Das luxemburgische Esch ist Kulturhauptstadt 2022. Die einstigen Stahlwerke im Stadtteil Belval werden geschickt integriert.
Monumental und überwältigend, wie Kathedralen, recken sich die Hochöfen in den Himmel. Sie überragen moderne Universitätsgebäude, ein Einkaufszentrum, schicke Apartment-Häuser und die Konzerthalle „Rockhal“.
Belval war einst das Zentrum der luxemburgischen Stahlindustrie, ein abgeschottetes Betriebsgelände. Daraus ist ein Ort und Leben und Arbeiten geworden, wo alles fußläufig erreichbar ist. Vor ein paar Jahren hat die Universität Luxemburg ihre geisteswissenschaftliche Fakultät von der Hauptstadt nach Belval verlegt. Auch Teile der öffentlichen Verwaltung haben hier ihren Sitz.
Kaffeetrinken im Hochofen
Der rasante Wandel, den Belval in den vergangenen 20 Jahren durchgemacht hat, steht auch bei „Esch 2022“ im Fokus – so nennt sich die Grenzregion zwischen Luxemburg und Frankreich, die zur Kulturhauptstadt 2022 gekürt wurde. Das am 26. Februar anlaufende Kulturjahr wird von 19 Gemeinden auf luxemburgischer und französischer Seite ausgerichtet. Rund 200.000 Menschen leben in dem Gebiet. Das Programm beleuchtet den Wandel vom Industriegebiet zum Standort für Kultur, Bildung und Wissenschaft. Alte Hochöfen, Stahlfabriken und Minen werden durch Konzerte oder Ausstellungen belebt.
Alt und Neu ergänzen sich in Beval zu einem spannungsreichen und zugleich harmonischen Stadtbild. Rohrleitungen schlängeln sich an modernen, glänzenden Fassaden entlang. Zwischen alten Silos stehen Brunnenbecken und Bäume. Beliebter Treffpunkt der Studenten ist ein Café im Fuß eines Hochofens.
Kunst statt Koks
Belval mit seinen historischen Industrieanlagen ist ein zentraler Standort von „Esch 2022“. Hier gibt es zum Beispiel die Möllerei, eine 170 Meter lange Halle zu Füßen der Hochöfen, so einst Koks und Eisenerz gelagert wurden. Eine Hälfte des Gebäudes dient jetzt als Universitätsbibliothek, die andere wird zum Ausstellungsort.
Ab 27. Februar läuft hier die Schau „Hacking Identity – Dancing Diversity“, die vom Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe ausgerichtet wird. Dabei soll es, laut Programmheft, um die Vielfalt Europas und multiple Identitäten gehen.
In der alten Massenoire entstand einst die Stopfmasse, mit der das Stichloch des Hochofens verschlossen wurde. Hier eröffnet, ebenfalls Ende Februar, die Doku-Ausstellung „Remixing Industrial Pasts“, die von der Transformation der Eisenerz-Region seit Beginn des 20. Jahrhundert handelt.
Ab Juni wird Möllerei dann unter dem Titel „Earthbound – In Dialogue with Nature“ digital bespielt. Die beteiligten Künstler schlagen, angesichts kollabierender Ökosysteme, alternative Modelle der Interaktion mit der Welt vor. Parallel stellt das Labor für Umweltdesign der Hochschule Nancy in der Massenoire verschiedene Projekte vor, die mittels Design zur Veränderung unseres Lebensstils beitragen.
Die rote Erde bringt Wohlstand
Ab September wird die Ars Electronica aus Linz die Möllerei bespielen. Dazu sind Konzerte mit elektronischer Musik in der „Rockhal“ geplant. Ab Oktober widmet sich eine Foto-Ausstellung in der Massenoire den zehntausenden französischen Arbeitern, Angestellten und Händlern, die täglich über die Grenze nach Luxemburg pendeln.
Als Finale des Kulturjahres gibt es ab Mitte Dezember 2022 eine große Ausstellung in der Möllerei. Sie handelt davon, was Europa in einer globaliserten Welt ausmacht. Sechs Klischees über Europa werden hier in die Mangel genommen und auf ihr Körnchen Wahrheit überprüft: Die Europäer seien weiß, christlich, nationalistisch, reich, alt und kultiviert.
Das Klischee des Reichtums trifft zumindest auf Luxemburg zu, das in der EU-Wohlstandsrangliste den ersten Platz belegt. Einst begründete die eisenhaltige rote Erde den Reichtum des Landes. Der Abbau von Eisenerz lockte unzählige Gastarbeiter aus der Ferne an. Belval gehörte zu einem industriellen Ballungsraum, der die südluxemburgische Stadt Esch weiträumig umschloss. Erst ab 1990, während des hier relativ spät einsetzenden industriellen Niedergangs, suchte man neue wirtschaftliche Standbeine und konzentrierte sich auf den Bankensektor.
Vom Tagebau zum Naturschutzgebiet
In Belval wurde die neue Ära mit der „Rockhal“ eingeläutet. Die Halle, wo auch schon Prince und Stevie Wonder auftraten, war das erste neue Gebäude, nachdem die Hochöfen schlossen. Heute hat Belval mehr als 3000 Einwohner, werktags kommen rund 5000 Studenten und 10.000 Angestellte hinzu. Als Teil der Kulturhauptstadt erwartet man zudem einen touristischen Aufschwung, zumal die Umgebung von Belval mit frisch angelegten Radwegen und Wanderpfaden durchaus zum Naturgenuss einlädt.
So ist das Naturschutzgebiet Ellergronn einen Besuch wert. Obwohl dessen Hügellandschaft durch den Tagebau total verwüstet wurde, hat sich seither eine so reichhaltige Tier- und Pflanzenwelt neu angesiedelt, dass das Areal zum Unesco-Biosphären-Reservat ernannt wurde.
Im Minen-Museum „Fonds-de-Gras“, das sich mitten im Wald versteckt, bleibt die Vergangenheit lebendig. Zwar sind die rund 20 Stollen längst geschlossen. Aber das Arbeiterdorf ist geblieben; mit Backstein-Wohnhäusern, einem kleinen Tante-Emma-Laden und einem Bahnhof. Im Sommer fahren hier Touristen mit dem Dampfzug, der früher Eisenerz transportierte.