Einst Industrie-Hochburg der Grande Nation legte der Norden Frankreichs in den letzten Jahren sein graues Image ab, zog High-Tech und Kunst an und entwickelte sich zu einem spannenden Reiseziel an Orte mit Vergangenheit und Visionen. Eines davon ist das Musée de la Piscine in Roubaix, wo der 150. Geburtstag der Bildhauerin Camille Claudel bis zum 8. Februar mit einer Sonderausstellung gefeiert wird. Doch das ist nur ein guter Grund, die Region Nord-Pas de Calais zu bereisen.
Es ist ein kleiner Kinderkopf. Weißer Marmor, den Camille Claudel zum Haupt eines Mädchens formte und „Portrait d’une Petite Châteleine“ nannte. Normalerweise steht er etwas unscheinbar zwischen Gemälden, Büsten und Skulpturen in der Dauerausstellung des Musée de la Piscine. Doch weil sich der Geburtstag der Künstlerin am 8. Dezember zum 150. Mal jährt, ist er im Mittelpunkt einer Sonderschau, die sich dem Werk einer der außergewöhnlichsten Bildhauerinnen widmet.
Ein weitsichtiger Bürgermeister, ein geschickter Konservator und ein großer, engagierter Freundeskreis machen es möglich, dass das ehemalige Schwimmbad zu einem der attraktivsten Häuser des Landes wurde. Mit mehr als 200.000 Gästen jährlich ist es das am vierthäufigsten besuchte Museum in ganz Frankreich.
Gleichmäßig speit ein Steinlöwe Wasser in ein Bassin. Vom Tonband kommen Geräusche, die an Badebetrieb erinnern. Glucksendes Wasser, Kinderlachen, das typisch hallende Geräusch großer Schwimmhallen. Hinter geschlossenen Augen sieht man das Treiben vor sich. Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Bevölkerung von Roubaix durch die Textilindustrie von 8.000 auf 124.000 in die Höhe schnellte herrschten schwierige hygienische Bedingungen. Fließend Wasser war in den einfachen Arbeiterhäuschen nicht vorgesehen. So wurde 1930 ein öffentliches Bad gebaut. Mit Wannenbädern und einer großen Schwimmhalle, in der es einem noch heute den Atem verschlägt, wenn man durch eine der gelb gekachelten Umkleidekabinen ins Innere tritt. Helle Farben, florale Ornamente und an der Stirnseite ein Fenster, dessen bunte Scheiben selbst an grauen Tagen warmes, sonnengelbes Licht in die Halle fallen lassen. Wie muss das gewirkt haben, wenn die Arbeiter aus der Tristesse ihrer Fabriken und Siedlungen in diesen Raum kamen.
Als in den 1980-er Jahren der vom Chlorgas angegriffene Stuck von der Decke bröselte, wurde das Piscine geschlossen, um 2001 als Museum wieder eröffnet zu werden. Das selbe Architekturbüro, das den Pariser Bahnhof Orsay umgestaltet hatte, machte auch aus dem Jugendstilbad einen Ausstellungsraum. Ein schmales Wasserbecken erinnert an den ursprünglichen Zweck.
Gleich neben dem Musée de la Piscine nutzen Designer und Künstler eine alte Fabrikhalle als Atelier. Ein paar Straßen weiter wurden die riesigen Wolllager und Labore zur Condition Publique, einem Zentrum für Künstler und Veranstaltungen. In der ehemaligen Gussfabrik Fonderie speist man unter imposanten Stahlträgern bei Livemusik.
Kulturelle Aufbruchstimmung in den Maisons Follies
Doch nicht nur das für sein Radrennen berühmte Roubaix erlebte in den letzten Jahren einen großen Aufschwung durch die für die Kultur rehabilitierten Industriestätten. Als Lille 2004 europäische Kulturhauptstadt wurde, profitierte die ganze Region Nord-Pas de Calais von der Aufbruchsstimmung. Allein rund 20 ehemalige Industriegebäude wurden zu sogenannten Maisons Follies. Kulturhäusern, wie sie noble Familien einst auf dem Land zu ihrer Erbauung hatten. Die stillgelegte Leinenspinnerei Wazemmes ist eines. Das Maison Follies Moulins ein anderes. Wo früher Bier gebraut wurde, brauen sie heute Kunst zusammen. In Probenräumen auf mehreren Etagen üben Puppenspieler, Sprechtheater und Musiker.
Nur ein kleiner Spaziergang durch den Park ist es zum Gare Saint-Sauveur. Im ehemaligen Bahnhofsareal ist alles groß und weit. Es riecht nach Maschinenöl, auch wenn in dem alten Gebäude aus Eisenträgern und Stein längst keine Züge mehr ankommen. Gras wächst über die Schienen. In Neonröhren steht Europa an die Backsteinwand geschrieben. Seit 2009 ist der Bahnhof Heimstätte für Moderne Kunst. Installationen die groß und raumgreifend sind, wie die des chinesischen Künstlerehepaares Sun Yuan & Peng Yu. Nach dem großen Erfolg der Kunstprojekte anlässlich des Jahres als Kulturhauptstadt hat man Lille 3000 ins Leben gerufen. Besondere Highlights im Kulturprogramm sind die unter einem Motto stehenden Veranstaltungen, die im zwei- bis dreijährigen Turnus für einige Wochen in der ganzen Stadt arrangiert werden. Das nächste findet ab September 2015 statt und befasst sich vier Monate lang aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln mit dem Thema Renaissance.
Der Louvre im Kohlebecken
Dauerhaft ist die Dependance des Louvre im alten Kohlenbecken von Lens. Vom repräsentativen, an eine Lok erinnernden Jugendstilbahnhof der im Ersten Weltkrieg nahezu komplett zerstörten Stadt führt ein Spazierweg zur ehemaligen Zeche 9. Der Kohlebergbau sorgte in Lens für eine ähnliche Bevölkerungsexplosion wie die Textilindustrie in Roubaix. Als 1990 die letzte Lore am zweitgrößten europäischen Bergbaustandort hinter dem Ruhrgebiet herausgefahren wurde, war die wirtschaftliche Lage der einst blühenden Stadt trostlos. Auch das spielte eine Rolle bei der Wahl für einem geeigneten Standort für den neuen Louvre, in dem Exponate gezeigt werden sollten, für die es in Paris keinen Platz mehr gibt. Seit am Barbaratag 2012, dem Tag der Schutzpatronin der Bergleute, Françoise Hollande das neue Haus eröffnete, strömen die Menschen nach Lens. Nicht nur ins Museum, sondern auch für einen Spaziergang durch die Bergarbeiterviertel und zu den aufgelassenen Zechen. Zeigen einer Zeit, in der Kunst im Leben der Menschen in Nord-Pas de Calais noch eine ganz unbedeutende Rolle spielte.
Informationen:
Tourismusverband Nord-Pas de Calais, crt-nordpasdecalais.fr
La Piscine musée d’art et d’industrie, Roubaix, roubaix-lapiscine.com
Maisons Folies, www.maisonsfolie-lille.fr und mfwazemmes.lille.fr
Louvre Lens, louvrelens.fr