Die Strassen von San Francesco

 

 

Eine Pilgerreise nach Assisi mit rollender Herberge

Die Straßen von San Francesco

Mit der Frage nach dem Namensgeber der Hippie-Stadt San Francisco begab sich der Journalist und Fotograf Bernhard Bürkle auf Spurensuche und reiste mit seiner Lebensgefährtin Martina Maigler nach Umbrien zur Wirkungsstätte des heiligen Franz von Assisi. Die dreiwöchige Wohnmobil-Fahrt wurde für ihn zur eigenen Besinnungsreise, zur Pilgerreise zum inneren Ich und warf die weit wichtigere Frage auf, was man wirklich braucht im Leben, um glücklich und zufrieden zu sein. Der Begriff „Ballaststoffe“ hat seitdem für die beiden „Lebenspilger“ eine völlig neue Bedeutung bekommen.

Text: Bernhard Bürkle, Fotos: Bernhard Bürkle, Martina Maigler

Ob er auch den Vögeln von Liebe und Frieden, von Love & Peace gepredigt hat, ist nicht belegt. Erwiesen ist indes, dass die Stadt San Francisco an der kalifornischen Küste, in der die weltweite Hippie-Bewegung mit der „Love & Peace“-Generation vor genau 50 Jahren ihren Anfang nahm, nach San Francesco,  dem heiligen Franziskus von Assisi benannt wurde.

Wir nehmen das Jubiläumsjahr zum Anlass für eine Pilgerreise der etwas anderen Art: Mit einem modernen Wohnmobil wollen wir uns auf die über 1000 km lange Reise nach Assisi in Umbrien im Herzen Italiens machen, auf unsere ganz eigene Variante der „Mille Miglia“. Als „rollende Pilgerherberge“ haben wir uns für ein aktuelles Premium-Produkt namens „Malibu“ des schwäbischen Herstellers Carthago entschieden, der unweit des Franziskanerinnen-Klosters Reute seinen Firmensitz hat und dessen VW-Bus-Ausbauten schon damals das Maß aller Dinge waren. Es war die Zeit des „Hippie-Trails“ von Europa nach Indien, wofür wir seinerzeit, langhaarig und frei und unbekümmert, einen stark gebrauchten 3,5-Tonner Paket­wagen der Post ersteigerten. Der Kilometerstand spielte keine Rolle, entscheidend waren für uns die doppelte Hinterachs-Bereifung und die deutlich größere Breite, die einen Bettenbau quer zur Fahrtrichtung erlaubte. Jedenfalls fuhren ein Freund und ich damals mit dem betagten Mercedes quer durch Persien, Afghanistan und Pakistan bis nach Indien. Und wieder zurück – 22.000 km legten wir auf der Seidenstraße zurück. Meine ersten Reisereportagen erschienen in namhaften Zeitschriften, was schon damals meine spätere Berufswahl entscheidend beeinflusste.

An Globetrotter-Erfahrung mangelt es also nicht, als ich aktuell die Idee für diese Reise habe. Prinzipiell hat sich ja auch wenig geändert am Zigeunerleben auf Campingplätzen, am Kochen auf spärlichen Gasflammen und der Verlagerung des täglichen Lebens nach draußen und stets woanders als am Vortag.

„Heute hier, morgen dort“ – wie oft hatten wir dieses von unserem Idol Hannes Wader so treffend intonierte Bekenntnis für die persönliche Freiheit an den Baggerseen unserer Jugend am Lagerfeuer zur Gitarre gesungen vor den Zelten…! Freilich, die Haare sind kürzer jetzt, aber das Stirnband, das ich irgendwann gegen die brave Krawatte, diesen mutmaßlichen Kompetenz-Verstärker der Berufs-jahre, eingetauscht habe, macht viele Erinnerungen wieder lebendig, und die Lieder von damals, unvergessen natürlich auch „San Francisco“ von Scott McKenzie, begleiten uns heute von der CD oder dem USB-Stick über die bordeigene Soundanlage.

