, wie fragil das Ökosystem inmitten dieser besonderen Landschaft ist. Der Fluss sieht hier tatsächlich aus wie das Meer, das sich die Tupí einst vorgestellt haben. Als die Sonne schon tief steht, ankern wir nahe der Mündung und erklimmen riesige Dünen. Hier hat Ricardo noch eine Überraschung für uns. Mit einem Sandboard surfen wir die Dünen hinunter bis zum Wasser. Wieder und wieder, es ist ein Riesenspaß und macht hundemüde. Schließlich färbt die Sonne den Sand tiefrot und der Vollmond schiebt sich über die Dünen. Als wir später in der Dunkelheit zurück nach Piaçabuçu tuckern, steht fest: Wir verdanken dem Velho Chico und vor allem Ricardo einen perfekten Tag.

Praktische Tipps zur Reise über den Rio São Francisco:
- Autovermietungen: https://www.localiza.com/others/en-us und www.movida.com.br); Movida gewährt am Rückgabetag einen Puffer von zwei zusätzlichen Stunden.
- Bootstour: Bei insgesamt sechs Gästen kostet die Tour bei Ricardo Tuor pro Person 90 Reais (ca. 14 Euro). Es ist möglich, das Boot ganz zu chartern, wenn man lieber alleine unterwegs ist.
- Übernachtung: www.booking.com/Piaçabuçu. Direkt im Ort Piaçabuçu (Bundesstaat Alagoas) gibt es nur wenige Unterkünfte. Wir übernachten daher im nur 15 Kilometer entfernten Praia do Pontal da Peba https://www.booking.com/hotel/br/villas-litoral-sul-praia-pontal-do-peba. Das Apartmenthotel Villas Flat Litoral liegt direkt am Strand. Eine zweite Nacht verbringen wir in der Pousada Carapeba (www.booking.com/carapeba) in Brejo Grande auf der Südseite des Flusses (Bundesstaat Sergipe). Die Pousada hat einen malerischen Blick auf den Fluss und einen Privatstrand. Sie ist mit der Fähre, die bis 18 Uhr halbstündlich verkehrt, von Piaçabuçu aus zu erreichen. Eine weitere Fährverbindung besteht von Penedo nach Neópolis, von wo aus man zur Pousada Carapeba über die Landstraße in einer guten halben Stunde gelangt.


Titelbild: Hafen von Piaçabuçu; Fotos: Hans Nagel