Wir starten unsere Pilgerreise beim Kloster Reute, einem der zahlreichen Klöster im „Heiligen Land“ Oberschwaben tief im Süden Deutschlands mit dem Segen der Franziskaner-Nonnen, die hier seit 1869 nach den Regeln des heiligen Franziskus leben und u. a. mit der Sankt-Elisabeth-Stiftung Gutes tun in sozialen und pädagogischen Bereichen. Lange vorher schon, bereits im 14. Jahrhundert, hatten hier fünf Frauen den Grundstock gelegt für das heutige Kloster. Auf der Bundesstraße 30 fahren wir gen Süden den Alpen zu, deren Nordseite wir auf dem Weg nach Italien zunächst mit dem Pfändertunnel bei Lindau unterqueren. Via Autobahn geht’s weiter durch den San St.Bernardino-Tunnel dem Lago Maggiore entgegen, wo wir in Cannobio, der vom Norden kommend ersten italienischen Stadt hinter der kleinen Grenze am westlichen Seeufer, unser erstes Nachtlager aufschlagen. Der Campingplatz „Camping del Sole“ liegt etwa in der geografischen Mitte des langgestreckten, traumhaft schönen Gewässers. Ich war vor vielen Jahren häufiger hier mit dem Wohnmobil, als die Kinder noch klein waren. Da werden natürlich auch wohltuende Erinnerungen wieder lebendig, die mir diese Fahrt zur Besinnungsreise werden lassen.

Prinzipiell hat sich seit damals so gut wie nichts geändert, zumindest für mich persönlich nicht und an dem Wenigen, was ich brauche und schätze unterwegs: Kaffee und Tabak, Kamera und Schreibzeug sind mir seit eh’ und je elementar wichtig. Der erste Kaffee am Morgen, achtsam und mit Respekt im klassischen italienischen Kocher gebrüht, schmeckt und wirkt besser als aus dem teuersten Vollautomaten mit digital gesteuertem Schnickschnack. Dazu die erste genüsslich von Hand gedrehte Zigarette aus naturreinem Tabak, ohne Filter und künstliche Aromastoffe – es sind die einfachen Dinge, auf die man sich wieder mehr besinnen sollte.

Das sind Erkenntnisse, wie ich sie auf dieser Pilgerreise tatsächlich erlangt habe, dass die guten Dinge Zeit verdient haben – die der moderne Mensch heute nicht mehr zu haben scheint, Fast Food und „Coffee to go“ können keine Ideale sein, sind Trugbilder, die uns Erstrebenswertes vorgaukeln.

Vogelgezwitscher im Morgentau statt Handypiepsen im Neonlicht des Büros – das sind die einfachen Attribute des Wahren und Echten, der Freiheit und Lebensfreude, wie sie uns zunehmend abhanden gekommen sind beim täglichen „Tanz um die Goldenen Kälber“ der modernen, „schönen  neuen Welt“.

Auf einem Campingplatz herrschen nur ganz wenige Regeln, Camping ist fortwährendes Improvisieren und Arrangieren mit Kompromissen auf einfachem Niveau. „Reduce tot the Max“, am klapprigen  Campingtischchen denke ich darüber nach, wieviel Ballast wir mit uns schleppen auf unserem Weg durch die begrenzten Lebensjahre. Warum reicht eigentlich nicht das, was wir jetzt gerade dabei haben?

Vor allem die Menschen jeden Alters und aller Nationalitäten arrangieren sich beim Camping, jeder hilft jedem völlig wertfrei und ohne Beurteilung eventueller Statussymbole. Camper verfügen über ein hohes Maß an Sozialkompetenz. Weil sich alle frühmorgens schon vor der ersten Dusche und ungeschminkt begegnen, beim Abwasch an den Spülbecken barfuß nebeneinander stehen. Weil man zudem auch noch dicht an dicht wohnt und es quasi keine Schallisolierung gibt bei Zelten und Wohnwagen, kommt man sich schnell auch menschlich näher – auf Campingplätzen sollen demnach schon lebenslange Freundschaften entstanden sein. Der mit nur 50 Stellplätzen relativ kleine, familiär geführte und geradezu liebevoll angelegte „Camping del Sole“ wird überwiegend von deutschen Urlaubern besucht, die meist alljährlich mindestens einmal hierher kommen, um die Sonne und das wohltuende italienische Flair zu genießen, ohne dafür tagelang unterwegs sein zu müssen. Allzu langes Verweilen indes wollen wir uns nicht erlauben, schließlich haben wir noch ein gewaltiges Stück Weges auf dem „Cammino di Francesco“ vor uns nach Florenz und darüber hinaus – Assisi liegt fast 200 km südwestlich der berühmten Kulturmetropole in der Toskana.

Auch unser nächstes Etappenziel liegt an einem oberitalienischen See: Der Campingplatz am Lago d’Iseo erwacht frühmorgens um sechs, wenn die ersten Frühaufsteher mit klopfenden Badeschlappen und Zahnbürsten nebst geschulterten Handtüchern das Waschhäuschen ansteuern. Die alte Kirche von Iseo schickt ein frühes melodiöses Glockenspiel über den See und begrüßt fröhlich den herauf­dämmernden Tag, passend zu meinem besagten Morgenritual im kurzen Schlafanzug.

Heute, am dritten Reisetag, soll’s weiter­gehen, nach Süden an der ligurischen Küste entlang zu den Marmor-Steinbrüchen von Carrara und nach Pisa, wo der berühmte schiefe Turm allen Skeptikern zum Trotz immer noch steht. Also sagen wir nach zwei erholsamen Rasttagen und -nächten auch dem malerischen Lago d’Iseo lebewohl, unserer zweiten Station auf dem Franziskusweg. Zunächst steuern wir jetzt Carrara und Pisa an der westlichen italienischen Mittel­meer­küste an. Die schnurgerade Autobahn ist die ideale Test­strecke für Tina, meine „Partnerin mit Gattinnenstatus“, die erstmals mit einem 7 m langen und weit über 2 m breiten Fahrzeug unterwegs ist. Als besonders hilf­reich erweisen sich dabei die großzügig dimen­sio­nierten Omnibus-Rückspiegel, und schnell hat sich Tina an die Ausmaße und das Fahrverhalten gewöhnt, sodass wir uns wohl die gesamte Strecke mit gutem Gefühl werden teilen können. Normalerweise ist sie für die Koordination der Strecken und die Navigation zu den Campingplätzen zuständig, wofür sie alle analogen und digitalen Mittel wie den ADAC Campingführer, das Internet sowie das Navigationsgerät geradezu virtuos kombiniert, sodass ich mich ganz aufs Fahren konzentrieren kann. Auch das ist eine wertvolle Erkenntnis dieser Reise: die Wertschätzung einer Partnerschaft und der tägliche Beweis, dass Glück tatsächlich das Einzige ist, das sich vermehrt, wenn man es teilt. Oder kürzer: Happyness doubles up by splitting.

Carrara überrascht schon von Weitem, denn der Anblick scheinbar schneebedeckter weißer Berge direkt an den übervölkerten Bade­stränden passt irgendwie nicht zu den frühsommerlichen italienischen Temperaturen. Von hier also wurde einst der weiße Marmor dieses weltweit einmalige Material, an die begnadetsten Bildhauer aller Zeiten wie Leonardo da Vinci oder Michelangelo, geliefert für so beeindruckende Kunstwerke wie z.B. Michelangelos übergroßen David, den wir in Florenz bestaunen wollen und dessen Kopf als Gips-Kopie unseren heimischen Garten ziert.

Permanentes Sirren erfüllt die Luft in den gewaltigen Steinbrüchen. Es sind die mit Rohdiamanten und Korundpartikeln bestückten Stahlseile, die sich über unzählige Umlenkrollen durch den Marmor fressen und gewaltige Blöcke, rechtwinklig und glatt, aus dem Berg schneiden. Mit Lkw werden diese dann über abenteuerlich steile  Serpentinen zu Tal geschafft, an den Hafen oder in die allgegen­wärtigen Gattersägen, mit denen der wertvolle Stein, das „weiße Gold Italiens“, in Platten geschnitten und anschließend poliert wird. Weißer Carrara-Marmor ist in der ganzen Welt gefragt, allein für das Prestige-Hotel Burj-al-Arab in Dubai waren diese Steinbrüche ein Jahr lang ausgebucht.

Man muss es lieben, dieses Zigeunerleben, am Steuer singe ich wie früher am Baggersee mit den Kumpels Hannes Waders Ode an die Freiheit „Heute hier, morgen dort“ – nichts passt besser zu den Anflügen von Melancholie des Reisens, wie wir es praktizieren auf dieser „Sentimental Journey“. Bei genauer Betrachtung ist es eine Reise zu mir selbst, wenn mir mit jedem Tag deutlicher vor Augen geführt wird, wie wenig ich eigentlich brauche, um mich frei und glücklich zu fühlen.

Myriaden von Grillen und Heuschrecken zirpen in nie gehörter Intensität, in der Nähe schreit ein einsamer Esel vor Langeweile in die flirrende Mittagshitze, eine hellgrüne Gottesanbeterin lauert unter einem Oleanderblatt auf einen leichtsinnigen Schmetterling. Wir stehen auf einem Campingplatz 20 km außerhalb von Pisa an der „Marina di Pisa“. Die 300 Stellplätze und 13 Blockhütten-Bungalows ringsum sind – zumindest jetzt am Wochenende – weitgehend von italienischen Großfamilien belegt, wie man ganztägig lautstark hören kann. Zwischen dem Campingplatz und dem gepflegten zugehörigen Privatstrand liegt zwar die stark frequentierte Küstenstraße, auf der man aber recht zügig die Innenstadt von Pisa erreicht.

Das vielleicht berühmteste Bauwerk Italiens dürfte der „Schiefe Turm von Pisa“ sein. Schon bei der Anfahrt zur Stadt erkennen wir von Weitem deren Wahrzeichen hinter dem mächtigen Dom und dem beeindruckenden Baptisterium. Das architektonisch und kultur­historisch einzigartige Ensemble ist völlig unspektakulär umgeben von gepflegten grünen Rasenflächen, der lärmende Handel mit Souvenirs findet nur draußen vor der hohen Umgebungsmauer statt. Mit viel Glück und der zugehörigen Portion Dreistigkeit finde ich in direkter Nähe einen ausreichend großen Parkplatz für unser „Riesenbaby“, das Stadtzentrum direkt an der Haupt-Sehenswürdig­keit mit einem Reisemobil dieser Größe anzufahren ist ja per se schon eine aberwitzige Idee. Wahrscheinlich hilft einmal mehr eine Mischung aus Pilgerglück und Reporter-Spürnase, die für uns gekrönt wird von einem Cappuccino direkt am Fuße des Turms.

Nach zwei Strandtagen an der „Riviera della Versilia“ nehmen wir die gebührenfreie Landstraße nach Florenz. Keine Stadt der Welt ist reicher an Kunstschätzen verschiedener Epochen und der größten Künstler aller Zeiten. Werke von da Vinci, Botticelli, Michelangelo oder Giotto finden sich hier dicht an dicht in den unzähligen Museen der Innenstadt, wo sich die berühmte Brücke „Ponte Vecchio“ über den Arno spannt. Auf einem der Hügel außerhalb finden wir einen etwas vernachlässigten, aber dennoch – sicher allein ob der Nähe zur Stadt – fast ausgebuchten Campingplatz. Eher fassungslos stehen wir tags darauf an dem Piazzale di Michelangelo vor der bronzenen über-lebensgroßen Statue des David, der mit seiner heroischen Haltung Stärke und Entschlossenheit vor dem Kampf mit dem biblischen Riesen Goliath signalisiert. Die aus einem schmalen Stück Carrara-Marmor gearbeitete Original-Statue, soll ihr begnadeter Erschaffer Michelangelo geäußert haben, sei im Marmor bereits vorhanden, man müsse sie eben nur von Unnützem befreien. Das passt zu meiner neuen Erkenntnis, dass es wichtig ist, sich von Unnützem zu befreien, um Schönes entdecken und genießen zu können. Weiter folgen wir unserer Pilgerroute nach Assisi in Richtung Südosten und erreichen schon nach 70 km Arezzo, wo wir natürlich die Basilica di San Francesco besuchen wollen.

Unweit von Arezzo liegt ein flacher, fast unwirklich anmutiger Binnensee, der Lago Trasimeno mit der Insel Isola Maggiore, auf der Francesco eine längere Zeit des Fastens verbracht und auf einem sanft geformten Fels genächtigt haben soll.

Der an seinem Nordufer gelegene Campingplatz „La Spiagga“, zu dem uns wohl ein fürsorglicher Heiliger unweit seiner Wirkungsstätte Assisi „zufällig“ geführt hat, entpuppt sich als das bisherige Highlight unserer Pilgerreise. Die gepflegte Anlage bietet auf äußerst sattgrünen Rasenflächen mit schattenspendendem Baum­bestand nur 50 unge­wöhn­lich großzügig dimensionierte Stellplätze, und das oben­drein zu angenehm günstigen Preisen. Unser Stellplatz direkt neben dem ausgezeichneten Restaurant liegt direkt am schmalen Sandstrand, der sogar über einen separaten Hundestrand verfügt. Offensichtlich wird hier noch heute die Tierliebe des Franz von Assisi aktiv gelebt, sogar eine eigene Hundedusche bietet hier angenehme Wellness-Konditionen für des Menschen beste Freunde.

Tags darauf erreichen wir Assisi, das Ziel unserer Pilgerfahrt. Hier also hat er gewirkt, und hier ist er auch gestorben, der heilige Franciscus. Hoch oben über der Stadt thront mächtig die Grabeskirche, unten in der Stadt besuchen wir die „Basilica Santa Maria degli Angeli“ mit der seltenen Besonderheit, in ihrem beeindruckenden Inneren eine kleine Kapelle, die „Portiuncula“ zu bergen.

Hier vernahm Franziskus die Stimme Gottes, und hier verlieh er der heiligen Clara das Ordensgewand, was den Beginn der Clarissinnen bedeutete. Und noch eine Besonderheit gibt es an diesem geschichtsträchtigen Ort zu bestaunen: hinter der mächtigen Basilika gibt es einen kleinen Rosengarten. Um Zweifel und Versuchung zu überwinden, warf sich Franziscus hier in einen Dornbusch, den Gott in diesem Moment aber in Rosen ohne Dornen verwandelt haben soll. Noch heute gedeiht in diesem Garten die dornenlose Art „rosa canina Assisiensis“

Erstmals auf dieser Reise, so schwärmt meine Begleiterin über­glücklich nach langem Fußmarsch an einem gewittrigen Abend, sei sie so richtig „angekommen“ – bei sich selbst und in der für sie neuen Welt des Reisens und der unreglementierten Leichtigkeit des Seins. Mit jedem Tag schätzen wir es mehr, dieses auf das Elementare reduzierte Leben unter freiem Himmel, ohne Uhr und ohne modisch geprägte Kleidung. Alles andere ist doch im Grunde unnötiger Luxus und eher belastendes Beiwerk, was kein Mensch wirklich braucht. Und was du besitzst, besitzt irgendwann dich. Ich denke an die vielen Versicherungen und Verträge, die zu unterschreiben ich mich schon genötigt sah im Leben. Die Erkenntnis von Janis Joplin aus der Hippiezeit quillt mir lautstark förmlich aus dem Mund, wenn wir abends beim Feuerschein unter den Bäumen sitzen: „Freedom is just another word for nothing left to loose.“ Dieser jetzt gelebte Genuss des Einfachen passt zu unserer Besinnungsreise im Geiste des heiligen Franziskus, der auf weltliche Güter und Besitz in jeglicher Form freiwillig verzichtete.

Wie dazu bestellt landet am Abend unvermittelt ein Maikäfer auf meinem Arm, die Schönheit und Anmut dieses unscheinbaren Insekts unterstreicht meine demütigen Gefühle und den stillen Respekt vor allem Lebendigen, der uns im täglichen, geschäftigen Leben fast gänzlich abhanden gekommen ist. „Reduce to the max“ könnte die heilsame Umkehrformel sein für eine überfrachtete und dennoch stets nach mehr strebenden westlichen Leistungsgesellschaft und ihrem meist eher sinnfreien Streben nach Gewinnmaximierung. Welcher „Gewinn“ soll hier denn eigentlich permanent maximiert werden…? Diese Frage für mich persönlich zu beantworten fällt mir bei dieser Pilgerreise gar nicht mehr so schwer – zumindest kann ich sie jetzt bewusster zulassen als je zuvor. Reduzieren kommt ja aus dem Lateinischen „reducere“ = zurückführen, nämlich auf das Wesent­liche im Leben. Weniger Haben und dafür mehr Sein, danach sollten wir alle streben. „Frieden”, so Jimi Hendrix, „wird es erst geben, wenn die Macht der Liebe stärker ist als die Liebe zur Macht.“ Rein symbolisch haben wir uns in Assisi, am Ziel unserer Reise, duftende Jasminblüten in die Haare gesteckt und folgten damit Scott McKensie’s Auf­forderung: „When you’re goin’ to San Francisco, be sure to wear some flowers in your hair.“

Wenn von Deutschland aus sprichwörtlich „alle Wege nach Rom führen“, dann gilt das ob der geografischen Lage durchaus auch für Assisi. Für die Rückreise wählen wir jetzt die östliche Route des Cammino di Francesco über Venedig und die Dolomiten.

Das krasse Gegenteil dessen, was Franziskus lehrte, erleben wir noch heute in Venedig: Die zahlreichen prachtvollen Palazzi am Canale Grande zeugen von einstigem Reichtum und verwerflicher Prunksucht der Lagunenstadt, einer der seinerzeit bedeutendsten Handels­metropolen der westlichen Welt. Im noblen, geschichtsträchtigen Hotel Danieli, einem der führenden Häuser der Welt, kann man die Luxury Suite heute für 12.500 Euro buchen – pro Nacht, versteht sich! Auch der Cappuccino im geschichtsträchtigen „Florian“ auf dem Markusplatz, vor Zeiten Casanovas Lieblings-Café und Wiege europäischer Kaffee-Kultur, hat hier seinen Preis. Selbst der Campingplatz „Europa“, den wir auf der Halbinsel Cavallino ausgesucht haben, wird mit fünf Sternen bewertet. Und das keineswegs von ungefähr: Die große, überaus gepflegte Anlage überzeugt u. a. mit hochstämmigen Laubbäumen, die ganztägig wohl­tuenden Schatten spenden. Die sanitären Anlagen bieten auch optisch den Standard von Top-Hotels, und selbst der zugehörige Sandstrand könnte schöner nicht sein. So lassen wir uns denn zu einer weiteren Übernachtung hinreißen, zumal wir uns gleich bei der Ankunft mit einem besonders angenehmen Nachbar-Pärchen aus heimischen Gefilden angefreundet haben.

Von Venedig aus fahren wir jetzt direkt nordwestlich in die Dolomiten. Über enge Haarnadelkurven erreichen wir bei Cortina d’Ampezzo die beeindruckende Felsformation der „Drei Zinnen“ und den zu deren Füßen liegenden, traumhaft schönen Misurina-See. Nach einer letzten Übernachtung in den Bergen möchten wir nun doch so langsam wieder heim nach Hause. Und wieder ist es auch hier ein malerischer, glassklarer See, diesmal der Toblacher See, an dem wir unser Nachtlager aufschlagen.

Via Brenner-Autobahn kommen wir schließlich nach 19 Tagen wieder am Kloster der Franziskanerinnen von Reute vorbei und glauben zu ahnen, was diese Nonnen bewogen, ihr Leben im Geiste des heiligen Franziskus zu gestalten. Unsere dreiwöchige Pilgerreise, die zur höchst abwechslungs­reichen und nachhaltig wirkenden Rundreise durch Oberitalien wurde, beschließen wir mit guten Freunden – wie könnte es anders sein – wieder an einem See, diesmal am heimischen Badesee bei Laupheim.

In knapp drei Wochen haben wir fast 2.500 km zurückgelegt und bringen nun so viele Eindrücke und auch Erkenntnisse mit nach Hause, dass wir noch Monate davon zehren werden. Und womöglich sogar noch länger, denn letztlich war es für uns auch eine Reise zu uns selbst, zu unseren Erinnerungen und unseren Wünschen – voller Erkenntnisse und auch Demut, Wertschätzung und Dankbarkeit für ein zufriedenes Leben in erfüllender Partnerschaft.

Wir haben gelernt und schätzen gelernt, völlig überflüssigen Ballast abzuwerfen, unsere geschenkte Zeit sinnvoll, also tatsächlich bewusst und mit allen Sinnen, zu nutzen und uns auf das Wesentliche zu konzentrieren: auf das Leben als solches…!

Unser persönliches Fazit lautet:

Genieße das Leben in all seiner Vielfalt und mit allen deinen Sinnen, befreie dich von Sorgen und unnötigem Ballast – das ist das wahre Glück, das jeder Mensch nur für sich selbst finden kann.

 

 

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Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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